31.12.2008

Die tote Anthroposophie und das reine Denken

Die heutige Anthroposophie ist tot – weil niemand das reine Denken entwickelte, zu dessen Entwicklung Rudolf Steiner immer wieder aufgerufen hatte. Aus demselben Grund wird ihr Tod auch gar nicht bemerkt: Man hält die äußere Aufrechterhaltung von Formen für ihr Wesen, gewisse Erfolge rezeptartig angewandter Maßnahmen für lebendig fortwirkende Impulse... Anthroposophie aber wäre lebendige Geist-Erkenntnis! Nur die individuelle Erringung eines reinen Denkens könnte sie wieder lebendig machen – und Hoffnung auf eine Rettung der menschlichen Kultur überhaupt geben.


Die Anthroposophie ist tot. Sie starb, weil niemand das reine Denken entwickelte, zu dessen Entwicklung Rudolf Steiner im Grunde immer wieder aufgerufen hatte. Wenn aber die Anthroposophie tot ist, kann sie auch die menschliche Kultur nicht mehr befruchten. 

Dass der Tod der Anthroposophie nicht einmal bemerkt wird, hat den gleichen Grund: weil das reine Denken fehlt. Das tote Denken erkennt den Tod der Anthroposophie nicht, weil es ohnehin nur Totes erkennt – auch wenn es sich unter „Anthroposophen“ für lebendig hält... Das tote Denken glaubt, die Anthroposophie zu verstehen (wenn es einige ihrer Begriffe aufgenommen hat), hat sie aber nie verstanden – damals nicht und heute nicht. Es hat dies jedoch immer geglaubt, damals und heute – und darum hat es ihren Tod verschlafen. Rudolf Steiners Tod war sinnenfällig, der Tod der Anthroposophie kann nur geistig erkannt werden.

In der heute heillos immer mehr ins Unheil geratenden Welt kann sich nichts wirklich ändern, kann sich auch ein Impuls für ein freies Geistesleben, eine wirklich heilsame Gemeinschaftsbildung oder anderes gar nicht entwickeln, wenn sich nicht das reine Denken entwickelt. Dieses reine Denken entwickelt sich aber niemals von selbst, das ist von der Sache her unmöglich. Es muss also bewusst gewollt und erstrebt werden – vollkommen bewusst und durch und durch gewollt. Und in einsamen Stunden immer mehr erkämpft.

Es kann also nur – vor allen anderen Impulsen – das absolute Augenmerk auf diesen notwendigen Schritt gelenkt werden. Dieser Schritt muss getan werden, damit dasjenige, was ein Mensch außerdem noch tut, überhaupt heilsam wirken kann.

Das gilt für jeden einzelnen Menschen. Ein Mensch kann aufgrund seines gereinigten Denkens noch so heilsame Dinge tun, ihre Fruchtbarkeit wird doch von anderen Menschen, die sich diese Reinheit nicht ebenfalls erringen, immer wieder zunichte gemacht werden. Eben dies kann man sogar an Rudolf Steiner und seinem Kulturimpuls beobachten.

Schon zu Rudolf Steiners Zeit

Rudolf Steiner hat alles, was er getan hat, aus diesem gereinigten Denken, Fühlen und Wollen heraus getan. Und es war und ist unendlich fruchtbar. Aber es wurde zugleich, beginnend schon nach seinem Tode und schon zu seinen Lebzeiten, von allen anderen Menschen dieser Impuls fortwährend wieder zunichte gemacht – durch Unverständnis, bei allem „guten Willen“, durch die ausbleibende eigene innere Verwandlung, durch ein viel zu äußerliches Aufnehmen von allem. Anthroposophie und jeder einzelne aus ihr fließende Impuls ist einfach nicht lebensfähig, wenn die Menschen ihr nicht den tiefen Willen entgegenbringen, ihre Seelenkräfte zu reinigen. Und mit Willen meine ich reale innerseelische Taten.

Das Entbrennen für die Anthroposophie genügt bei weitem nicht – selbst wenn es ein Entbrennen wäre, das deutlich über das heute verbreitete abstrakte laue Erglühen hinausgeht. Das Entbrennen an sich kann nur ganz schnell die Illusion erzeugen, man hätte sich schon verwandelt. Denn natürlich ist es im Vergleich zu „vorher“ bereits ein gravierender Unterschied, wenn man die Ideen der Anthroposophie, selbst in abstrakter Weise, in sich aufgenommen hat. Die eigene Seele ist dadurch aber noch nicht im geringsten verwandelt – und genau das ist die große Illusion, der zahllose „Anthroposophen“ erliegen, die fortan glauben, sie würden über die Anthroposophie verfügen und wären dadurch Anthroposophen und hätten sich dadurch „verwandelt“.

Richtig ist allein, dass bereits das Aufnehmen der anthroposophischen Gedanken in der Seele eine Sehnsucht nach Verwandlung erzeugen kann. Rudolf Steiners Worte können einen also an das Tor der Anthroposophie führen. Eintreten muss man dann selbst... Die Seele muss sich ihre Sehnsucht nach Verwandlung bewusst machen und dann wirklich tätig werden... Dem steht die zunehmende Bequemlichkeit und der Egoismus der Seelen entgegen, wie sie sich in den letzten Jahrzehnten und schon zu Steiners Zeiten entwickelt haben. Dann aber kann nur eintreten, was ich zuvor angedeutet habe, nämlich, dass man sich zwar soweit herablässt, die GA immer besser zu kennen, dass man aber der realen, unbequemen inneren Verwandlung die hochmütige Illusion vorzieht, man wäre schon mitten auf dem Weg...

Mit anderen Worten: Trotz aller Bewunderung, trotz aller Ehrfurcht – die ja heute auch schon gar nicht mehr vorhanden sind! –, haben die „Anthroposophen“ Rudolf Steiner schon zu seinen Lebzeiten völlig allein gelassen, wenn man von ganz wenigen Gefährten in seinem engsten Umkreis absieht. Nach seinem Tode zeigte sich, wie wenig auch sie ihn verstanden hatten...

Anthroposophie – ein Leichnam

Die Ideen, die Rudolf Steiner auf die Erde brachte, waren so wirkungsvoll, dass sie quasi von allein noch ein Jahrhundert fortwirkten... Dass sie Menschen begeisterten, die sie gleichsam rezeptartig weitertrugen – was bereits genügte, um noch jahrzehntelang ihre Fruchtbarkeit zu entfalten. Aber sie wurden eben doch immer viel zu äußerlich, viel zu abstrakt verstanden. Und die Folgen davon sehen wir heute... Viele sehen sie noch nicht, werden sie vielleicht in zehn Jahren sehen, vielleicht auch dann noch nicht...

Man muss es so drastisch beschreiben, wie Mieke Mosmuller es in Ihrem erschütternden Buch „Der lebendige Rudolf Steiner“ tut. Die Anthroposophie liegt als Leichnam am Boden. Sie starb mit Rudolf Steiner – und wurde wie eine Mumie so gepflegt, dass nachfolgende Generationen von „Anthroposophen“ sie mit ihrem eigentlichen Wesen verwechselten – so wie man ihr Wesen schon zu Steiners Zeiten nicht erkannt hatte, sondern immer wieder ein zu äußerliches Verständnis hatte: von der Philosophie der Freiheit, von der sozialen Dreigliederung, von allem...

Heute könnten wir klar erkennen, was sich ereignet hat: Es gab neben und nach Rudolf Steiner keine wahren Anthroposophen, die der Aufgabe gewachsen waren. Es gab niemanden, der das wahre Leben seiner Impulse aufrechterhalten konnte. Es gab genügend Menschen, die die Impulse so „pflegen“ konnten, dass ihr Leben nicht sofort erlosch. Und es gab noch mehr, die die traurige, selbst nicht durchschaute „Rolle“ übernahmen, die Illusion von Leben fortzusetzen. Heute ist dies erst recht ein wahres Trauerspiel geworden: Da gibt es alle Varianten zwischen jenen, die die Illusion noch immer nicht durchschauen und jenen, die sie offenbar mutwillig aufrechterhalten, obwohl der Totenschädel der Mumie schon durch alle Tücher grinst.

Die Illusion nährt sich daraus, dass Waldorfpädagogik, Medizin usw. noch immer relativ heilsam wirken. Dies jedoch liegt natürlich daran, dass sie relativ zur vollkommen toten, ja todbringenden Kultur auch in ihrer rein rezeptartig verwirklichten Form noch Gutes bewirken. Sie werden dies jedoch immer weniger tun, und sie hätten ein lebendiger Impuls bleiben sollen, der sich aus sich heraus immer weiter entwickelt! Nur wer die vereinzelten inhaltlichen Ausarbeitungen, „technischen Neuerungen“ und peripheren Zusätze, die nach Rudolf Steiners Tod hinzukamen, als „Entwicklung“ bezeichnet, wird abstreiten wollen, dass ein lebendiger Impuls nicht im geringsten vorliegt und die Entwicklung nur weiter in die Dekadenz und die „Verflüchtigung“ gehen kann. Was notwendig gewesen wäre, wäre eben eine lebendige, noch immer fortwährend schöpferische Geist-Erkenntnis!

Reines Denken – notwendig wie die Luft zum Atmen

Anthroposophie kann nicht auferstehen, ohne dass die Menschen sich das reine Denken erringen. Ohne dieses kann nichts auferstehen. Auch jeder wahre Impuls für eine Wiederbelebung des toten Geisteslebens, für eine Gemeinschaftsbildung, für eine Erneuerung der Waldorfpädagogik oder jeder andere Impuls kann nicht wirksam werden, wenn ihm nicht das reine Denken der anderen Menschen entgegenkommt. Und es kommt nicht... Es kann nicht entgegenkommen, weil es nicht da ist. Deswegen kann es nur einen Ansatz geben, der fruchtbare Entwicklungen initiieren kann: Der immer wiederkehrende Hinweis auf die Notwendigkeit der Entwicklung des reinen Denkens.

Alles, was an zukunftsweisenden Impulsen gegeben werden könnte, muss aus einem reinen Denken hervorgehen und zugleich ganz deutlich machen, dass auch die Verwirklichung dieser Impulse das reine Denken so notwendig braucht, wie der Mensch die Luft zum Atmen.

Mit allem, was Rudolf Steiner gesprochen und getan hat, mit all seinen Impulsen war zugleich immer die Hoffnung verbunden, dass die Menschen es verstehen würden... Sie hätten es aber nur verstanden, wenn sie in seinen Worten und in seinen Impulsen den unausgesprochenen Aufruf gehört hätten: Bildet das reine Denken aus! Nur dies wird Euch zu einem wirklichen Verstehen führen, nur dies wird die Impulse weitertragen können, wirklich lebendig halten können. Aufgrund seiner vollkommenen Achtung vor der Freiheit jedes einzelnen Menschen hat er nicht deutlicher werden können. Er hat dennoch sehr viele Male ausdrücklich auf die Bedeutung des reinen Denkens hingewiesen...

Wenn wir all dies aber klar erkennen, dann sollten wir auch nicht meinen, irgendein von uns in die Welt gesetzter Impuls könnte wieder etwas Lebendiges bringen, wenn wir das reine Denken vielleicht in ersten Ansätzen errungen haben (oder dies glauben). Es braucht keine neuen, zum Tode verurteilten Impulse, es braucht keine (vergeblichen) Wiederbelebungsversuche der erstorbenen Impulse Rudolf Steiners, sondern es braucht ein Ergreifen jenes Impulses, der als einziger die Quelle neuen Lebens sein kann. Dieser Impuls muss von uns und von so vielen Menschen wie möglich ergriffen werden. Dann erst werden Taten, die aus diesem Impuls erfließen können, ein Leben haben und auch behalten können, das notwendig ist, um inmitten des Toten Bestand zu haben und sogar noch neues Leben hervorbringen zu können...

Das reine Denken ist die einzige reale Hoffnung, die die Menschheit noch hat.