16.01.2009

Lebendige Anthroposophie? Annäherungen an Dogma und Wahrheit

Die gegenwärtig auf Erden gepflegte „Anthroposophie“ ist tot – ein erschütterndes Urteil. Im Folgenden wird der Frage nach der Wahrheit dieses Urteils nachgegangen. Dabei werden ausführlich die Hintergründe des entgegengesetzten Urteils, diese „Anthroposophie“ sei lebendig, untersucht und verschiedene unerkannte Voraussetzungen und Dogmen aufgedeckt. Schließlich wird auf die entscheidende Frage eingegangen: Was ist Anthroposophie?


Inhalt

Die Fragen / Antworten vor der Frage
1. Die Gemeinschaft – notwendig? Lebendig? / Unhinterfragte Vorstellungen... / ...und Vorwürfe gegen „Separatisten“
2. „Ernsthaftes Bemühen“ – ein Kriterium? / Mehrheitsurteile als Wahrheit? / Bequeme Magie – oder Geistgeburt
Zusammenfassender Rückblick


„Der lebendige Rudolf Steiner“ ist ein Buch, das einen zu einem tiefer erlebenden Verständnis des Wesens Rudolf Steiners und der Anthroposophie führen kann. Die niederländische Anthroposophin Mieke Mosmuller nähert sich diesem Wesen aus ihrem eigenen inneren, geistigen Erleben heraus – ihre Schilderungen führen einen nicht zu einem intellektuellen Verstehen der Größe von Rudolf Steiners Anthroposophie, sondern zu einem wirklichen Erleben.

Nun schildert sie in demselben Buch, wie die gegenwärtige Form der Anthroposophie auf Erden einer Mumie zu vergleichen ist – wie heute tote Formen gepflegt werden, die auch keine lebendigen Inhalte enthalten. Was hier und heute als „Anthroposophie“ bezeichnet wird, ist tot.

Dies ist nun natürlich ein erschütterndes Urteil für alle, die sich mit der Anthroposophie verbunden fühlen bzw. sich mit ihr verbunden zu haben glauben. Daher wird ein solches Urteil zahllose Abwehrreaktionen hervorrufen. Es wird auf Antipathie stoßen. Man wird es zurückweisen, als absurd und verrückt bezeichnen.

Nun muss aber ein Anthroposoph der Wahrheit mehr verpflichtet sein als allem anderen – muss er die Wahrheit mehr lieben als alles andere. Um die Wahrheit zu finden, muss man sie aber immer wieder suchen, muss überhaupt die Frage nach ihr stellen. Die Frage ist also: Ist das, was Mieke Mosmuller schildert, wahr? Für denjenigen, der Erkenntnis sucht und die Wahrheit liebt, stellt sich diese Frage. Es ist, vor aller Abwehr eines solchen Urteils, eine echte Frage.

Die Reaktionen, die oben angedeutet wurden, wären allesamt schon ein Beweis, dass man es nicht mit wirklichen Anthroposophen zu tun hat. Die reflexartige Abwehr eines Urteils wäre ein Widerspruch zur Anthroposophie. Auch bloße Antipathie gegen ein Urteil dürfte einen Anthroposophen niemals in seinem eigenen Urteil bestimmen. Mit solchen und ähnlichen Verhaltensweisen könnte man nicht einmal Philosoph sein. Wahre Philosophie und erst recht ihre Vertiefung in die Anthroposophie sind nur möglich, wenn die Liebe zur Wahrheit so groß ist, dass nichts diese Liebe beeinträchtigen kann. Das heißt, alle Reflexe im Urteilen, alle Antipathie (und Sympathie), ja überhaupt alles subjektive Urteilen muss schweigen, wenn man zur Wahrheit finden will.

Die Fragen

Nun kann man sich selbst beobachten und einmal versuchen, wirklich unbefangen zu erleben, was in der eigenen Empfindung und der eigenen Seele vorgeht, wenn man dieses Urteil: „Die heutige Anthroposophie ist eine Mumie“ aufnimmt. Merkt man, wie die Antipathie gegen dieses Urteil aufsteigt, oder kann man das Urteil selbst unbefangen erleben, ohne dass sich subjektive Gefühle regen? Und wenn die subjektiven Gefühle halbwegs ruhen – kann man dann das, was in diesem Urteil liegt, auch wirklich erleben? Oder gelingt die „gefühllose“ Aufnahme des Urteils nur um den Preis, dass man gleichsam das Gefühlsleben überhaupt ausschaltet? Dies würde zeigen, dass man zu Unbefangenheit überhaupt nicht in der Lage ist, sondern dass alles, was man empfindet, immer subjektiv ist.

Wenn man zuerst sein Empfinden ausschalten muss, um ein Urteil „unbefangen“ wahrnehmen zu können, kann von Unbefangenheit keine Rede sein – denn man empfindet ja überhaupt nichts! Und wenn man dann doch etwas empfindet, können es jederzeit Reste dessen sein, was man zuvor zu unterdrücken versucht hat. Diese Überlegung sollte sehr deutlich machen, dass von Unbefangenheit überhaupt nur dann die Rede sein kann, wenn man sein Empfinden so geschult hat, dass sich die subjektiven Antipathien und Sympathien im Grunde von vornherein überhaupt nicht mehr regen – dass man sie so unter Kontrolle hat, dass man sie nicht einmal unterdrücken braucht, weil sie eben gar nicht aufsteigen.

Aber unabhängig davon, ob man gegenüber dem von Mieke Mosmuller ausgesprochenen Urteil Antipathie empfunden hatte oder ohne Antipathie glaubt, es ablehnen zu müssen – es stellt sich die Frage nach der Wahrheit.

Aufgrund des Urteils muss man zu Fragen kommen – sonst kann man die Frage nach der Wahrheit nicht beantworten. Was Mieke Mosmuller schildert, kann einen zu folgenden Fragen führen:

Was ist Anthroposophie ihrer Wirklichkeit nach?
Was ist das Wesen dessen, wie heute „Anthroposophie gepflegt“ wird?
Was bedeutet es, sich „der Anthroposophie verbunden“ zu fühlen? Was ist mit diesem Gefühl gemeint?

Antworten vor der Frage

In der Regel werden diese Fragen nicht gestellt. Man fühlt sich einfach mit der Anthroposophie verbunden; man setzt voraus, dass dieses Gefühl eine reale Verbindung beweist; und man setzt voraus, dass man weiß, was Anthroposophie überhaupt ist. Aus all diesen unhinterfragten, im Grunde vor-bewussten Gefühlen und Voraussetzungen ergibt sich, dass keine Fragen auftauchen. Und aus dieser buchstäblichen Frag-Losigkeit ergibt sich für den betreffenden Menschen, dass die Anthroposophie „fraglos“, d.h. zweifellos lebendig und er konkret mit ihr verbunden ist...

Als ein Beispiel möchte ich die Urteile von Michael Eggert (www.egoisten.de) anführen, mit dem ich kürzlich einen E-Mail-Austausch hatte und der sich dann in einem Beitrag zu meinen „Ansichten“ geäußert hat. Eggert kämpft einerseits gegen das, was z.B. Gronbach verkündet, sucht aber andererseits immer wieder den Dialog, „um die gemeinsamen Grundlagen aufzufinden“. Man dürfe auch um der „Gesellschaft“ selbst willen den Faden nicht einfach kappen. Zwar hat auf Zweigabenden seinem Erleben nach niemand den eigentlichen Impuls der Anthroposophie direkt bemerkt und „fortgeschrittene Praktizierende“ hat er in der Gesellschaft seit langer Zeit nicht getroffen, allenfalls am Rande der Gesellschaft – aber all dies scheint für ihn die Lebendigkeit der Anthroposophie nicht in Zweifel zu ziehen. Vielmehr wirft er mir und mittelbar damit auch Mieke Mosmuller einen „pessimistischen engen Blick“ vor und beklagt dann allgemein die „Separatisten“, die fast alle „das Ende der Anthroposophischen Bewegung“ beklagen würden.

Im Anschluss an seinen Blog-Beitrag fügt eine Leserin hinzu, ich würde ihrer Meinung nach „irdisches Gefäß und Inhalt“ verwechseln; wenn der Krug zerbrochen sei, brauche man eben einen neuen. Nach ihrer Beobachtung sei Anthroposophie immer dann lebendig, wenn Menschen ernsthaft arbeiten würden: allein, im Freundeskreis oder auch im Zweig.

Was für Urteile liegen hier vor?

Zunächst wird auch hier zwischen Form („irdisches Gefäß“) und Inhalt unterschieden. Das flüchtige Urteil, ich würde diese beiden verwechseln, beruht darauf, dass jene Frau meinen eigenen Aufsatz überhaupt nicht gelesen hat, sondern nur auf eine bei Eggert zitierte Stelle eingeht. In meinen Aufsätzen zu dieser Frage unterscheide ich sehr wohl Form und Inhalt und verwechsle sie auch nicht. Wenn ich – mit Mieke Mosmuller – zu dem Urteil komme: Die Anthroposophie ist tot, dann meine ich damit: Sie wird auf Erden, durch Menschen, nicht verwirklicht, sie ist nicht da, es werden tote Formen gepflegt.

Dieses Urteil wird von jener Frau zunächst scheinbar geteilt, wenn sie im Anschluss vier Zitate Rudolf Steiners zur Frage des Zerfalls der Gesellschaft anführt.

Die weiteren Urteile beinhalten nun aber im Grunde zwei Aussagen:

„Eine Gesellschaft, deren Mitglieder immer wieder zueinander finden, ist für die Anthroposophie notwendig.“
„Anthroposophie ist immer dann lebendig, wenn Menschen sich ernsthaft um sie bemühen.“

1. Die Gemeinschaft – notwendig? Lebendig?

Betrachten wir zuerst das erste Urteil:

Es braucht für die Anthroposophie eine Gemeinschaft von Menschen. Hiermit ist die Frage der Form berührt.

Um diese Frage weiter auszuführen, nehme ich zwei Zitate, die die o.g. Frau selbst anführte:

„Wir können ja auch einen anderen Weg wählen, lauter Cliquen bilden, bei Teegesellschaften zusammenkommen und allenfalls uns noch zusammensetzen zu Vorträgen. Wir können es selbstverständlich auch so machen. Aber eine anthroposophische Bewegung kann selbstverständlich nicht in einer solchen Gesellschaft leben.“ (GA.258, S. 183).

„Eine gewisse Lieblosigkeit ist an die Stelle des gegenseitigen Vertrauens in der neuesten Phase der Anthroposophischen Gesellschaft getreten. Wenn diese Lieblosigkeit weiter überhand nimmt, dann wird eben die Anthroposophische Gesellschaft zerfallen müssen.“ (GA 290, S. 97).

Rudolf Steiner begründete in der Weihnachtstagung die Anthroposophische Gesellschaft neu – er wollte, dass sie eine Trägerin der lebendigen Anthroposophie sein könne. Und er warnte bis zu seinem Tod 15 Monate später oft und eindringlich davor, dass auch diese Form den Inhalt leicht verlieren könnte, wenn sie nicht belebt, durchseelt und durchgeistigt werden würde.

Weil die Gesellschaft für die Anthroposophie auf Erden so wesentlich ist, weil sie von Rudolf Steiner selbst begründet, gewollt und getragen wurde, kommt man als Anthroposoph zu dem Impuls, sich um die Pflege der Gesellschaft, die Pflege der Anthroposophie in der Gesellschaft zu bemühen.

Das Problem ist nur: Man handelt nicht aus Erkenntnis. Man stellt keine Fragen. Man fragt sich nach wie vor nicht: Was ist überhaupt Anthroposophie? Wie kann die Form den Inhalt tragen? Was spricht überhaupt dafür, dass die Weihnachtstagung nicht gescheitert ist? Welche Bedeutung hat Rudolf Steiners Tod? Welche Bedeutung haben die Geschehnisse in der Gesellschaft nach seinem Tod? Was zeigen die Geschehnisse heute?

Unhinterfragte Vorstellungen...

Man bemüht sich also um den Erhalt einer Gesellschaft, man bemüht sich um eine Gemeinschaft, um Dialog – kurz gesagt: der Erhalt der Gesellschaft wird zum Zweck (Eggert: „auch um der Gesellschaft selbst willen“). Man glaubt, mit dem Erhalt der Gesellschaft bliebe die Anthroposophie lebendig. Trotz des Bildes vom zerbrochenen Krug, trotz des eigenen Erlebens, dass „fortgeschrittene Praktizierende“ in der Gesellschaft nicht zu finden seien, der eigentliche Impuls der Anthroposophie nicht bemerkt werde, hält man an dem Streben nach Gemeinschaft fest, das heißt aber an der Vorstellung, der Krug sei wieder zusammenzusetzen und würde dann selbstverständlich auch wieder das Wasser enthalten. Es geht also um das Festhalten an einer unhinterfragten Vorstellung, einer Illusion – denn natürlich würde man sich nie etwas anderes vorstellen wollen, als dass es so wäre.

Dass man zwar um die Gesellschaft, die Gemeinschaft ringt, dass aber andererseits die einzelnen Menschen in dieser Gesellschaft vielleicht gar nicht gemeinschaftsfähig sind, dass Dogmen, Urteile übereinander, Machtimpulse, soziale Unfähigkeiten und Unwilligkeiten und anderes mehr dazu führen, dass die Gesellschaft oft nur ein nur durch die Mitgliedschaft zusammengehaltenes „Beieinander“ ist, wird nicht gesehen oder im eigenen Erleben und Urteilen nicht oder nur nachrangig berücksichtigt. Auch die Tatsache, dass viele ehemalige Mitglieder ausgetreten sind – aus solchen und anderen Tatsachen heraus, die dazu führen, dass sie die lebendige Anthroposophie in der Gesellschaft nicht (mehr) erleben –, wird nicht berücksichtigt, oder aber nur in der Form, dass man auch über diese ausgetretenen Mitglieder das Urteil fällt, sie hätten sich eben nicht treu genug bemüht, hätten einfach aufgegeben oder sich ebenfalls „separiert“.

Die „Gemeinschaft der Anthroposophen“ erscheint als einzige Möglichkeit und wichtigste Aufgabe, um der lebendigen Anthroposophie ein irdisches Gefäß zu schaffen. Da man aber nach dem Wesen der lebendigen Anthroposophie gar nicht wirklich fragt – denn man glaubt ja stets mehr oder weniger, zu wissen, was Anthroposophie ist, bzw. fühlt sich selbst mit ihr lebendig verbunden –, wird das Gefäß quasi zum Selbstzweck: „Wenn nur das Gefäß da ist ... dann ist die Anthroposophie auch da!“ Gemeinschaftsfähigkeit und Treue zur Gesellschaft wird also zu obersten Bürgerpflicht eines Anthroposophen.

...und Vorwürfe gegen „Separatisten“

Rudolf Steiner sagte, die anthroposophische Gesellschaft könne nur in herzlichster Verbundenheit, in Liebe und Begeisterung existieren. Anstatt nun aber aus dieser Wahrheit zu schließen, dass angesichts allenthalben zu erlebender fehlender Verbundenheit, Liebe und Begeisterung, angesichts von (stattdessen) Dogmatik, Antipathien, Machtkämpfen und Abstraktheit die Gesellschaft eben nur noch als tote Form – nur noch als Schein – existiert, kommt man zu einem vollkommen unlogischen Urteil. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf (nämlich dass die Gesellschaft gar nicht mehr existiert), wird allen Menschen, die in der Gesellschaft die Anthroposophie nicht finden können, der Vorwurf des Separatismus gemacht. Weil z.B. die ausgetretenen Mitglieder ausgetreten sind, weil Menschen auf das Tote hinweisen, weil Menschen sich „separieren“, würden sie den Zusammenhang der Gesellschaft gefährden.

Man bemüht sich entweder in gutem Glauben oder auch verzweifelt um die Form – und glaubt völlig naiv daran, dass der Inhalt noch vorhanden sei. Das Ganze erinnert an die moderne Medizin: Man kämpft um das Leben eines Menschen, der eigentlich schon tot ist, sei es, dass die Krisis offenbart hat, dass er sterben muss, sei es, dass sogar nur noch die Organfunktionen maschinell aufrechterhalten werden. Hier definieren Herz- und Hirntätigkeit, dass der Mensch noch „lebendig“ sei, dort definieren bestimmte „anthroposophische“ Beschäftigungen, dass die Anthroposophie noch lebendig sei.

Man schaut also nicht auf das Wesen der Anthroposophie, auf die Frage, was Anthroposophie ist und wie sich ihre Lebendigkeit offenbaren würde, sondern man schaut auf die Gesellschaft oder die „anthroposophische Bewegung“, in der sich die Lebendigkeit ja offenbart und offenbaren muss, weil man nie etwas anderes für möglich halten will.

"Gemeinschaftsfähigkeit" und Dialogbereitschaft gelten also als Kriterium dafür, ob man wirklich Anthroposoph ist. Denn wenn man diese Kriterien nicht aufweist, geht es einem offenbar nicht um die anthroposophische Gemeinschaft und damit nicht um die Anthroposophie. Offenbar aus diesem Impuls heraus sucht z.B. Eggert sogar mit Gronbach den Dialog: „um die gemeinsamen Grundlagen aufzufinden“. Es ist tief merkwürdig, wie selbst mit solchen Menschen noch die Gemeinsamkeit gesucht wird (um die illusionäre Form, die gemeinsame Gesellschaft aufrechtzuerhalten), die sogar dem Inhalt nach eine reine Anti-Anthroposophie verkünden.

Auf der anderen Seite wird dann jenen Menschen, die sich an einem solchen Dialog nie beteiligen würden und auch andere Dialoge irgendwann als unfruchtbar abbrechen, vorgeworfen, sie seien „Separatisten“. Man stellt gar nicht wirklich die Frage, warum diese Menschen den Dialog abbrechen und sich separieren, sondern man fällt ohne weitere Frage das Urteil, dass jemand, der sich absondert, nicht wirklich ein Anthroposoph sein kann. Nicht, dass er nicht theoretisch Recht mit seinen Urteilen haben könnte – doch die Tatsache, dass er sich separiert, beweist, dass er in Wirklichkeit die Wahrheit nicht haben kann, weil ihm die Liebe fehlt. Und er sieht ja auch gar nicht den Wert dessen, dass sich „so viele andere Menschen um die Anthroposophie bemühen“!

So dreht man sich im Kreise: Man fordert die Gemeinschaft und Dialogbereitschaft, und man setzt voraus, dass das Bemühen von so vielen anderen doch die lebendige Anwesenheit der Anthroposophie offenbare. – Aber warum separieren sich Menschen dann? Warum findet man „fortgeschrittene Praktizierende“ überhaupt nur am Rande der Gesellschaft? Warum? ... Es gäbe so viele Fragen zu stellen, wenn es einem wirklich um die Wahrheit ginge!

2. „Ernsthaftes Bemühen“ – ein Kriterium?

Mit den letzten Urteilen kommen wir zu dem zweiten Urteil, das wir anfangs fanden und nun weiter untersuchen wollen:

„Anthroposophie ist immer dann lebendig, wenn Menschen sich ernsthaft um sie bemühen.“

Wenn man dieses Urteil nimmt, würde dies bedeuten, dass Anthroposophie bereits in jedem ernsthaften Bemühen leben würde... Sinnt man eine Weile über diesen Satz nach, wird deutlich, dass merkwürdig viel an diesem Wörtchen „ernsthaft“ hängt. Es entfaltet eine geradezu magische Wirkung – man braucht nur „ernsthaft“ zu sein, und schon hat man die Anthroposophie lebendig gemacht oder an sich gezogen, verwirklicht...!

Nun wurde dieses Urteil ja im Zusammenhang damit geäußert, dass das entgegengesetzte Urteil, die heute auf Erden gepflegte „Anthroposophie“ sei tot, entkräftet werden sollte. Die Frage ist: Wo finden wir die Wahrheit?

Zunächst kann man an verschiedenes Anderes denken, wo man sich „bemühen“ kann. Wird man, wenn man ein wenig „ernsthaft“ auf dem Klavier übt, ein Pianist? Wird man, wenn man „ernsthaft“ den Fall und den Wurf von Steinen untersucht, ein Physiker? Nein, sondern man wird ein Dilettant, der allererste Erfahrungen auf dem jeweiligen Felde gemacht hat. Die Frage liegt also im Wesen der Ernsthaftigkeit, im Wesen des Übens, im Wie des Übens, im Verständnis dessen, was zu üben ist. All dies kann nicht ernst genug genommen werden. Und selbst dann fordert – wie Rudolf Steiner betonte – Anthroposophie, das heißt Geisteswissenschaft, vom Schüler mehr als irgendein anderes Studium.

Das „ernsthafte Bemühen“ ist also ein Scheinargument. Es garantiert weder die Ernsthaftigkeit, noch sagt es etwas über die Art des Bemühens, und erst recht nicht über den Erfolg des Bemühens. All dies müsste im Einzelfall angeschaut werden. Wenn man jedoch sagt, dass das Bemühen mit der Anwesenheit der lebendigen Anthroposophie bereits gleichzusetzen sei – und nichts anderes sagt man in dem hier untersuchten Urteil –, dann nimmt man die Anthroposophie schlicht und einfach nicht ernst genug, dann sind einem wohlige Illusionen lieber als die Wahrheit.

Mehrheitsurteile als Wahrheit?

Jeder kennt wohl ein wenig die von Habermas begründete Theorie des kommunikativen Handelns, die Diskursethik und so weiter. Es handelt sich um die ungeistige, anti-individuelle Vorstellung, dass gültige Normen im Diskurs gefunden werden müssen – und etwas weitergehend dann, dass sogar Wahrheit im Diskurs gefunden wird: Was mehrheitlich akzeptiert wird, ist die jeweils aktuell gültige, relative Wahrheit... In solchen Vorstellungen wird der Grundgedanke der Anthroposophie, dass man überhaupt zur realen Wahrheit kommen könne – und sei es als Einzelner, als vielleicht Einziger –, völlig verneint.

Das merkwürdig naive Urteil „Anthroposophie ist lebendig, wenn Menschen sich bemühen“ hängt nun aber eng mit dieser ungeistigen Theorie des „kommunikativen Handeln“ zusammen. Jenen Menschen, die in der Gesellschaft nicht die Anthroposophie erleben, wirft man Separatismus vor, und man hält weiterhin wie selbstverständlich an der Vorstellung und dem subjektiven „Erleben“ fest, dass Anthroposophie sehr wohl überall da lebendig sei, wo man sich um sie bemüht. Im Hintergrund spielt das „Wissen“ von der Wichtigkeit der Gesellschaft als „Träger“ (und notwendige Voraussetzung) der Anthroposophie, sowie die Sehnsucht, der Träger möge lebendig genug sein (die Voraussetzung also hinreichend). Und was dabei herauskommt, ist nichts anderes als die Habermas-Vorstellung: Die Mehrheitsverhältnisse entscheiden über die Wahrheit. Die Wahrheit zeigt sich im Streben der Vielen...

Es handelt sich um den naiven Glauben, dass eine wie auch immer strebende Anzahl von vielen Menschen doch in jedem Fall nicht vollkommen irren kann – in diesem Streben, in diesem „ernsthaften“ Handeln! –, dass also mit anderen Worten innerhalb dieser Anzahl, in dieser (scheinbaren) Gemeinschaft – ja vielleicht sogar irgendwie doch in allen Einzelnen von ihnen? – diese Anthroposophie leben müsse...

In ihrer starken Version beinhaltet diese Vorstellung tatsächlich das Urteil, dass in jedem Einzelnen, der sich bemüht, die Anthroposophie lebendig sei: Ich strebe, also bin ich Anthroposoph. Wenn ein solches Urteil in jedem Einzelnen lebt, wird es zum Urteil der Vielen, und dieses wird – ganz im Sinne der Diskursgesellschaft und des „kommunikativen Handelns“ – zur unhinterfragten „Wahrheit“, zum Dogma. Das Dogma ist, dass das „Streben“, der (scheinbar) „gute Wille“, für die Anthroposophie schon ausreichend ist – das bedeutet aber nichts anderes, als dass sie dadurch bereits magisch hereingerufen wird.

Bequeme Magie – oder Geistgeburt

Man sieht Anthroposophie auf diese Weise als etwas Äußeres, etwas, was man durch sein „Streben“ bereits vollgültig pflegt, um zumindest in ersten Schritten anfänglich ihr Reich zu betreten. Man sieht sie nicht als etwas, was man in sich verwirklichen muss und dessen Geistesleben man dann unmittelbar erkennt. Vielmehr hält man schon das Lesen und Sich-Beschäftigen, das anfängliche Verständnis, das erhebende, belebende Gefühl dabei, für lebendige Anthroposophie!

Man hat damit insofern Recht, als die Worte Rudolf Steiners aus diesem Leben herausgeschöpft sind, die Worte also so viel Leben enthalten, dass sie auch den Menschen, der sich ihnen ernsthaft zuwendet, seelisch beleben können. Man erlebt das Leben in diesen Worten, das Leben der Anthroposophie, und behauptet: also lebt die Anthroposophie unter uns! Insofern man das geistige Leben der Worte in ersten Anfängen erahnt und erspürt, ist dies wie gesagt sogar richtig. Es sind Lebenskräfte der Anthroposophie, die in diesen Worten enthalten sind und die eigene Seele beleben.

Doch was ist damit gesagt: „die Anthroposophie lebt unter uns“? Man rühmt sich, die Anthroposophie zu pflegen und sie unter sich lebendig zu machen – und dabei lässt man sich nur von der Anthroposophie beleben, genießt gleichsam das Leben, das in Steiners Worten lebt. Das Einzige, was man geschafft hat, ist, sie nicht völlig tot aufzunehmen, wie es die Gegner tun, die diese Worte von vornherein als „Schwachsinn“ abtun!

Worum es dagegen ginge, ist, die Anthroposophie so lebendig in sich zu machen, dass sie selbst in einem aufersteht, dass man nicht nur das Leben ihrer Worte spürt, den Inhalt des Gesagten verstehen kann, sondern dass das Erleben des Geistes sich in der eigenen Seele gebiert, dass man wirklich „Die Philosophie der Freiheit“ selbst schreiben könnte! Dann erst wäre Anthroposophie lebendig, dann erst würde man nicht nur von dem noch in Steiners Worten kräftig enthaltenen Leben zehren, sondern neues Leben, das heißt, neuen Geist, eigenen Geist hervorbringen!

Und dies ist nun ein Vorgang, der ganz den einzelnen Menschen betrifft. Erst der, der diese Geistgeburt verwirklicht, ist wahrhaft Anthroposoph. Und erst solche Anthroposophen könnten in gemeinsamer Arbeit Anthroposophie so pflegen, dass sie nicht nur verstehensmäßig an Texten arbeiten, sondern dass sich ihnen in der gemeinsamen Begegnung und Arbeit die geistigen Wahrheiten in wahrem Geist-Erleben immer tiefer erschließen. Erst solche Anthroposophen würden eine solche anthroposophische Bewegung bilden, wie Rudolf Steiner sie initiieren wollte. Es ist klar, dass nicht jedes Mitglied der Gesellschaft in diesem Sinne erwachen kann, aber es ist klar, dass es letztlich allein um dieses Erwachen geht – und dass dieses Erwachen heute überhaupt nicht zu finden ist.

Zusammenfassender Rückblick

Kehren wir zurück zum Ausgangspunkt: Die Wahrheitsfrage kann nicht von persönlichen Sympathien abhängig sein. Das heißt, auch nicht von Dogmen.

Wenn wir nochmals das erste der beiden genau untersuchten Urteile betrachten, können wir nun sehen, dass Rudolf Steiner eine lebendige Gesellschaft für eine lebendige Anthroposophie begründen wollte, dass aber die bloße Existenz einer Gesellschaft niemals eine Gewähr dafür sein kann, dass in ihr noch Anthroposophie lebt. So sehr dies und jenes auch gepflegt werden mag: Es kann trotz schönsten Scheins tot wie eine Mumie sein. Entscheidend ist die Verwirklichung der Anthroposophie im einzelnen Menschen – nur hier kann die Anthroposophie lebendig werden. Die Form für diesen lebendigen Inhalt muss sich dann ganz aus dem Geiste gestalten – es ist niemals umgekehrt möglich. Rudolf Steiner selbst hat die Formen immer wieder aus dem Geistigen heraus geschaffen. Wenn der Geist sich nach seinem Tod wieder zurückzog, weil er individuell nicht erfasst wurde, hilft auch alles Pflegen der Formen nichts, um den wirklichen Geist zurückzurufen – er muss als solcher ergriffen werden, oder er ist nicht anwesend.

Und betrachten wir noch einmal das zweite Urteil, sehen wir nun, dass eben mit einem bloßen „Streben“ und „Bemühen“ noch überhaupt nichts über die Anwesenheit der Anthroposophie gesagt ist – auch nicht, wenn sich noch so viele Menschen „bemühen“. Diese Vervielfachung kann nur sehr leicht zu einem undurchschauten Dogma führen, das dann einen mächtigen Wahrheitsanspruch erhebt. Doch die wirkliche Wahrheit besteht darin, dass die Anthroposophie nur im Einzelnen lebendig werden kann und dass sich an das „Bemühen“ viele, sehr ernste Fragen anschließen müssen, wenn auch von Früchten die Rede sein soll.

Wenn es also um die Frage geht, ob die Anthroposophie hier auf Erden tot ist oder nicht, muss jede Antipathie schweigen; muss auch das Habermas‘sche Dogma durchbrochen werden, dass irgendeine aus einer Vielzahl gebildete Wirklichkeit bereits auf die Wahrheit hinweise. Man kann mit noch so vielen Menschen einen Gedanken gemeinsam haben, er muss nicht der Wirklichkeit entsprechen.

Der Gedanke, dass „Bemühen“ und „Streben“ schon für das Lebendigsein der Anthroposophie ausreiche, entspricht nicht der Wirklichkeit, er ist nicht wahr. Die Wahrheit findet man dort, wo Gedanke und Wirklichkeit übereinstimmen. Die lebendige Anthroposophie findet man in der Sphäre der lebendigen Wahrheit, das heißt dort, wo Gedanke und Wirklichkeit ganz und gar eins werden, weil der Gedanke selbst wirklich wird, lebendiges Denken wird. Der „Gedanke“ selbst entspricht dann nicht mehr nur der Wirklichkeit, er wird so lebendig, wie die Wirklichkeit immer schon ist, er wird selbst lebendige Wirklichkeit und kann so mit welcher Wirklichkeit auch immer eins werden.

Das ist Anthroposophie.

Wo ist sie zu finden?