09.11.2008

Waldorfschule: Wo arbeiten wir für die Zukunft?

Bericht von einem Kolloquium der Pädagogischen Akademie am Hardenberg-Institut in Heidelberg am 8.11.2008 (Waldorfschule: Ursprungsimpulse, Gegenwart und Zukunft – An welchen Punkten arbeiten wir für die Zukunft?).

Die Pädagogische Akademie am Hardenberg-Institut beschäftigt sich mit der Frage nach der Zukunft der Waldorfpädagogik und ihren Voraussetzungen. Karl-Martin Dietz, Gründer der Akademie, hat bereits mehrere wichtige Schriften zur Selbstverwaltung, zur Zusammenarbeit von Eltern und Lehrern und zum Freien Geistesleben verfasst. Am 8. November 2008 gab es ein Kolloquium zur Frage, wo die Waldorfpädagogik heute steht und wie für die Zukunft gearbeitet werden kann. Von den 14 Teilnehmern waren fast alle langjährige Waldorflehrer, zwei auch Dozenten an Lehrerseminaren, außerdem Christoph Wiechert von der Pädagogischen Sektion am Goetheanum in Dornach, sowie Holger Niederhausen (Mitarbeiter der Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners). 

Große Sorgen

Das Kolloquium begann mit einem Austausch über die Kernanliegen der Teilnehmer. Hier stand die Sorge um die Substanz und Qualität der Waldorfpädagogik im Zentrum. In den letzten Jahren machen immer weniger Menschen eine Ausbildung zum Waldorflehrer. Schon seit langem haben nur 50-60% der jährlich neu anfangenden Lehrer an Waldorfschulen überhaupt eine Waldorfausbildung – der Rückgang der Studentenzahlen wird diese Situation in Zukunft weiter verschärfen.

Eine vielleicht noch größere Sorge betraf die Substanz in den Schulen selbst. An vielen Schulen findet anthroposophische Grundlagenarbeit kaum oder überhaupt nicht statt – und wenn sie stattfindet, bleibt sie oft abstrakt, steht unverbunden neben dem „organisatorischen Rest“ der Konferenzen. Auch die Kinderbesprechung als ein wesentliches Element der Waldorfpädagogik wird offenbar in immer weniger Schulen praktiziert (allenfalls sehr sporadisch).

Dem Schwinden dieser wesentlichen Grundlagen steht ein Anstieg an Schwierigkeiten und Konflikten in der kollegialen Zusammenarbeit gegenüber. Immer mehr Waldorfschulen ziehen Mediatoren und Berater hinzu, um an Problemen zu arbeiten, die vorwiegend im Sozialen und in der Zusammenarbeit liegen.

Von Fragen der Dreigliederung oder des Kulturauftrages dürfte man in vielen Schulen nicht einmal reden, ohne sich den Unmut der Kollegen zuzuziehen, die darüber klagen, nicht einmal genug Kraft für das Tägliche zu haben.

Die Wichtigkeit der geistigen Arbeit

Es liegt nun natürlich nahe, hier unmittelbare Zusammenhänge zu sehen, und genau in dieser Richtung äußerten sich dann mehrere Lehrer: Die anthroposophische, wirklich geistige Arbeit ist die Grundlage sowohl für die gemeinsame Selbstverwaltung, als auch für die tägliche Pädagogik. Findet diese geistige Arbeit nicht statt, treten auf allen Ebenen vermehrt Probleme auf.

Ein Kollege wies darauf hin, dass Rudolf Steiner in der esoterischen Handlung vor Gründung der ersten Waldorfschule den Blick auf die Engelssphäre richtete, dass dieser Blick aber heute fast nirgendwo zu finden ist, weil man fast immer nur fragt: „Wie können wir das organisieren?“. Er schilderte, wie viele Studenten an der anthroposophischen Grundlagenarbeit interessiert sind und dann die ersten Lehrerkonferenzen erleben und fragen: „Ja, wo lebt denn das jetzt?“

Die Frage stellte sich: Wie kommt man dahin, dass zumindest bemerkt, wird, dass man die geistige Arbeit braucht? Ein Kollege schilderte, dass man früher wenigstens einige wenige fand, mit denen man sich zu einer geistigen Arbeit zusammenschließen konnte, und dass selbst dies heute kaum mehr möglich ist. Eine andere Kollegin berichtete, dass eine beflügelnde Grundlagenarbeit durch die Initiative mancher Kollegen durchaus ab und zu gelingt, dass man dann aber immer wieder ins Alltägliche, ins rein Verwaltungsmäßige abrutscht.

Über die schulinterne Arbeit hinaus wäre es auch notwendig, als Waldorfschule und als Waldorfbewegung nach außen zu wirken. Gelingt dies nicht, wirkt das Umfeld in einer negativen und kraftraubenden Weise auf die Schulen zurück. Ein wesentlicher Aspekt sind hier Prüfungen, Zentralabitur usw. Vor allem aufgrund dieser Außeneinflüsse geben immer mehr Waldorfschulen gerade in der Oberstufe wesentliche Elemente preis, etwa die Botanikepoche in der 12. Klasse oder die Projektive Geometrie – Epochen, die das Denken lebendig machen würden!

Eine Kollegin gab konkrete Beispiele, warum die Grundlagenarbeit heute notwendiger denn je wäre: Die Frage, was die Kinder ihrem eigenen Wesen nach heute eigentlich mitbringen, ist aufgrund eines unglaublichen Dickichts von Außeneinflüssen immer schwerer zu beantworten. Die Jugendlichen wiederum, die äußerlich stiller und angepasster wirkten als vor 20, 30 Jahren, hätten ein tief beeindruckendes Begegnungsbedürfnis und auch eine entsprechende Fähigkeit, man könne einen Tiefgang mit ganz neuer Qualität erleben. Dem gerecht zu werden, erfordert eine fortwährende innere Schulung.

Kinderbesprechung und eigener Impuls

Ein Kollege schilderte, wie die Kinderbesprechung, wenn man sie bewusst und entschlossen in die Konferenzarbeit hineinnimmt, im Grunde sofort einen Zusammenhang mit der Engelssphäre ermöglicht – und wie dadurch dann ganz real Ideen kommen, Ideen für das Pädagogische, das Soziale, das Organisatorische.

Man muss mit dieser Kinderbesprechung allerdings wirklich ernst machen, man muss es üben, vor allem auch nach einiger Zeit nachbesprechen. Ein anderer Kollege berichtete, was passiert, wenn man dies nicht tut: Es wird eine Kinderbesprechung gemacht, durchaus einfühlsam und so weiter, aber dann geht man zum nächsten Punkt über. Es gibt keine Nachfragen von Kollegen, auch keine Nachbesprechung, nichts. Dies hat dann keine positive Wirkung – die Möglichkeit wird einfach nicht ausgefüllt!

Herr Dietz kam nochmals auf die Frage der Ausbildung zurück. Die sinkenden Studentenzahlen seien nur die eine Hälfte des Problems. Die andere Seite sei die Frage nach der Qualität der Ausbildung selbst. Seine eigenen langjährigen Erfahrungen an einer Waldorfschule zeigten, dass nicht wenige Absolventen für den Lehrerberuf absolut nicht geeignet waren und die Schule auch bald wieder verließen.

Dann ging er auf Fragen der Selbstverwaltung ein. An vielen Waldorfschulen hatte Dietz erlebt, dass es ihnen eigentlich nicht klar ist, was Waldorfpädagogik eigentlich ist. Man könne es zwar wunderbar aufzählen, aber gerade das sei das Problem! Er verwies auf eine Äußerung Rudolf Steiners, der sinngemäß sagte, es sei im Grunde bereits eine Zumutung, jemandem sagen zu müssen, etwas müsse so und so gemacht werden. Mit anderen Worten: Waldorfpädagogik kann nicht definiert werden! Jede Schule muss zu ihrem eigenen Impuls finden und sich dieses Impulses immer wieder neu versichern!

Fehlt dieser Impuls, dieser eigene Impuls, dann fehlt die Grundlage schlechthin. Zunächst kommt es darauf an, zu sehen, dass jeder Einzelne damit anfangen kann. In diesem Sinne sind die Ursachen der Probleme leicht zu beheben – man muss es nur wollen. Im Grunde stellt sich also regelmäßig die Frage: Will man vielleicht einfach nur nicht? Weit verbreitet ist – wenn man sich die Praxis anschaut – die Meinung, freies Geistesleben bedeute, zu machen, was man wolle. Diese Meinung aber sei schlicht blöd, unter allem Niveau. Dies sei nicht Freiheit, sondern Unfug, den man sonst nirgendwo findet. Hoffnungsvoll könne allerdings stimmen, dass immer mehr Menschen sehen, dass es so nicht geht. Dennoch ist die Not an den Schulen so groß, dass man doch immer wieder äußerlich und organisatorisch zu „reparieren“ versucht, statt in den geschilderten geistigen Impuls hineinzustoßen.

Imaginations- und Intuitionsfähigkeit erringen

Christoph Wiechert betonte, dass ein Gefäß für den Geist auch von Geist gefüllt werden muss, sonst kämen Gegenwirkungen hinein. Es gehe um die Frage: Nominalismus oder Realismus? Die „Elemente“ der Waldorfpädagogik wie Epochen, Nicht-Sitzenbleiben etc. seien zunächst Nominalismus, dadurch habe man noch keine Waldorfschule. Die Frage sei: Wie kriegt man den Geist wieder geweckt? In der Arbeit an der Menschenkunde müsse man zum Realismus kommen, in der Kinderbetrachtung übe man dies.

Wiechert ging dann auf Rudolf Steiners Darstellung aus dem 6. Vortrag der „Allgemeinen Menschenkunde“ ein, auf den „Kreislauf“: 1. Wachend-bildhaftes Erkennen, 2. Träumend-inspiriertes Fühlen, 3. Schlafend-intuitives Wollen. Die Frage sei: Was bedeute dies, wie wirke es in der Praxis, wie könne man dies handhaben? Rudolf Steiner wies auf die Notwendigkeit hin, einen „pädagogischen Instinkt“ zu entwickeln, also die Fähigkeit, im richtigen Moment das Richtige zu tun. Im Grunde gehe es hier um Intuitionsfähigkeit. Jeder Lehrer kennt hier die Schwellenerlebnisse der Ohnmacht, also die Augenblicke, wo dieses überhaupt nicht gelingt. Aus Angst vor der Schwelle flüchtet man sich dann allzu oft in Strukturen („Eintrag ins Klassenbuch“ etc.).

Ein Kollege beschrieb aus eigener Unterrichtserfahrung, wie es auf das Bildhafte ankommt: Wenn es etwa in der Chemie um Feuer und Kalk geht, besteht die Herausforderung darin, dass man die Kräfte und das Wesen dieser Prozesse bis in die Geste hineinkriegt. Dann bleibt es nicht intellektuell, dann gehen die Schüler mit! Und dann fängt es in den Kindern zu leben an. Um als Lehrer bis an diesen Punkt zu kommen, braucht man die anthroposophische Grundlagenarbeit. Erst dadurch wird in mir etwas erweckt, was die Kinder miterleben. Man kann es gar nicht überschätzen, wie stark Kinder mit dem mitgehen, was der Lehrer im Seelisch-Geistigen selbst realisieren kann.

Reform oder Renaissance?

Diese Frage hat sich aus dem Vorhergehenden praktisch schon beantwortet: Die Waldorfpädagogik bedarf einer fortwährenden inneren geistigen Arbeit, der fortwährenden Ich-Tätigkeit. Sie muss ununterbrochen neu geboren werden („Renaissance“). Was nur nach Rezept verwirklicht wird, trägt heute überhaupt nicht mehr. Jeder Einzelne steht vor der Herausforderung, das Moralisch-Geistige in sich zu gebären, statt im Intellektuell-Gemütlichen zu verweilen. Man muss sich gleichsam sagen: Wenn ich so bleibe, wie ich bin, ist das schlecht. Man käme sofort in die Routine hinein. Es gilt, ein inneres Gespür zu entwickeln, welche Schritte jeweils zu leisten sind.

Was kann man nun aber in seiner Schule konkret tun, wenn es nicht sofort gelingt, die anthroposophische Grundlagenarbeit im ganzen Kollegium neu zu ergreifen?

Man kann selbst damit anfangen und sich im kleinen Kreise mit Kollegen zusammentun, die dasselbe Anliegen haben. Eine solche innere Arbeit von drei, vier Menschen hat in jedem Fall seine Wirkung. Sie wird bemerkt und zieht auch andere Kollegen mit, die die Notwendigkeit erkennen.

Eine andere drängende Notwendigkeit ist es, den sozialen Impuls zu pflegen, das Interesse am Anderen – sich als Kollegen überhaupt näher kennenzulernen. Es gibt viele Kollegen, die dies zum Beispiel auf einer gemeinsamen Klausur vor Jahren einmal praktiziert haben und nun vermissen. Man arbeitet vielleicht jahrzehntelang zusammen und kennt sich eigentlich kaum! Nur auf dieser Grundlage können Probleme in dem Ausmaß entstehen, wie es überall zu beobachten ist. Die tiefere Begegnung würde soziale Impulse ermöglichen, die wiederum die gemeinsame Grundlagenarbeit und pädagogische Arbeit unendlich stärken würden.

Christoph Wiechert wies nochmals auf die Problematik des heutigen Freiheitsbegriffes hin: Es ist vor allem im Denken eine ungeheure Individualisierung der Meinungen, Ansichten und Vorstellungen eingetreten, während im (gerade pädagogischen) Handeln oft eine große Konformität eintritt: „Wir machen das so und so“ oder „In der Waldorfschule macht man das so und so.“ Vom Geiste aus gesehen müsste es genau umgekehrt sein: Im Denken dem Geist und der Wahrheit gehorsam sein und im Handeln absolut individuell. So könnte man die Waldorfpädagogik jeden Tag neu erschaffen! Ein Vorbild ist die Interkulturelle Waldorfschule Mannheim, sie lebt das vor, was eigentlich gemeint war.

Durch den inneren Schulungsweg kann man sich wie Münchhausen aus dem Sumpf ziehen. Auf dieser Grundlage könnte das Soziale und das Pädagogische gedeihen. Man könnte sogar auf das Abitur vorbereiten und dennoch voll und ganz Waldorfschule sein. Eine Waldorfschule lebt aus den Kräften der Kollegialität und der Kreativität – beides ist eine Frage der inneren Arbeit und des wirklichen gemeinsamen Impulses.