04.11.2008

Was ist reines Denken und reiner Wille? – Zur Klärung einiger Missverständnisse

Im Austausch mit einem Menschen, den ich auf meine Buchbesprechungen zu den Büchern von Mieke Mosmuller hinwies, wurden verschiedene Aspekte möglicher Missverständnisse in Bezug auf das reine Denkens und das Wesens der Anthroposophie deutlich. Um zu einer Klärung beizutragen, gebe ich die Korrespondenz hier wieder.

 

[...] auch Deine Positionen gegenüber J. von Halle oder S. Gronbach erlebe ich als geisteswissenschaftlich fundiert. Ich spüre eine große Ernsthaftigkeit im Hinblick auf das Wesen der Anthroposophie und die lebendige Beziehung zu Rudolf Steiner. Ich stimme da in vieler Hinsicht zu, möchte aber trotzdem noch etwas anderes geltend machen: aus meiner Sicht ist es heute notwendig, sich aus der Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie und mit der sozialen Jetztzeit einen geistigen Eigenraum zu schaffen. Dieser persönlich geprägte innere Ort muss aus der Auseinandersetzung mit der eigenen Gegenwart entstehen. Er kann nicht aus dem Werk Steiners übernommen werden. Er kann auch nicht mit dem geistigen und sozialen Ort Steiners zu Beginn des 20. Jahrhunderts zusammenfallen. Sonst würde die frühere Gegenwart Steiners meine aktuelle Ich- Gegenwart aufsaugen. Erst wenn der eigene Ort Kontur gewinnt, wird es möglich, wirklich produktiv mit Steiners Werk zu arbeiten und dem lebendigen Steiner wieder näher zu kommen. Die Frage, was heute „anthroposophisch“ ist, ist deshalb nicht allein durch die kompetente, vom reinen Denken getragene Beziehung zu Rudolf Steiners Werk zu entscheiden. Darin liegt sicher ein Mindestmaß, aber das allein genügt heute nicht mehr. Mir fehlt da noch eine Art biografisch-existentieller Gegenwartsdimension. Deshalb finde ich, dass z.B. Mieke Mosmuller in ihrem Buch „Stigmata und Geisterkenntnis“, mit dem ich in der Sache völlig einverstanden bin, manchmal etwas zu stark dazu neigt, die Übereinstimmung mit den Gedanken, ja sogar dem Wortlaut Rudolf Steiners zum Wahrheitskriterium zu erheben. Das ist mir etwas zu einfach. Wie denkst Du darüber?

Sich das Geistige zueigen machen

Ich finde Deine Antwort sehr spannend, wir werden da sofort in die Diskussion kommen, denn ich muss Dir da widersprechen und auch versuchen, es zu begründen.

Vielleicht verstehe ich noch nicht recht, was Du mit "geistigem Eigenraum" meinst. Das Geistige ist doch das Allgemeine an sich, par excellence. Zugleich muss es vollkommen zueigen gemacht werden, aber das geschieht - kann nur geschehen - durch die eigene Aktivität im Geistigen. Hier, in dieser Aktivität, in der Willenstätigkeit des Ich, erlebt man sein Eigenes und verliert es auch nicht, wenn man sich immer mehr in das Geistige, die Welt der lebendigen Wahrheit hineinlebt.

Rudolf Steiner war und ist in dieser Hinsicht der Führer in diese geistige Welt in ihrem großartigen Umfang. Was er geschildert hat, kann man in seiner eigenen geistigen Arbeit auf dem Wege zu einem reinen Denken und mit Hilfe dieses reinen Denkens nach und nach selbst erleben, ahnend ertasten, wie auch immer. Auch dies ist dann wieder ein Schritt für Schritt "selbst machen" eigener geistigen Erfahrungen. Um reine Zitate oder ein Sich-Aufhalten an äußeren Wortlauten geht es dabei niemals. Es muss immer ein eigenes inneres Erleben da sein, das einem dann auch immer die Richtung weist.

Und umgekehrt ist es dieses selbe Erleben, das auch die Schilderungen und Gedanken anderer Menschen (z.B. Gronbach oder J. von Halle) begleitet. Das reine Denken, das dazu in der Lage ist, wird wirklich zu einem Organ für die Wahrheit.

Das Persönliche muss schweigen

Für diesen Erkenntnisweg, in dem ich die Essenz der Anthroposophie sehe, muss das Persönliche geradezu schweigen. Man muss sich mit seiner Biografie, mit seinen Gewohnheiten, mit seinen Sympathien und Antipathien usw. auseinandersetzen, um sie genau zu kennen. Vor allem aber muss man sein reines Denken so ausbilden und schulen, dass von all diesen Hintergründen des Persönlichen nichts hineinspielen kann.

Erst durch diese völlige Sicherheit in Bezug auf eine vollkommene Befreiung von aller Subjektivität sind wahre Erlebnisse und wahrhaftige Urteile möglich - dann aber sind sie auch zweifelsfrei.

... erst jenseits liegt das wahre Wesen

Und auch erst jenseits dieses Weges findet man sein eigenes wahres Wesen, das reine Willenswesen, das durch die Inkarnationen geht. Die jetzige Biografie bietet nur Hinweise, Zeichen, die man niemals klar deuten oder auch völlig bewusst überschauen kann, wenn nicht dieser Weg des reinen Denkens - der zum reinen Willen wird - bis zuende gegangen ist. In unserem Alltagsbewusstsein meldet sich immer das Unverwandelte, was zu völlig anderen Eindrücken und Urteilen führen kann, wenn es sich einfach auswirken kann. Überwunden wird es  nur in dem reinen Denken, wo man ganz in die Sphäre der wahrhaftigen Erkenntnis kommt - und zugleich ganz man selbst bleibt, nämlich in der reinen Aktivität, ohne die nichts geschieht.

Die soziale Jetztzeit oder die soziale Steiner-Zeit spielt dabei überhaupt keine Rolle - auch in Steiners Werk nicht, insofern es um diesen entscheidenden Weg geht: Den Weg zu einem realen Erleben des Geistigen, der mit dem Erleben der eigenen geistigen Aktivität beginnt und das Denken zu einem Organ für die Wahrheit werden lässt.

Es gibt keinen "geistigen Ort Steiners", der den meinigen aufsaugen könnte. Sondern man kommt selbst in die lebendige Geistwelt hinein, ohne alle Bestimmungen.

Aus diesem lebendigen Geisterleben heraus erfließt dann auch das wahrhaft soziale Handeln, das sich ebenso durch nichts bestimmen lässt, als durch die frei aus dem Geiste geschöpften moralischen Intuitionen.

Es mag sein, dass man dies beim Lesen des Buches "Stigmata" nicht so empfindet. Ich meine aber, dass Mieke Mosmuller auch in diesem Buch deutlich sagt und begründet, wie sie zu ihren Urteilen kommt. Es hat wirklich nichts von einem äußerlichen Vergleichen von Wortlauten. Spätestens wenn man ihr Buch "Der Heilige Gral" liest, erlebt man, dass eine völlig andere Erkenntnisqualität zugrunde liegt, nämlich die eines lebendigen, geistigen Miterlebens und Erkennens.

Ich habe diese Dinge geschildert, wie ich sie vollkommen klar verstanden habe. Das heißt nicht, dass ich den geschilderten Weg bereits selbst weit gegangen wäre. Aber ich bin mir aus dem gewonnenen Verständnis heraus über die Art des Weges vollkommen sicher und weiß, dass anthroposophische Geisteswissenschaft nur auf diesem Wege möglich ist.

Deine Antwort ist so klar gefasst, dass ich gut darauf eingehen kann. Aus meiner Sicht ist es zunächst genau so, wie Du schreibst: die Willenstätigkeit des reinen Denkens ist reine Eigenaktivität, gleichzeitig lebe ich mit dieser Tätigkeit in der objektiven Wahrheit. Das sind zwei Seiten derselben Münze. Diese Erlebnisart bildet auch ein Organ für die Gedanken anderer Menschen, sogar für ihre innere Haltung. Das ganze Feld ist davon geprägt, dass das rein Persönliche dort nicht hineinspielt.
Ich bin jedoch nicht nur erkennender Mensch, sondern real existierende Person an einem ganz bestimmten Ort, in einer ganz bestimmten Zeit. Es ist eben so, dass das allgemeine, alles umfassende Element des Denkens nicht im Zentrum der Welt, sondern an einem Punkt der Peripherie (meine besondere Lage als Person) hervorgebracht wird. Der Unterschied zwischen Deiner und meiner Auffassung bezieht sich wohl auf die Bewertung dieses Punktes der Peripherie. Ich würde sagen: dieses ganze Feld der persönlichen Besonderheit, des Unverwandelten meiner Jetztzeit muss heute sehr ernst genommen und in den Begriff des Geisteswissenschaftlichen mit hinein genommen werden. Ich bin ebensosehr dieses zeitlich und räumlich festgelegte, egoistische und unvollkommene Wesen, wie ich reines Denkwesen bin. Diesen Widerspruch gilt es zu sehen. Ich kann keinen der beiden Aspekte meiner Existenz auf den anderen reduzieren.
Meine Existenz ist also zunächst widersprüchlich. Mit „geistigem Eigenraum“ meine ich das Erlebnisgebiet, auf dem dieser Widerspruch bewusst wird. Wenn ich den Widerspruch als mein eigentliches Lebenselement ernst nehme und der Versuchung widerstehe, mich auf einer der beiden Seiten vorschnell festzusetzen, wird mein Denken individueller, es rückt tiefer in die Seele hinein, denn ich setze es mit meiner konkreten persönlichen Existenz in Beziehung. Für die reine Erkenntnis mag die persönliche Besonderheit eine Nebenrolle spielen, dafür aber, dass die Erkenntnis konkretes Leben wird, kommt ihr eine Hauptrolle zu. Mehr noch: ein wahrhaft soziales Handeln im Sinne der moralischen Intuition kann überhaupt nur aus meinem konkreten Personsein hervorgehen. Entscheidend ist hier nicht mehr allein, was ich denke, sondern vor allem das, was ich bin. Gerade in den konkreten Lebenssituationen meiner räumlichen und zeitlichen Existenz manifestiert sich dann das eigene wahre Wesen, das durch die Inkarnationen geht. Aber nicht als inhaltliches Denken, sondern als reine Kraftwirksamkeit des persönlich wirksamen Willens.
Der geistige Eigenraum als Ort des Widerspruchs ist also eigentlich ein Schwellenort, an dem meine biografisch-persönliche und meine geistig-gedankliche Existenzweise sich spannungsreich aufeinander beziehen. Für die geisteswissenschaftliche Entwicklung ist es aus meiner Sicht eminent wichtig, diesen Ort ernst zu nehmen, sich gewissermaßen dort heimisch zu machen. Ich würde so weit gehen, die Geisteswissenschaft nicht jenseits dieses Widerspruchs, sondern innerhalb desselben zu verorten. Anthroposophie kann aus den eigenen Lebenswidersprüchen heraus in mir allmählich „Fleisch“ werden und sich menschlich weiter entwickeln. Das schließt meine konkrete Persönlichkeit ein und nicht aus. Darin läge aus meiner Sicht auch der Schlüssel für eine eigenständige geisteswissenschaftliche Forschungshaltung, die sich auch bei Steiner immer an konkreten Fragen und Zusammenhängen der eigenen Biografie und des selbsterlebten Zeitgeschehens entzündet hat. Gleichzeitig muss man natürlich immer weiter die Forschungen Steiners durch subtiles Geisterleben im reinen Denken pflegen und bearbeiten. In diesem Punkt sind wir uns völlig einig.

Unverwandeltes erkennt nicht die Wirklichkeit

Mir ist jetzt deutlich, dass Du das Unverwandelte zwar nicht in das reine Denken hineinmischen willst, es aber als Element des Persönlichen um so ernster nehmen willst. Nun ist mir dies aber noch immer nicht klar. Ich verstehe noch nicht, was Du meinst mit diesem „sich auf einer der beiden Seiten vorschnell festzusetzen“.

Wenn ich zu einer Erkenntnis kommen will, die mit der Wirklichkeit zu tun hat, muss ich von allem in mir Unverwandelten absehen. Das betrifft nicht nur das reine Denken, sondern alles Erleben, wenn es ein Erleben der Wirklichkeit sein soll. Man muss sich sehr wohl des „Widerspruchs“, d.h. auch des Unverwandelten in sich selber bewusst sein, aber dort, wo man erkennen will, muss es draußen bleiben, sonst erkennt man nicht die Wirklichkeit.

Unverwandeltes ist nicht sozial

Was den Willen angeht, so kann ich zunächst natürlich immer nur da ansetzen, wo ich als ganzer Mensch, also auch mit meinen Schwächen, Unfähigkeiten usw. stehe. Aber das ist doch keine Frage? Auch hier muss ich natürlich meine Schwächen genau kennen, in dem Fall muss sich die Erkenntnis also nach innen richten. Aber auch hier liegt das wahre Wesen eines Menschen (also auch das eigene) doch niemals in den Schwächen und dem Unverwandelten, sondern in der Essenz des schon Verwandelten und des Strebens. Ich sehe also nicht, wie man dieses wahre Wesen erkennen kann, wenn man mitten im Widerspruch steckt. Auch das wahrhaft soziale Handeln gibt es nur, insofern ich meine Schwächen – und das heißt: den Widerspruch – überwunden habe. Sozial bin ich da, wo ich den Egoismus überwunden habe, ihn nicht mehr brauche. Wo ich ihn noch brauche, bin ich nicht sozial. Dessen kann ich mir dann auch bewusst sein: Ja, ich bin egoistisch = ja, ich bin nicht sozial.

Anthroposophie im Widerspruch – oder jenseits?

Natürlich beginnt Anthroposophie schon dort, in diesem Widerspruch, insofern sie ein Entwicklungsweg ist. Insofern sie aber ein Erkenntnisweg ist, der Geisteswissenschaft sein soll, und ein Willensweg, der Handeln aus reiner Erkenntnis ermöglichen soll, setzt sie jeweils die vollkommene Überwindung dieses Widerspruchs voraus.

Dass man jenseits der Verwandlung und nach der Erringung eines reinen Denkens immer noch ein Mensch mit einer eigenen Biographie ist und das Weltgeschehen an dem Ort erlebt, wo man durch das Schicksal steht, ist eine ganz andere Frage. Natürlich werden dadurch auch die jeweiligen Intuitionen und die aus dem wahrhaft reinen Willen quellende moralische Tat ganz individuell – aber das ist ja selbstverständlich, geht es doch gerade um diesen ethischen Individualismus.

Ich weigere mich nur, das unverwandelte, widersprüchliche Persönliche da hineinzumischen. Man macht sich aus diesem Widerspruch heraus auf den Weg. Aber der ethische Individualismus und die wahrhaft moralischen Taten können nur aus dem Bereich des Verwandelten heraus fließen. Alles andere ist Selbsttäuschung. Ich muss einfach die Grenze dieses „Widerspruches“ in mir genau kennen. In meinem inneren Streben arbeite ich ständig an der Verwandlung des unverwandelten Bereiches (stehe also mitten drin im Widerspruch, aber als die verwandelnde Instanz), wahre Erkenntnis über die Welt außer mir und wahrhaft moralisches Handeln in der Welt kann nur aus dem anderen Bereich kommen: reines Denken und reiner Wille, die eins geworden sind. Das Letztere ist erst dann überhaupt denkbar, wenn ich in der ersteren Aufgabe – der Verwandlung der eigenen Seele – schon viel errungen habe. Dadurch ist Anthroposophie nichts Abstraktes, denn durch dieses Ringen mit dem Widerspruch, dieses Ringen um „Läuterung“ wird die Anthroposophie als Entwicklungsweg in mir ganz Fleisch.

Du schreibst, das wahre Wesen eines Menschen läge niemals seinen Schwächen. Ich halte diese Ansicht in bestimmter Hinsicht für fragwürdig. Das Unverwandelte wäre dann lediglich das untergeordnete Material für das an ihm sich abarbeitende wahre Streben. Anhand seiner Schwächen kann man aber sehr viel über einen Menschen lernen. Gerade in Verbindung mit den Schwächen eines Menschen kann das wahre Wesen in seinem tatsächlichen Entwicklungsstand sichtbar werden. Auch in Bezug auf das wahrhaft soziale Handeln würde ich nicht sagen, dass meine Schwächen überwunden sein müssen. Im Gegenteil: Handeln aus Erkenntnis und Liebe fällt schwer, weil meine Schwächen eben nicht ganz überwunden sind. Genau deshalb ist es schwer. Ich vollziehe es aber trotzdem. Ohne das Schwere wäre es vielleicht gar kein Handeln aus Liebe.
Ähnlich sehe ich es für die geisteswissenschaftliche Erkenntnis: das wesenhafte Erkennen befreit sich auf seinem Gebiet von dem Unverwandelten aber es bleibt doch meine Erkenntnis als eines heute lebenden, mit vielen Schwächen behafteten Wesens. Im inneren Verarbeiten prägt sich die Wahrheit der Eigenart der Persönlichkeit ein, wird aber in ihrem Ausdruck auch durch sie gefärbt. Nur eine unverarbeitete Erkenntnis könnte den Charakter bloßer Allgemeinheit haben. Auch meine Formulierung der Wahrheit wird immer etwas von der Eigentümlichkeit z.B. des besonderen Ortes und der besonderen Zeit, in der ich lebe, gefärbt sein. Und das ist auch gut so.
Ich finde Deine Ausführungen über Geisteswissenschaft als Entwicklungsweg eigentlich äußerst subtil und einleuchtend und finde meine eigene Ansicht in weitern Teilen darin wieder. Ich fühle mich also bis zu einem gewissen Grad verstanden. Ich würde aber den Akzent anders setzen in dem Sinne, dass eine vollkommene Überwindung des Widerspruches menschlich nicht möglich und auch nicht wirklich wünschenswert ist. Wahre Geisteswissenschaft und ethischer Individualismus können wirklich nur aus dem Gebiet des Verwandelten fließen, aber damit aus ihnen wirklich meine Erkenntnis und mein Handeln werden kann, benötigen sie die persönliche Färbung und Gestalt. Färbung ist aber nicht dasselbe wie Vermischung.

Unverwandeltes = Persönliches = mein Wesen?

Färbung ist nicht Vermischung, aber eben Färbung. Wenn das Unverwandelte färbt, dann wird das Ergebnis auch etwas Unverwandeltes haben. Ich verstehe nicht, wieso Du das Persönliche mit dem Unverwandelten gleichsetzt? Es klingt jedenfalls so, als müssten Geisteswissenschaft und ethischer Individualismus auch durch die Sphäre des unverwandelten Persönlichen hindurchgehen, um dann am Ende meine Erkenntnis und mein Handeln zu sein. Ich erlebe diese Vorstellung wie einen Dualismus. Dort die aus reiner Quelle hervorgehende Geisteswissenschaft und moralische Intuitionen, am anderen Ende nach Durchgang durch die (unverwandelte) Persönlichkeit meine Erkenntnis und mein Handeln.

Wenn es aber wirklich durch die unverwandelte Sphäre hindurchgeht, ist es nicht mehr reine, wahre Erkenntnis und nicht mehr wahrhaft moralisches Handeln. Was vom Unverwandelten gefärbt wurde, ist nicht mehr rein – weder rein wahr, noch rein moralisch.

Das Problem entsteht da, wo „persönlich“ als „unverwandelt“ bzw. „unverwandelt“ immer zum „Persönlichen“ hinzugehörend gedacht wird. Sicher kann man an den Schwächen eines Menschen viel über ihn lernen und hebt sich das wahre Wesen in seinem „tatsächlichen Entwicklungsstand“ davor gleichsam wie das Gegenbild ab. Man sieht die Schwächen, aber sie zeigen nicht das wahre Wesen in seinem Entwicklungsstand, sondern sie zeigen das falsche Wesen, zwar auch den Menschen, aber eben die Schwächen. Wenn man wach ist, weiß man auch, dass man geschlafen hat, aber der Zustand des Schlafes ist nicht mehr greiflich, es ist nur eine Negativerinnerung: Da, wo ich nicht wach war, muss ich geschlafen haben... Und da, wo die Schwächen nicht sind, muss das wahre Wesen zu finden sein...

Schwächen verbergen das wahre Wesen!

Die Schwächen sind tatsächlich das, was abgearbeitet werden muss. Natürlich gehören sie zum Menschen hinzu, in gewisser Hinsicht oft auch zum Wesen, insofern man sie im Laufe der Inkarnationen durch Egoismus erworben und verstärkt hat. Aber dieser Egoismus wiederum ist ja auch nur ein Resultat der Tatsache, dass man in dieser Hinsicht den Wirkungen der Widersacher erlegen war – das wahre Wesen verbirgt sich also auch hier wieder, kann erst in Zukunft hervortreten. In den Schwächen zeigt sich, wo das wahre Wesen bisher zu schwach war, um in Erscheinung zu treten. Es sei denn, das wahre Wesen hat sich bewusst und gezielt für das Böse entschieden – davon darf man von außen aber nie ausgehen. (Dass das Alltags-Ich manchmal oder dauerhaft bewusst böse handelt, ist dafür noch kein ausreichender Hinweis „...denn sie wissen nicht, was sie tun“).

Ich sehe nicht, wie das Persönliche in den Schwächen zu finden sein soll. Zwar erlebe ich mich im Alltagserleben als identisch mit allen meinen Stärken und Schwächen, aber das ist eben auch nur das Alltagserleben der Person, die gerade nicht das Ich ist. Das wirkliche Ich kann sich mit seinen Schwächen gar nicht identifizieren, denn es sind gar nicht seine Schwächen, es sind seelische Schwächen, aus dem Unverwandelten aufsteigende Schwächen, die das Ich immer als zu überwinden ansehen wird. Ja, die Schwächen sind immer das „abzuarbeitende Material“ – sie sind buchstäblich das Holz und der Stein, die die strahlende, wahre Skulptur noch verdecken, die darin schon verborgen liegt.

Was ist „meine“ Erkenntnis?

Wenn meine Erkenntnis in ihrem Ausdruck noch durch meine Schwächen gefärbt wird, ist sie nicht wahr. Gerade weil sie „meine“ Erkenntnis ist. Wenn sie „meine“ ist, ist sie gefärbt, also subjektiv. Das „meine“ kann nur in der Tatsache bestehen, dass ich mich für die wahre Erkenntnis bereitgemacht und sie in innerster Aktivität empfangen habe. Mein Anteil besteht nur in der großartigen geistigen Aktivität des reinen Denkens. Wo das „mein“ darüber hinausgeht, macht es die Erkenntnis unwahr, persönlich im subjektiven Sinne. Reicht es nicht, dass die Erkenntnis „meine“ ist, weil „mein“ Ich sie empfangen hat? Muss es noch persönlicher sein, gefärbt durch meine Schwächen, subjektiven Eigenheiten und was auch immer?

Rudolf Steiner hat darauf hingewiesen, dass selbst die 12 Weltanschauungen für sich genommen einseitig sind und eigentlich überwunden, das heißt in eine Ganzheit zusammengefasst werden müssten – und diese Weltanschauungen sind noch nicht einmal persönliche Eigenheiten bzw. Schwächen, sondern gleichsam menschheitliche Einseitigkeiten!

Ich muss mir klar darüber sein, wo meine Erkenntnis noch von diesem Persönlichen gefärbt und damit einseitig ist. Der innere Entwicklungsweg besteht darin, diese Einseitigkeiten zu erkennen und zu überwinden – nicht darin, an diesem Persönlichen zu haften und es mit dem wahren Ich zu verwechseln, das sich gerade erst dann mehr und mehr offenbaren kann, wenn dieses Persönliche nach und nach überwunden ist und wegfällt.

Erst das Verwandelte ist wahrhaft individuell

Das wahre Ich ist gerade vollkommen individuell, aber nicht „persönlich“ oder „subjektiv“ – in diesen ähnlichen Begriffen liegt die Schwierigkeit. Wenn man am „Persönlichen“ festhält, verhindert man die Entwicklung zum wahrhaft Individuellen. Denn die eigenen Schwächen und Unvollkommenheiten, die das „Persönliche“ ausmachen, sind eben ganz und gar unindividuell, weil diese Schwächen und Unvollkommenheiten auch bei ganz vielen anderen Menschen zu finden sind! Das Unverwandelte kann im tiefsten Sinne niemals individuell sein. Es erweckt nur den Schein! Umgekehrt kann man sich das Verwandelte gar nicht individuell genug vorstellen – solange man es nicht kennt, wird man immer glauben, eine völlige Verwandlung käme einem absoluten Verlust des Individuellen gleich: die „Heiligen“ seien so ununterscheidbar wie die Engel; beides ist aber falsch, und für den Menschen gilt das ganz Besonders.

Das Ich ist das Individuellste, was es gibt. Und wenn es alle seelischen Schwächen verwandelt und sich gleichsam geheiligt hat, dann wird es erst recht durch und durch individuell sein, in nichts einem anderen Ich vergleichbar. Auch die Erkenntnis wird dann ganz und gar individuell sein, weil sie durch ein individuelles Ich hindurchgegangen ist. Wenn man es von außen abstrakt anschaut, mag die Erkenntnis den völlig gleichen Inhalt haben, aber dadurch, dass ein wahres Ich sie empfangen und errungen hat, ist sie ganz und gar individuell geworden. Das Ich ist also der Durchgangspunkt, den Du suchst, wenn Du nach einer individuellen Erkenntnis strebst. Man braucht die „Persönlichkeit“ überhaupt nicht, es ist eine Illusion zu glauben, die Erkenntnis würde beim Durchgang durch diese Person individuell – sie wird subjektiv und einseitig.

Wenn Du schreibst: „Im inneren Verarbeiten prägt sich die Wahrheit der Eigenart der Persönlichkeit ein“, dann möchte ich erwidern: Entweder wird die Wahrheit dadurch verfälscht oder sie hat mit den unverwandelten Seiten der Persönlichkeit gar nichts zu tun. Nur dann würden wir von dem Gleichen sprechen. Denn natürlich wird die Wahrheit individuell, wenn sich die verwandelte Seele von ihr durchdringen lässt.

Ist Schwäche menschlich?

Ob die vollkommene Überwindung des Widerspruchs möglich ist oder nicht, darüber müssen wir jetzt nichts ausmachen. Wenn aber die Überwindung von Schwächen überhaupt ein Ziel sein kann, dann zielt der innere Entwicklungsweg auch auf die Vollkommenheit. Es gibt kein Streben nach Entwicklung, das nur „halb“ wäre – dann wäre es nicht aufrichtig, sondern bequem. Dass es nicht „wünschenswert“ wäre, alle Schwächen zu überwinden, kann ich überhaupt nicht verstehen – es sei denn vor dem Hintergrund des gängigen Urteils, dass es unsere Schwächen wären, die die Menschen liebenswert machen. Dieses Urteil hat seinen Ursprung aber darin, dass die größeren Schwächen gar nicht gesehen werden! Man meint, ein Mensch wird durch seine Schwächen erst menschlich... Warum kann man das meinen? Weil die Menschen heutzutage dermaßen den Widersacherkräften erlegen sind, dass sie sich wer weiß wie kalt, hochmütig, machtsüchtig, strategisch usw. geben, dass man den Menschen überhaupt nicht mehr empfinden kann! Dann ist natürlich jede „Schwäche“, die eine Lücke in die Fassade reißt, ein „Lichtblick“. Tatsache ist aber, dass die scheinbare Stärke, also die Fassade, die viel größere Schwäche ist. Sie müsste natürlich zuerst überwunden werden!

Wenn man den Begriff aber rein fasst, dann muss man jede Schwäche überwinden wollen, weil sie das wahre Menschentum verdeckt – denn dieses besteht nicht aus Schwächen, sondern aus wahren Stärken. Eine Schwäche ist ein Ort, wo eine Stärke, eine Fähigkeit noch fehlt, noch nicht ausreichend entwickelt ist. Warum sollte es das Ziel sein, diesen Zustand aufrechtzuerhalten? Das wahre Menschentum ist kein Zustand „liebenswerter Schwächen“, sondern ein Königtum! Natürlich soll man die Schwächen eines Menschen lieben, statt sie zu verurteilen, aber nur, weil das wahre Wesen eines jeden Menschen ein strebendes ist – und weil man dem Menschenbruder in seinem Streben beistehen soll, was nur in Liebe möglich ist.

Liebe – nur gegen Widerstand?

Das Wesen der Liebe ist Überfluss. Du schreibst, ein Handeln aus Erkenntnis und Liebe, das nicht gegen das Schwere der eigenen Schwächen geschähe, wäre vielleicht gar kein Handeln aus Liebe. Ich verstehe, was Du meinst, aber dennoch klingt es mir noch sehr nach Kant und Schiller. Schiller schreibt, dass es ihm sehr leid tue, dass er die Pflicht, die doch nach Kant sauer sein müsste, aus Neigung tue... Das ist das Wesen der Liebe: Liebe zur freien Tat. Wie kann eine wirkliche Liebestat jemals schwer sein?

Man muss dabei genau die Perspektive beachten: Vom Standpunkt der Schwächen aus gesehen, ist sie schwer. Und insofern ich diese Tat gegen meine eigenen Schwächen durchsetzen muss – insofern ich mich selbst gegen meine Schwächen durchsetzen muss! – empfinde ich sie als schwer, weil „meine“ Schwächen noch immer zu mir „gehören“, wie der Stachel im Fleisch des Paulus. Warum tue ich die Tat dennoch? Weil ich sie aus meinem verwandelten Wesen heraus will! In diesem verwandelten Teil liegt der Quell der Liebe, und der unverwandelte Teil hat damit nichts und überhaupt nichts zu tun. Es scheint, als würde die Liebe an Wert gewinnen, wenn sie sich gegen den Widerstand der egoistischen Schwächen durchsetzen muss. Der Wert, der sich hier beweist, ist aber ganz allein derjenige des Ich, dessen Tat zeigt, dass es schon genug Kraft gewonnen hat, sich gegen seine Schwächen durchzusetzen (und dies wiederum ist ein Hinweis, dass sie nicht seine eigenen sind, sondern gerade der Gegner des Ich!).

Die Tat „enthält“ nicht um so mehr Liebe, ist nicht um so liebevoller, je mehr sie sich gegen den Widerstand der eigenen Schwächen durchsetzen muss. Wenn man in dieser Logik verbleibt, müsste man eher umgekehrt sagen: Eine Liebestat ist erst dann eine echte Liebestat, wenn sie keinerlei Widerstand mehr erfährt und trotzdem geschieht! Denn Du sagst ja selbst: Ohne das Schwere wäre es vielleicht gar kein Handeln aus Liebe... Was könnte es denn sonst sein? Etwas Selbstverständliches? Ja, das könnte auch sein. Aber eben deswegen sage ich: Wenn es ohne jede Schwere trotzdem eine wirkliche Liebestat ist, nichts Selbstverständliches, sondern etwas durch und durch Liebe-Erfülltes, dann ist es erst wahre Liebe!

Subtiler Egoismus und echte Liebe

Es ist nämlich im Grunde keine Kunst, etwas gegen seine Schwächen durchsetzen zu wollen. Das erwachende Ich erlebt, dass es mit seinen Schwächen nicht identisch ist, und empfindet Freude daran, sich über sie zu erheben und gegen sie (gegen den Egoismus der unverwandelten Seelenbereiche) Liebestaten zu vollbringen. Das ist im Grunde noch durch und durch egoistisch, nicht wahr? Es ist ein berechtigter Egoismus, aber man muss sich klar sein, dass gerade in dieser Spannung zwischen erwachender Selbstlosigkeit und beharrendem übrigem Egoismus ein riesiger Quell an Motivation liegt. Was aber, wenn der niedere Egoismus überwunden ist – ist das Ich dann immer noch so eifrig in seinen vermeintlichen oder tatsächlichen Liebestaten? Was ist, wenn der Weg freizuliegen scheint und keine Hindernisse und Schwächen mehr da sind, die überwunden werden müssen? Ist das Handeln ohne diese Schwere dann noch ein Handeln aus Liebe oder nicht? Mit Deinen Bedenken weist Du genau auf ein neues Problem, nämlich dass sich im Entwicklungsweg selbst wieder ein unendlich verfeinerter, aber dafür um so gefährlicherer Hochmut verbergen kann. Man kann auf diesem Weg wahrhaftig lieblos werden! Aber das ist kein Hinweis darauf, dass man in einem früheren Stadium liebevoller war. In diesem früheren Stadium war die Liebe eben immer noch sehr egoistisch, weil man sich beweisen musste und konnte, dass man „selbstlos“ sein kann.

Die wahre Selbstlosigkeit beginnt aber erst dort, wo man sich dies nicht mehr beweisen muss, wo man nicht einmal mehr genussvoll erlebt, dass man „selbstlos“ handelt, sondern wo es wirklich nur noch um das Handeln aus Liebe selbst geht. Das ist am schwersten und das ist die reinste Liebe.