25.12.2008

Die Krankheit der Anthroposophen

Dieser ausführliche Aufsatz ist eine Frucht mit mehreren Voraussetzungen: Meine Erfahrungen mit der heutigen „Anthroposophie“; eine Vertiefung meiner Erkenntnisse, die ich den außergewöhnlichen Büchern der Anthroposophin Mieke Mosmuller verdanke; und schließlich meine Erlebnisse in diesem Jahr, die sowohl mit beidem für sich, als auch mit einem Aufeinandertreffen dieser Bücher und der heutigen „Anthroposophie“ viel zu tun hatten...

 
Einleitende Zitate
Die Symptome der Krankheit
Von der Scheinheiligkeit
Autoritätsglaube: Glaube an die eigene Schwäche...
... und mangelnde Urteilsfähigkeit
Das Dogma der Urteils-Unfähigkeit
Ein Gang ins Konkrete – nennen wir Namen
Urteile über die Möglichkeit zu urteilen...
Sektierertum und Unwahrhaftigkeit
Die nicht-existierende Anthroposophie
Von den „führenden Anthroposophen“
Die Illusion erkennen
Das reine Denken – Grundlage der Anthroposophie

Einleitende Zitate

Einleiten mögen diese Betrachtung einige zentrale Sätze aus dem Buch „Der lebendige Rudolf Steiner“ von Mieke Mosmuller, aus dem Kapitel „Der Weg zur Wahrhaftigkeit“:

Die Wahrhaftigkeit im Denken tritt erst ein, wenn es zwischen dem Denker und dem Gedachten keine Distanz mehr gibt. Gibt es diese Distanz, dann hat man es entweder mit Abstraktion zu tun, oder mit Unwahrheit (bewusste oder unbewusste Lüge oder Irrtum).

[Diese tief ernste Wahrhaftigkeit ist in der Anthroposophie aber] [...] Grundbedingung, Merkmal ihres ganzen Wesens. Hat man sie nicht und will man sie auch gar nicht entwickeln, dann ist Anthroposophie eine Unmöglichkeit, ein Widerspruch mit dem tieferen Wollen, das dann eigentlich ein Nicht-Wollen ist.

Die Unwahrhaftigkeit selbst jedoch beginnt schon da, wo Anthroposophie vom Abstrakten her ‚behandelt‘ wird, statt sich von innen nach außen wahrhaft zu entfalten [...] Das Denken der anthroposophischen Wahrheiten muss immer mit dem Innersten der Menschenwesenheit verbunden bleiben, darf sich nie davon loslösen. [...] Die Gedanken dürfen nie Phrase werden, werden es jedoch, die aus den Gedanken geschöpften Verhaltensweisen nie zur Konvention, es besteht aber ein ganzes System ‚anthroposophischer‘ Konventionen, und die Taten, welche auch immer, nie zur Routine, diese findet sich jedoch im ganzen ‚anthroposophischen‘ Tatenleben (Vorbereitungsgruppen, Jahresfeste, Tagungen, Konferenzen, Zweigabende, usw.).

Denn Wissen, das man nicht vollkommen mit seiner eigenen innersten Wesenheit verbunden hat und trotzdem annimmt, ist dogmatisch. [...] Es wird eine Art ‚Universalie‘, die für jeden in gleicher Weise und in gleichem Maße gelten soll. Dieses Wesen geht in der Gesellschaft unter den Menschen herum, beeinflusst sie, verwandelt sie. [...] Man braucht nur die Fotos von Anthroposophen zu sehen, und man sieht dieses Wesen, fast in jedem abgebildet. [...] Das einzige Vollkommene, das sie haben, ist die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners. Sie werden aber dazu verführt, sich dieser Vollkommenheit ähnlich fühlen zu wollen, nachdem man sich in welcher Weise auch immer damit beschäftigt hat. Das hat diese furchtbare Schein-Heiligkeit herbeigeführt, die alle Lebendigkeit abtötet. Man wagt es doch nicht, auch nur einen Schritt aus sich heraus zu machen – denn dann fühlt man sich als ein Egoist, subjektiv, emotional, persönlich...


Der reale Geist wird nicht entwickelt, stattdessen wird die Persönlichkeit unterdrückt, was die Selbstbezogenheit aber gerade verstärkt: 

Dieses Unterdrücken führt dann zu einer Gesellschaft lauter unechter Menschen, die sich mit dem gewöhnlichen Selbst gleichsam außerhalb von sich selbst stellen – sie werden dazu gezwungen, weil sie fortwährend nach allerlei ‚anthroposophischen Kriterien‘ beurteilt werden – und dann gerade in eine furchtbare Selbstbezogenheit hineingeführt werden, die alle Liebe tötet. In der Liebe vergisst man ja seine Persönlichkeit, mit dem Risiko, dass sie sehr, sehr sichtbar wird...

Die Symptome der Krankheit

Die Krankheit der Anthroposophen hat mehrere Symptome. Man kann sie in Kürze folgendermaßen benennen:

Ein ängstlich-ehrfürchtiges Hinblicken auf die „führenden Anthroposophen“ (wie „Mitglieder des Vorstandes“); ein ängstliches Hinblicken auf das eigene Erscheinen nach außen; ein selbstgefällig-hochmütiges Empfinden, im Strom der Wahrheit zu stehen; ein hochmütiger Glaube, als in der GA ausführlich bewanderter Berufsanthroposoph ein hervorragender „Vertreter der Anthroposophie“ zu sein; ein fragwürdiger, gefährlicher Wille, die Pflege der Anthroposophie wie auch immer „gestalten“ und „führen“ und „in die richtigen Bahnen lenken“ zu müssen.

Man wird sofort bemerkt können, dass diese Symptome ganz verschiedenartig sind und bei verschiedenen Menschen verschieden auftreten. Noch kürzer könnte man sie bezeichnen: Autoritätsglaube, Scheinheiligkeit, Ichlosigkeit, Hochmut, Machtwille...

Die ersten drei Symptome gehören eng zusammen, die beiden letzten gehen ineinander über; die Scheinheiligkeit ist aber wiederum ein übergreifendes Phänomen. Gehen wir diesen Symptomen auf den Grund...

Von der Scheinheiligkeit

Woher kommt die Scheinheiligkeit? Man begegnet der Anthroposophie... Man erlebt sie als eine Weltanschauung, die in höchste Höhen der Geistesschau führt und umfassende Wahrheiten offenbart. Man lernt die umfassende Größe und Bedeutung der Weltentwicklung, des Menschenwesens kennen. Darin liegt ein ungeheurer Aufruf, dieser Größe gerecht zu werden. Man will sich als Mensch dieses ungeheuren moralischen Ausblicks würdig erweisen. Ein ungeheurer Entwicklungsweg öffnet sich vor dem Auge.

Aber der Mensch will dann in der Regel doch nicht so hart streben, er will nicht werden, sondern sein. Er will es vor sich selbst nicht wahrhaben, wo er in diesem Moment steht, und vor allem – er will es vor anderen nicht offenbaren. Da nun die Anthroposophie diese umfassende Anschauung eröffnet, ein tiefes Verständnis für Seelisch-Geistiges, muss man bei den Anthroposophen besonders vorsichtig sein ... sie durchschauen einen! Wer weiß, wie weit die anderen bereits entwickelt sind... Man muss also so tun, als wäre man selbst schon weit fortgeschritten. Zumindest muss man all seine Gefühlsregungen unter Kontrolle haben: In diesen Kreisen ist man nett zueinander, man grüßt sich mit tiefem Blick, man sieht den anderen „als geistige Wesenheit“, vielleicht abwägend, wo er innerlich gerade steht... Man bemüht sich, nicht zu zeigen, dass man vielleicht erst ein Jahr – und auch das nicht sehr regelmäßig – meditiert, oder sogar noch gar nicht... Man staunt, wie viel andere schon „wissen“, und man versucht, sich nicht anmerken zu lassen, dass man den Unterschied zwischen Astralleib und Empfindungsseele eigentlich noch immer nicht so richtig verstanden hat.

Und mit all dem ist man schon mittendrin in der größten, furchtbarsten Scheinheiligkeit. Warum? Weil man überhaupt nicht mehr man selbst sein kann, überhaupt nicht mehr wahrhaftig sein kann. 

Man hat unbewusst einen Anspruch an sich selbst geformt, dem man sich unterordnet und unter dessen Knechtschaft man gerät. Man hat sich in ein Gefängnis von Vorstellungen verstrickt, man blickt von außen auf sich selbst – nicht nur mit den eigenen Anspruchs-Augen, sondern zusätzlich und vor allem mit den (vorgestellten) Augen all der anderen „Anthroposophen“. Und das Schlimme ist: Diese Augen gibt es auch tatsächlich. Denn es wird ja ständig übereinander geurteilt, bewusst oder unbewusst. Denn spätestens wenn man sich selbst einem Anspruch unterordnet, wird man um so mehr anfangen, auch über andere zu urteilen: Der Knecht will doch immer noch jemanden haben, der unter ihm steht... Und wann immer ich über jemanden urteile, erhebe ich mich über ihn. Selbst der höchstentwickelte Mensch steht unter mir, wenn ich an ihm eine Schwäche entdecke, die ich verurteilen kann... Die urteilenden Augen sind also überall, das heißt, man muss sich so entwickelt zeigen, wie nur irgend möglich. Schein-heilig...

Viele „Anthroposophen“ sind so leblose, unindividuelle Menschen geworden, dass sie nicht den geringsten Zugang zu sich selbst mehr haben. Sie blicken sich selbst eigentlich nur noch von außen an, mit den Augen des eigenen und fremden Anspruchs – und steuern ihr Verhalten in ebendieser Weise: von außen, das heißt, rein vom abstrakten, vertrockneten Kopf aus, der den Anspruch völlig verinnerlicht hat und weiß, wie man sich in jeder Situation zu verhalten hat. Immer möglichst unauffällig, immer möglichst entwickelt... Ein Ich ist nicht sichtbar, die Seele ist verkrampft und verkümmert, der Gewohnheitsleib ist geprägt von den Ansprüchen, in denen man gefangen ist, und nicht nur das äußere Verhalten, sondern auch die Physiognomie wird immer mehr zum Bild dieses ganzen furchtbaren Prozesses.

Man erkennt die „Anthroposophen“ nicht daran, dass sie ihren ganz individuellen Geist offenbaren würden, sondern dass sie einen sehr, sehr einheitlichen anti-individuellen Geist offenbaren, dass Sie ein Gattungsexemplar werden. Die Menschen sind zwar noch unterscheidbar, aber nicht mehr wesenhaft verschieden... Man will den erhabenen, „wahren“ Geist offenbaren – aber man wird nur schein-heilig, ein Träger jenes Geistes, der sich als wahrer Geist nur ausgibt. Man will ein Träger, ein Vertreter, ein Helfer der Anthroposophie sein – und man wird ein Helfer der Anti-Anthroposophie, die um so stärker wird, je glänzender der Schein, das Abbild der Anthroposophie sich aufbaut.

Mit dieser furchtbaren Diagnose sind wir den Phänomenen der Scheinheiligkeit und der Ichlosigkeit auf den Grund gegangen.

Autoritätsglaube: Glaube an die eigene Schwäche...

Woher aber kommt der Autoritätsglaube? Beziehungsweise was für ein Phänomen ist damit eigentlich bezeichnet? Es geht ja weniger um ein Glauben, als um ein ehrfürchtiges, meist auch mit Neid verbundenes Aufschauen zu jenen Menschen, die sich in der Anthroposophie scheinbar frei bewegen können, ja die scheinbar sogar eigene Erkenntnisse haben, zumindest aber die Erkenntnisse Rudolf Steiners auf eine beeindruckende Art wiedergeben können, die man vielleicht sogar als bereichernd empfindet. Da man selbst diese Fähigkeit nicht hat, bleibt nichts anderes übrig, als diesen anderen Menschen zuzuhören, sie zu bewundern und zu beneiden. Es bleibt nichts anderes übrig, als ihre Vorträge anzuhören, ihre Seminare zu besuchen, in Gesprächen darauf zu warten, dass sie etwas sagen, sich zu freuen, wenn sie einen beachten – und davon zu träumen, dass man vielleicht eines Tages auch...

Man hat also diese „weit fortgeschrittenen“ Menschen um sich, vor sich, über sich, die die Anthroposophie wirklich „würdig vertreten“, die sich in der Gesamtausgabe auskennen, die eine Stunde lang über die Vorgeburtlichkeit oder die Sinneslehre erzählen können... Und man wird schwächer und schwächer. Man gibt die Hoffnung auf, dass man selbst je so weit kommen könnte... Man bleibt Konsument. Der Abstand ist ja bereits viel zu groß... Die Wahrnehmung des (scheinbaren) Abstandes lähmt – man wird noch schwächer. Man gibt seine eigene Entwicklung auf und hasst sich vielleicht noch für seine eigene Schwäche – und auch dieser Hass lähmt wiederum, denn er zementiert den Glauben an die eigene Schwäche...

Dieser Glaube an die eigene Schwäche ist jedoch von Anfang an da, denn sonst würde die Begegnung mit fortgeschrittenen Menschen das eigene Streben nur befeuern können. War nicht ganz ursprünglich die Anthroposophie selbst ein reiner, feuriger Aufruf an einen selbst? Ganz am Anfang, bevor man sie auf abstrakte Ansprüche reduziert und sich selbst in das Gefängnis dieser Ansprüche gesperrt und sich mit der eigenen Schwäche abgefunden hat...?

Das also ist das Geheimnis des Autoritätsglaubens. Es ist ebenso sehr ein Glaube an die „Autorität“ des anderen, wie ein Glaube an die eigene Schwäche. Und dieser Glaube leugnet im Grunde das Grundprinzip der Anthroposophie, nämlich die Entwicklung. Wer sagt mir denn, dass ich nicht selbst mit einem energischen Streben eines Tages da stehen könnte, wo der andere jetzt (scheinbar) steht? Man selbst redet sich ein, dass man es nicht könnte. Oder man will es gar nicht. Man will die Anstrengung des Strebens nicht, man will es nicht einmal versuchen. Der Glaube, dass man es nicht kann, ist ein vielleicht unangenehmer Gedanke, aber er ist auch bequem... Die Vorstellung, dass es nun einmal andere, berufenere Menschen gibt, erlöst einen aus jeder Anstrengung...

... und mangelnde Urteilsfähigkeit

Aber noch sind wir dem Autoritätsglauben nicht bis auf den Grund gegangen. Denn das Problem beginnt ja nicht erst mit der Tatsache, dass man selbst keine Vorträge halten oder gar geistige Erkenntnisse aus sich hervorbringen kann. Es beginnt nicht mit der Tatsache, dass es Menschen gibt, die (scheinbar oder wirklich) weiter entwickelt sind als man selbst. Das Problem des Autoritätsglaubens, das heißt der Autorität im Sinne eines negativen Phänomens, beginnt bereits mit etwas viel Entscheidenderem: mit der Frage der Urteilsfähigkeit.

Viele Dinge, die Rudolf Steiner schildert, kann der Intellekt nicht nachvollziehen, nicht erfassen, nicht akzeptieren. Entweder er muss sie zunächst ablehnen – oder glauben. Wenn es nun „Anthroposophen“ gibt, die über diese Dinge wie über ganz normale Erkenntnisse sprechen, dann erscheint es so, als würden sie diese Dinge wissen, irgendwie schon selbst erlebt haben oder zu einer sicheren Überzeugung ihrer Wahrheit gelangt sein. Man gesteht ihnen zu, dass sie irgendwie „aus Erfahrung“ sprechen, und man selber leidet darunter, dass man diese Erfahrungen noch nicht gemacht hat, dass man vieles gar nicht beurteilen kann. Gibt es wirklich Engel? Was ist das Devachan? Muss ich es glauben, wenn Rudolf Steiner gesagt hat, dass...?

Nun hat Rudolf Steiner immer wieder gesagt, dass man all seine Worte prüfen soll, mit dem gesunden Menschenverstand und an der eigenen Lebenserfahrung prüfen soll. Er hat auch gesagt, dass man lernen soll, die Autorität zu beurteilen. Da die Anthroposophie kein „neuer Glaube“ sein will, kann es nur darum gehen, dass sich jeder Anthroposoph wenn schon keine Erkenntnisfähigkeit, so doch zunächst eine Urteilsfähigkeit zu erringen hat. Ich muss mehr und mehr das beurteilen können, was jemand sagt, ja eben sogar das, was Rudolf Steiner sagt! Wenn ich aber Urteilsfähigkeit erringe, hört in demselben Moment ... alle Autorität auf! Sie hört auf in der negativen Bedeutung des Wortes, sie übt keine Macht mehr aus, man wird frei. Was ich selbst beurteilen kann, hat keine Macht mehr über mich – es kann mich höchstens befeuern, wenn ich es frei anerkenne und mich in meinem freien Streben nach Entwicklung aufgerufen fühle.

Das Dogma der Urteils-Unfähigkeit

Genau dazu hat Rudolf Steiner aufgerufen: Zur Entwicklung der eigenen Urteilsfähigkeit, die natürlich wiederum eng mit anderen Aspekten der inneren Entwicklung verknüpft ist. Und trotz dieses klaren Aufrufes, trotz dieser entscheidenden Rolle der Urteilsfähigkeit innerhalb der Anthroposophie, herrscht in der heutigen „anthroposophischen“ Bewegung in vielerlei Hinsicht gleichsam das Dogma von der Urteils-Unfähigkeit.

Wenn man aber unfähig wäre, zu urteilen – zu beurteilen, ob etwas Wahrheit ist, ob etwas Anthroposophie ist oder nicht –, dann wäre die Anthroposophie selbst eine Illusion, dann hätte man keinerlei Mittel, um Wahrheit und Lüge zu unterscheiden, um eine Verfälschung der Anthroposophie zu erkennen. Dies aber entspräche dem Ignorabimus („wir können nicht erkennen“), gegen das sich Rudolf Steiner von Anfang an kategorisch gewehrt hat. Anthroposophie beruht auf der Möglichkeit zu erkennen und Wahrheit und Lüge, Halbwahrheit und Illusion beurteilen zu können.

All dieses – Wahrheit und Lüge, Halbwahrheit und Illusion, Verirrung, Täuschung, Irrtum und Erkenntnis – offenbart sich aber in Menschen, durch Menschen. In der „anthroposophischen“ Bewegung gibt es jedoch verbreitet gleichsam einen Reflex, sich in das Dogma der Urteils-Unfähigkeit zu flüchten, sobald man die Wahrheit dessen beurteilen soll, was ein Mensch sagt. Genauer gesagt: was ein „Anthroposoph“ sagt. Ein „Anthroposoph“ sagt immer die Wahrheit bzw. einen Teil der Wahrheit, hat doch die Wahrheit viele Aspekte, wie Rudolf Steiner selbst betonte. Wer wollte da einen Anthroposophen der Lüge bezichtigen? Und natürlich wird diese Angst zu urteilen, um so größer, je mehr ein Mensch zu wissen scheint, erkannt zu haben scheint. Und die „führenden Anthroposophen“ sind geradezu „unantastbar“. Was sie sagen, ist so unbezweifelbar die Wahrheit wie nur irgendetwas. Zumal, wenn es dem, was Rudolf Steiner gesagt hat, „täuschend ähnlich“ sieht...

Diese Urteilsangst hängt natürlich unter anderem eng mit dem Schicksal der Anthroposophie nach Rudolf Steiners Tod zusammen. Furchtbare Konflikte traten auf, selbst unter den fortgeschrittensten Schülern Rudolf Steiners! Und wir wissen, dass man später schwerste Schuld auf sich lud, als man aufrichtige Anthroposophen aus der Gesellschaft ausschloss, einfach, weil sie einem anderen „Flügel“ angehörten... Und weil sich diese schlimme Geschichte nicht wiederholen darf, darf fortan niemand mehr über den anderen – über die Wahrheit des anderen – urteilen. Das ist das Dogma – und es führte zu einer völligen Blindheit. Jahrzehntelang ist man nun schon diesem Dogma gefolgt, tut es noch immer – und verlernt immer mehr das Urteilen, wo es wirklich berechtigt und notwendig ist, wo es die Grundlage der Anthroposophie ist.

Stattdessen beurteilt man alles andere: Man beurteilt den anderen Menschen, statt seine Wahrheit. Man beurteilt seine Entwicklung, seine Schwächen, seine Art, auch einzelne Aussagen... Man überhebt sich in seinem inneren Urteil in schlimmer Weise über den Mitmenschen, aber an das Urteil, ob das, worüber der andere spricht, Wahrheit und Anthroposophie ist oder nicht, daran wagt man sich nicht.

Ein Gang ins Konkrete – nennen wir Namen

Meine Erfahrung mit der Tatsache, dass sich etwas Anthroposophie nennen kann, ohne Anthroposophie zu sein, begann mit der Zeitschrift Info3. Zuerst war es nur ein unklares Gefühl. Eine sichere Überzeugung war es mir jedoch, dass eine Relativierung der Tat-Sache des Christuswesens ein Verlassen der Anthroposophie wäre. Diese Tendenz von Info3 wurde dann schlagartig virulent mit Felix Haus Aufsatz „Rudolf Steiner integral“, in dem er Rudolf Steiner überdies als jemanden hinstellte, der seine Einweihung mit 19 empfing und seine ursprünglichen Erkenntnisse später eigentlich nur in irreführende, traditionelle Vorstellungen kleidete. Das Christuswesen wurde geleugnet – und wird es bis heute. Das war der Anfang.

In den Büchern von Mieke Mosmuller begegnete mir eine Welt, die ich auf eine ganz andere Weise als andere Bücher als durch und durch anthroposophisch erlebte. Andere Bücher handelten von Anthroposophie, sprachen über Anthroposophie. Und selbst, wenn sie neue Erkenntnisse gaben und Zusammenhänge aufzeigten, waren sie doch immer abstrakt geschrieben, blieben auf der Ebene des „über etwas“. Diese Abstraktheit war mir zunächst überhaupt nicht deutlich geworden. Sie kann auch nicht deutlich werden, wenn man keinen Vergleich hat, wenn man nichts anderes kennt, wenn man selbst Rudolf Steiners Vorträge zu abstrakt gelesen hat und später Bücher über Anthroposophie und abstrakte Ausarbeitungen im Prinzip für das gleiche hält, für die gleiche Anthroposophie, die Rudolf Steiner entfaltet hat.

Mieke Mosmullers Bücher erlebte ich nun aber auf einmal anders, sie erlebte ich als wirklich aus der Anthroposophie heraus geschrieben. Auch dieses Erleben blieb zunächst etwas unklar. Die Romane, die mir zunächst begegneten, konnte ich nicht ganz mit meiner Vorstellung von Anthroposophie in Übereinstimmung bringen, auch wenn sie mir trotzdem mehr Anthroposophie zu enthalten schienen als Bücher über Anthroposophie – und ich dadurch dieses „über“, dieses Abstrakte der anderen Bücher mehr und mehr erleben lernte. Dann erschien 2007 das Buch „Der Heilige Gral“, und dies war wirklich eine Offenbarung des anthroposophischen Schulungsweges und dessen, was auf diesem Wege errungen werden kann: Die Begegnung mit dem Christuswesen im Ätherischen, in der Sphäre des reinen Denkens, das den reinen Willen in sich aufgenommen hat. Diese erschütternden Schilderungen zeigten in voller Klarheit die unverzichtbare Grundlage, auf die der anthroposophische Schulungsweg aufbaut: das reine Denken.

Dann folgte 2008 ihr Buch „Stigmata oder Geist-Erkenntnis. Judith von Halle versus Rudolf Steiner“. Hatte ich bis dahin das außergewöhnliche Phänomen der Stigmatisation dieser jungen Frau nur mit Verwunderung und als Rätsel zur Kenntnis nehmen können, ohne mir ein Urteil bilden zu können, so wurde mir anhand der sehr detaillierten Ausführungen Mieke Mosmullers eines deutlich: Wie auch immer die Stigmatisation zustande kommt, sie hat nichts mit dem Auferstehungsleib zu tun, und was Judith von Halle schreibt, hat nichts mit Anthroposophie oder esoterischem Christentum zu tun. Das Buch von Mieke Mosmuller führt einen diesbezüglich zu einer klaren Urteilsfähigkeit, wenn man dem Gedankengang innerlich folgen kann. Später merkte ich, dass es genügend Menschen gibt, die ihr „vorwerfen“, einfach Zitate gegenübergestellt zu haben, und die nicht sehen, wie sie nicht „mit Hilfe“, sondern anhand dieser Zitate und darüber hinaus zeigt, dass es zwischen Rudolf Steiner und Judith von Halle überall zentrale, unüberbrückbare Widersprüche gibt. Wenn man dies nicht erleben kann, ist man es selbst, der rein äußerlich vorgeht und gar nicht erkennen kann, was gesagt und gezeigt wurde.

Urteile über die Möglichkeit zu urteilen...

Hier nun beginnt meine Erfahrung mit der Frage der Urteilsfähigkeit, die sich sofort mit den anderen Symptomen der anthroposophischen Krankheit verknüpfte.

Ich schrieb eine Buchbesprechung zu „Stigmata und Geist-Erkenntnis“ und schickte sie an das „Goetheanum“. Zu der Zeit war gerade ein etwas älterer „Anthroposoph“ neu in die Redaktion eingestiegen, Hans-Christian Zehnter. Er schrieb mir, meine Rezension sei zu einem Pamphlet gegen Judith von Halle geraten und so sei es klar, dass sie schon aus stilistischen Gründen nicht gedruckt werden könne...

Ich will hier zunächst einschieben, dass auch die beiden anderen, etwas jüngeren Redakteure den Aufsatz sicher aus ähnlichen Gründen abgelehnt hätten. Ich hatte aber immer mehr erlebt, dass sie selbst keine Anthroposophen waren, auch wenn ihnen die Anthroposophie „ein Anliegen“ oder sogar ihre tägliche Gedankenwelt war. Sie waren dennoch eigentlich immer eher Journalist geblieben und hätten deshalb einen Geisteskampf wie den gegen Judith von Halle immer als Angriff auf ihre Person verstanden und zurückgewiesen. Das sind noch andere Gründe als jene, die einen „richtigen“ Anthroposophen wie H.-C. Zehnter leiten.

Wie oben schon angedeutet, unterliegen die Anthroposophen dem Dogma, dass man sich als Anthroposoph eigentlich nicht „streitet“, sondern „brav“ die Erkenntnis sucht und dann in der Gemeinschaft aufleuchten lässt... Und wie beschrieben ist da die furchtbare Angst, jemanden als Abtrünnigen hinzustellen, nach all den leidvollen Erfahrungen der früheren Jahre... Nicht zuletzt und nicht am unwichtigsten kommt dann bei vielen noch eine Sehnsucht nach einer Auferstehung der Anthroposophie hinzu, nach einem wirklichen Einfluss in der Welt, auf dass diese sich endlich zum Guten wende. Dafür darf es doch intern nicht immer diesen schlimmen Zwist geben, dieser muss doch endlich einmal aufhören, um sich auf die brennenden Weltaufgaben zu besinnen? Das journalistische Ethos, jemanden nicht zu „verleumden“, kommt dann nur noch hinzu, passt aber exakt zu den übrigen Motiven.

In jemandem wie H.-C. Zehnter geht das Ganze eine besonders schlimme Synthese ein, weil bei ihm zudem unmittelbar spürbar der „anthroposophische“ Hochmut hinzukommt, wenn er beurteilt, ob etwas erscheinen darf oder nicht. Woran ist dieser Hochmut zu erleben? Daran, dass jemand das Gefühl zu haben scheint, er selbst wäre wer weiß wie entwickelt, wenn er jemandem vorhält, sein Aufsatz sei ja zu einem Pamphlet geraten und man müsse ihn von daher schon rein aus stilistischen Gründen ablehnen. Daran, dass jemand, wenn derselbe Aufsatz dann in einer ganz und gar leblosen und abstrakten Version wiederum geschickt wird, ein Lob ausspricht, man habe mit der neuen Fassung einen ungeheuren Sprung gemacht... Und daran, dass jemand – nachdem man ihm in einem ausführlichen Brief zu erklären versuchte, warum diese abstrakte Version eigentlich schon lange nichts mehr mit Anthroposophie zu tun hat –, jovial anbietet, man könne diese Frage doch einmal bei einem Kaffee „von Mensch zu Mensch“ klären, wenn man einmal nach Dornach komme...

Sektierertum und Unwahrhaftigkeit

Hier haben wir alle Elemente beisammen, die dazu führen, dass die Anthroposophie auch in der Außenwelt mit Recht als Sekte erlebt wird: Hochmut, Überhebung, selbstgefälliges Gutmenschentum und Machtverhalten – und ein völliges Unverständnis der wahren Anthroposophie. Es geht gar nicht um Urteilsfähigkeit! Es geht um Dogmen – um das Dogma der Urteilslosigkeit, um das Dogma des „wir sind alle so nett zueinander und so entwickelt“ und um die Tatsache, dass dennoch einige „gleicher als andere sind“ (Orwell).

Wenn jemand wie H.-C. Zehnter in der Redaktion sitzt, noch dazu als Fachmann für alle besonders „esoterischen“ Beiträge (!), dann ist das die direkte Leitung für einen ständigen Zustrom der sektiererischen Kräfte, die aus jedem Anthroposophen ein Gattungsexemplar machen. Dann fühlen sich auch die anderen Redakteure in ihrer „journalistischen Linie“ immer wieder bestätigt, eine Unsicherheit kann gar nicht aufkommen. Wer scharfe Beiträge liefert, ist dann eben wirklich nur einer, der einfach nur negativ denken kann, der sich auf die Kritik versteift und das viele, viele „Übrige“ gar nicht sehen kann... Dass es um einen Geisteskampf geht, sieht man nicht, empfindet man nicht, man weiß gar nicht, was ein Geisteskampf ist – weil man gar nicht weiß, was Anthroposophie ist. Wenn man es wüsste, würde man sehen, dass heute um sie gekämpft werden muss. Und zwar nicht einmal deshalb, weil sie bedroht wäre, sondern damit sie überhaupt da sein kann!

Am unwahrhaftigsten werden die Verhältnisse da, wo man die Menschen direkt anspricht. Ich habe es mit allen drei Redakteuren versucht. Zehnter hat mir sehr schnell gar nicht mehr geantwortet. Axel Mannigel, der mich bis dahin sogar als Freund sah, hat schließlich immerhin gesagt, er wolle diese Dinge nicht per E-Mail besprechen. Auf die Antwort von Sebastian Jüngel zum Thema Gronbach warte ich noch immer... Auch dies wohl vergeblich, denn bekanntlich haben „das Goetheanum“ und „Info3“ über die „infoseiten anthroposophie“ enge Arbeitsbeziehungen und sind Jüngel und Gronbach vertraut „auf Du und Du“.

Aber selbst Menschen wie Gerold Aregger („Gegenwart“) weichen vor einem Konflikt mit Judith von Halle zurück und verweisen einen auf Bücher, die die früheren schlimmen Konflikte in der Gesellschaft schildern.

Das heißt, man glaubt wirklich, ein Konflikt gründe immer darauf, dass die Beteiligten nicht selbstlos genug seien und zu sehr ihre eigene beschränkte Sicht hätten. Es wäre noch zu verstehen, wenn man glaubt, keine Urteilsgrundlagen zu haben, denn diese muss man vor einem Urteil ja wirklich erst haben und sie sind schwer zu erringen. Aber das Tragische daran ist eben, dass die Anthroposophen sie ja erringen sollten. Es ist also der Tod der Anthroposophie, wenn man obige Vorstellung zum Dogma macht und einem anderen diese Urteilsgrundlage generell nicht zutraut! Man überhebt sich über den anderen und traut sich die Urteilsgrundlage in diesem Fall zu! Hier plötzlich, in diesem einen einzigen Urteil, traut man sie sich zu! „Ich weiß, dass ich nichts weiß – und der andere auch nicht...“ Ein Anthroposoph greift einen anderen an – er liegt falsch! Das ist ein felsenfestes Urteil.

Dieses Vorurteil baut sich natürlich – wie erwähnt – auf der eigenen Sehnsucht nach dem Gutmenschentum auf, auf die verinnerlichte „Lehre“ aus den früheren Konflikten und auf dem Wissen, dass nach Steiners Tod selbst die größten, fortgeschrittensten Anthroposophen aneinandergerieten. Und so verbietet man sich geradezu jedes Urteil – aus Angst, in derselben Sekunde schon ein schlechter, egoistischer, nur in Sympathien und Antipathien lebender Anthroposoph zu sein. Damit ist die Urteilsfähigkeit, das Urteilen selbst abgeschafft. Es bleibt nur noch ein allgemeingültiges, grundsätzliches Urteil, ein „errungenes“ anthroposophisches Dogma übrig: Wer meint, andere beurteilen zu können, lebt schon im Irrtum.

Nur wenn es ganz extrem wird, etwa bei Sebastian Gronbach, wagt man sich vorsichtig wieder über dieses Dogma hinaus. Der Gedankengang geht dann ungefähr so: „Wenn jemand solche Dinge sagt wie ‚Michael gibt es nicht‘, dann rührt das doch an die Grundsätze der Anthroposophie, oder? ... dieser Gronbach ist dann vielleicht doch kein Anthroposoph ... aber das ist ja schon fast eindeutig, darüber besteht ja schon fast kein Zweifel ... in dem Fall darf man sich einem solchen furchtbaren Gedanken vielleicht doch ausnahmsweise einmal annähern...“ Zu Judith von Halle haben solche perfekt dogmatisierten Anthroposophen eine ganz andere Meinung: „Sie ist natürlich Anthroposophin, und nicht nur das, sie ist sogar die Retterin der Anthroposophie, sie ist die Einzige, die endlich wieder etwas aus den Geisteswelten offenbart, und dazu noch in solcher Fülle! Und so erhebend, bereichernd, Ehrfurcht erweckend...!“ Und wenn einen gewisse Dinge oder zumindest Diskussionen um sie, von denen man hört, doch irritieren, dann ist sie zumindest ebenso „wie wir“ eine suchende Seele, die „einen der vielen möglichen Wege der Anthroposophie“ geht. Auch hier wieder gilt das unumstößliche Dogma: „Wer so ehrfurchtsvoll über Christus und die geistigen Welten redet, muss doch einer von uns sein! Ach, wie schön wäre es, wenn ich auch nur einen Bruchteil dieser Erkenntnisse hätte...“ Und wieder hat man sich jede Möglichkeit zu einem klaren, selbstständigen Urteil abgeschnitten!

Die nicht-existierende Anthroposophie

Und so ist die „Anthroposophie“ in ihrer heutigen Gestalt ein Sammelsurium geworden, ein Sammelbecken für alles, was die verschiedenen „Anthroposophen“ sich unter ihr vorstellen, über sie denken, von ihr erträumen, aus ihr machen... Und weil es so viele Vorstellungen, Gedanken, Vorträge, Seminare, Aufsätze, Bücher und so weiter über die Anthroposophie gibt, glaubt man, die Anthroposophie wäre lebendig mitten unter uns. Dabei weiß man gar nicht, wie man sie erkennen kann! Es herrscht der naive Glaube: Was wie Anthroposophie aussieht, ist Anthroposophie. Dabei weiß man gar nicht, was Anthroposophie ist! Diesen Satz wird man reflexartig leugnen. Aber indem man sich im nächsten Moment weigert, zu beurteilen (beurteilen zu können), ob das, was jemand sagt oder schreibt, (noch) Anthroposophie ist, sagt man nichts anderes, als dass man es nicht weiß, was sie ist.

Man wird nun natürlich behaupten, dass man sehr wohl ein Empfinden dafür hat. Aber Anthroposophie hat nicht mit bloßem Empfinden zu tun, sondern mit Erkennen. Und es gibt heute sehr wohl deutliche Fälle, wo selbst innerhalb der „Bewegung“ unterschiedliche Meinungen darüber herrschen, ob dies oder jenes noch Anthroposophie sei. Das zeigt zweierlei: Zum einen, dass hier tatsächlich Meinungen und nicht Erkenntnis walten. Zum anderen, dass natürlich irgendwo tatsächlich der Zweifel auftreten muss, wo Anthroposophie in Nicht-Anthroposophie „übergeht“. Jedoch: Wenn offenbar keine klare Erkenntnis vorhanden ist, müsste der Zweifel bis ins Zentrum gehen. Ich behaupte: Was man heute als Anthroposophie pflegt, ist überhaupt keine Anthroposophie.

Also zu dieser Urteilsfähigkeit müsste man sich hinaufarbeiten: Klar zu wissen, wo Anthroposophie beginnt und was nur mit ihrem Namen bezeichnet wird und dadurch die Illusion von Anthroposophie ergibt.

Solange dies jedoch nicht geschieht, solange niemand diese Urteilsfähigkeit hat, wird es weitergehen wie bisher: Es wird viele Menschen geben, die diesen oder jenen Vortrag von Rudolf Steiner lesen und ansonsten den „führenden Anthroposophen“ zuhören; und es wird wenige von diesen „führenden Anthroposophen“ geben, die ihre Vorstellungen von Anthroposophie verbreiten; die beanspruchen, die Anthroposophie zu pflegen; die beanspruchen, Anthroposophie in der Welt zu vertreten; und die beanspruchen, diese führende Rolle zu behalten (auch wenn sie öffentlich immer sagen würden, es gäbe leider viel zu wenig Menschen, die Verantwortung übernehmen wollen). Und solange wird es keine Anthroposophie geben, denn das, was heute für sie ausgegeben wird, „gepflegt“ wird, vertreten wird, hat mit dem äußerlichen Schein von Anthroposophie vielleicht viel, mit ihrem Wesen aber nichts zu tun.

Von den „führenden Anthroposophen“

Die „führenden Anthroposophen“ führen viel Esoterik im Mund, die einschlägigen Vokabeln werden großzügig gestreut. Bewundernd kann man vor ihrem Wissen staunen, vor ihrer Verantwortungslast, der sie so verantwortungsvoll und so gut gerecht werden. Dabei sollte man erkennen, was hinter den Worten an Substanz vorhanden ist und was nicht. Jedesmal muss natürlich zu den großen Zeitpunkten des Jahres eine große Veranstaltung stattfinden: Zu Weihnachten, zu Ostern, zu Johanni, zu Michaeli – die Anthroposophie will ja vor der Welt vertreten werden, und natürlich vor der versammelten Anthroposophenschaft. Dazu kommen besondere Tagungen über den „Menschheitsrepräsentanten“, über dieses oder jenes Jubiläum in Steiners Werk... Und immer große Worte, erhabene Vorträge...

Immer muss Anthroposophie in der Welt vertreten werden. Immer muss man sich als würdiger Verwalter dieser Anthroposophie zeigen. Die Gesamtausgabe muss aufleuchten. Man muss zeigen, dass man die Anthroposophie in 90 Jahren würdig entwickelt und gepflegt hat. Man muss zeigen, dass man ein Anthroposoph ist, dass man soweit ist, die Anthroposophie in der Welt zu vertreten. Eine Veranstaltung alle vierzehn Tage, oder auch viel mehr. Der Berufsanthroposoph ist immer aktiv, immer tätig für die Sache – und er kann es, er kann die Anthroposophie vertreten, wenn es sein muss, kann er innerhalb von fünf Minuten einen Vortrag aus dem Ärmel schütteln, die Verantwortung legt es ihm auf...

Es ist eine gigantische Selbstüberforderung und auch Selbstüberschätzung – deren Illusion aber aufrechterhalten wird. Was wäre es für ein unvorstellbarer Image-Schaden, wenn sich zeigen würde, dass selbst die hohen Herren Vorstände „nur mit Wasser kochen“! Der Schaden, den dies im Vertrauen der Mitglieder bewirken würde, wäre unvorstellbar – und der Schaden im Urteil der Außenwelt vielleicht noch unvorstellbarer...

Also auch hier herrscht eine furchtbare Unwahrhaftigkeit. Es gibt bereits sehr, sehr viele Menschen, die das Auftreten und Gebaren verschiedenster „führender Anthroposophen“ durchschauen und entweder öffentlich kritisieren oder still darunter leiden. Ein kleines Beispiel, wo ich dieses Fehlen jeglicher Substanz einmal drastisch erleben musste – wo statt Substanz ein „schöner esoterischer Schein“ aufgebaut wurde –, war ein Aufsatz von Christoph Wiechert, Leiter der Pädagogischen Sektion am Goetheanum. Ich hatte allein an diesen einen Aufsatz mehr als ein Dutzend gewichtiger Fragen.

Natürlich sind die „führenden Anthroposophen“ in der GA sehr bewandert, können sich in verschiedenen Themenbereichen sehr flexibel bewegen und auch tiefschürfende Dinge erörtern. Entscheidend ist aber das Erlebnis, dass das wirkliche spirituelle Leben nicht vorhanden ist, dass sich der Mensch nicht verwandelt hat – höchstens zum Nachteiligen: in der Entwicklung eines subtilen Hochmutes, einer Führungs- und „Macher-Mentalität“, die durch keinerlei wahre Bescheidenheit ausgeglichen wird.

Das vielleicht Schlimmste ist, dass dieses wunderbare Werk Rudolf Steiners, dem man sich eigentlich in jedem einzelnen Vortrag wieder mit tiefer eigener Ehrfurcht und Bescheidenheit nähern müsste, wie ein Besitz behandelt wird. Man hantiert mit der GA wie mit seinem Eigentum, denn man muss es ja repräsentieren... Dabei vernichtet man aber seinen eigenen wahren Zugang zum Werk Rudolf Steiners – und man verschließt das Tor auch für unzählige andere Anthroposophen, die diese dann von Hochmut und Verfügbarkeitsglaube, von Luzifer und Ahriman pervertierte Anthroposophie für die wahre nehmen...

Dornach ist nicht ein lebendiges Zentrum der Anthroposophie, sondern ein Ort ihrer täglichen Kreuzigung.

Ein Anthroposoph ist nicht dadurch zu erkennen, dass er „die Anthroposophie in der Welt vertreten kann“, sondern dass er als ganzer Mensch verwandelt ist und immer mehr wird. Dies wird man unmittelbar erleben können – oder es ist einfach nicht vorhanden. Wenn ein Mensch die Anthroposophie aber so aufgenommen hat, dass sie ihn verwandelt, dann vertritt er die Anthroposophie bereits durch sein Sein, und dann wird er es auch in der Sprache mit Sicherheit so zu tun vermögen, dass er sich dieser Anthroposophie würdig erweist. Es kommt ja nie auf Perfektion oder den schönen Schein an, sondern immer auf die Wahrhaftigkeit.

Die Illusion erkennen

Heute ist es, als ob man verkünde, „der Frühling bringt neues Leben“ – aber ohne ein lebendiges Verständnis. Rudolf Steiner hat immer betont, dass das, was der Geistesforscher schildert, mit dem gesunden Menschenverstand begriffen werden kann. Es ist also keine Kunst, seine Worte abstrakt zu verstehen und weiterzuverbreiten. Man geht mit lebendigen Wirklichkeiten um, aber ohne sie lebendig zu erkennen. Es ist, als ob man fortwährend Knospen abreißt, mit ihnen hantiert und ruft: „Seht, wir haben den Frühling, die Lebenskräfte“.

Natürlich hat man die Lebenskräfte, die Knospen entfalten ihr Leben, auch wenn sie abgerissen sind. Und dennoch ist es nur der Anschein von Leben, denen kurz darauf sterben sie ganz ab. Sie enthalten zwar noch etwas Leben, aber das wahre Leben wirkt nicht mehr durch sie hindurch. Je mehr es auf den Menschen, auf das lebendige Erkennen ankommt, desto weniger ist das Leben in der heutigen Anthroposophie vorhanden.

Ein homöopathisches Arzneimittel ist aus sich heraus gemäß der geistigen Gesetze wirksam. Es kann falsch oder richtig angewandt werden – an seiner Wirkungsweise selbst ändert sich nichts. Ein Waldorflehrer muss verstehen, warum er etwas tut. Sein Verstehen, sein lebendiges geist-getragenes Erkennen oder sein abstraktes Erkennen oder sein rezeptartiges Umsetzen von „Angaben“ ist unmittelbarer Teil des Geschehens. Die „Substanz“ in der Pädagogik ist das Handeln des Lehrers. Diese Substanz wäre jedoch eine grundlegend andere, wenn ein tiefes Verständnis da wäre. Es ist gewiss immer heilsam, Kindern der 1. Klasse die Schrift bildhaft nahezubringen usw., aber das große, ungeheure Potential, das bis ins Innerste Heilende, Gesundende, Helfende würde die Waldorfpädagogik nur entfalten können, wenn jede einzelne Handlung von lebendiger Erkenntnis durchdrungen wäre.

In einem „anthroposophischen“ Vortrag schließlich käme es ganz und gar auf die lebendige Geist-Erkenntnis an. Gibt man den Zuhörern Knospen, die man der Anthroposophie entrissen hat und die nur dem äußeren Anschein nach Leben suggerieren? Oder spricht man aus einem lebendigen, einem wirklichen Erkennen? Gibt man Rudolf Steiners Erkenntnisse wieder – und sei es in geschickter Zusammenstellung – oder sind es eigene Erkenntnisse geworden? Eigene, lebendig leuchtende Erkenntnisse, verbunden mit dem lebendigen Quell, mit ihrem ganzen geistigen Zusammenhang?

Gewiss kann man in beeindruckender Weise alles Mögliche aus Rudolf Steiners Vortragswerk wiedergeben und die Aufmerksamkeit auf dies und jenes lenken. Gewiss kann man überall erstaunliche Zusammenhänge entdecken und auch vermitteln – und wird es immer auch Zuhörer geben, die dadurch eine Anregung haben. Dennoch ist die entscheidende Frage: Wird etwas wiedergegeben, oder ist eine durch und durch eigene Erkenntnis errungen? Spricht man selbst aus einem lebendigen Erleben des Geistes? Ist also das, was man sagt – was auch immer! – geist-durchdrungen, geist-lebendig, oder abstrakt, abgetötet, auf welchem scheinbar „esoterischen Niveau“ auch immer?

Der gesunde Menschenverstand oder ein „esoterisches, erhabenes Empfinden“ sind hier nicht ausreichend, nicht entscheidend. Der Frühling des Geistes müsste real in einen eingezogen sein, sonst wird man nur Steine statt Brot zu geben haben – egal, was auch immer man selbst zu geben meint. Das reale eigene Geist-Erleben des Vortragenden ist das einzige Kriterium, ob es sich um einen wahrhaft anthroposophischen Vortrag handelt – oder ob der Inhalt nur den toten Schein der Anthroposophie erstehen lässt.

Das reine Denken – Grundlage der Anthroposophie

Die Frage der Urteilsfähigkeit hängt wirklich ganz davon ab, ob man die Bedeutung des reinen Denkens für die wirkliche Anthroposophie erkennen und anerkennen kann. Dann hat man für viele Dinge eine ganz klare Urteilsfähigkeit. Warum? Weil sich vor dem wachsenden Verständnis des Wesens des reinen Denkens offenbart, wo dieses wiederum sich offenbart und wo nicht, und weil das reine Denken das Fundament der wahren Anthroposophie ist. Wo man es also erkennt, erkennt man Anthroposophie, und wo es nicht zu erleben ist, ist keine Anthroposophie. Man braucht dann selbst das reine Denken noch gar nicht verwirklicht haben (nur in dem homöopathischen Umfang, der eine Erkenntnis seiner Früchte ermöglicht), um „die Geister scheiden“ zu können. Die Unterscheidungsfähigkeit vertieft sich natürlich in dem Maße, in dem das reine Denken entwickelt werden kann – und erst seine wirkliche Entwicklung wird eine ganz neue Erkenntnisfähigkeit geben, die dann wahrhaft schöpferisch wird...

Wie es um die heutige Anthroposophie steht, erkennt man an ihren Krankheitssymptomen, die ich angedeutet bzw. ausführlich geschildert habe. Und man erkennt es an der Art und Weise, wie sich „Anthroposophen“ zum reinen Denken stellen. Es gibt hierauf im wesentlichen drei Arten von Antworten: Man weiß eigentlich nicht, was Rudolf Steiner mit „reinem Denken“ gemeint hat. Oder man versucht es, in einem Nebensatz zu vereinnahmen: „Natürlich ist das die Voraussetzung, das muss man als Anthroposoph zuerst gelernt haben“ (damit wird gesagt: „Das haben wir selbstverständlich“). Oder man bestreitet die entscheidende Rolle des reinen Denkens auf die eine oder andere Art, etwa durch den Verweis auf „viele Wege“, auf „den Willensweg“, auf die „überall lebendige Anthroposophie“ usw.

Das alles zeugt vom Unverständnis, vom Nichtverstehen oder Nichtverstehen-Wollen. Wem die Anthroposophie aber wirklich ein Anliegen ist, ein wahrhaftiges Anliegen, der wird die Bedeutung des reinen Denkens verstehen müssen. Und wenn er diese Bedeutung erkennt, dann kann er den wirklichen Schritt von der Abstraktheit zur Erkenntnis des Wesens der wahren Anthroposophie machen. Und dann erst kann er beginnen, diese wahre, wesenhafte Anthroposophie auch zu verwirklichen – in sich selbst. Dies ist der Weg vom Intellekt zum Geist. Das reine Denken ist das Tor. Es ist ein Nadelöhr, der unwegsame Weg zur Gralsburg, tief im Wald verborgen...