27.01.2009

Womit meint man es ernst? Von falscher Toleranz und mangelndem Verständnis

In meinem Bemühen um Verständigung mit einem Redakteur zur Frage des Wesens der Anthroposophie und zu Gronbachs „Missionen“ schrieb ich ihm – eingehend auf seine Antwort zuvor – den folgenden Brief. Danach wollte er die Sache auf sich beruhen lassen...


[...] Nun verstehe ich zumindest, wo der unglaubliche Unterschied herkommt, der unsere Sichtweisen trennt und vor dem ich bisher nur erschüttert davorstand. [...] Jetzt habe ich verstanden, dass Du bei Gronbach immer neu schaust, was er sagt. Das erklärt mir, dass Du aus Deiner Sicht auf meine Frage, was an zwei Dritteln seines Buches nicht reine Anti-Anthroposophie ist, eigentlich gar nicht antworten musst. Du kannst das eine völlig ablehnen und Gronbach im nächsten Moment doch wieder „positiv“ gegenübertreten. Ich habe das nicht verstanden, ich verstehe es noch immer nicht, aber ich dachte zuvor, Du siehst gar nicht, was Gronbach da macht. Die Abschaffung ganzer Wesenheiten (und nicht nur irgendwelcher, sondern es geht um die zentralen Wesenheiten der Weltentwicklung) ist die reine Vernichtung der Anthroposophie.

Falsch verstandene „Unbefangenheit“

Mir ist jetzt klar, dass Du die Abschaffung, die Unterstellungen usw. deutlich siehst, aber vielleicht anders beurteilst. Du sprichst von „merkwürdig“ – und Du schaust bei jeder neuen Äußerung neu... Das ist es eben, was ich nicht verstehe. Wenn man die Anthroposophie entkernt, ihr in dem Sinne wirklich das Herz herausschneidet, dann ist es doch wohl unwesentlich, ob man im nächsten Moment etwas „Vernünftiges, Überlegenswertes“ sagt?

Empfindest Du es wirklich einfach nur merkwürdig, wenn Gronbach sagt, es gibt den Christus nicht, oder liegt in diesem Wesen nicht auch für Dich der zentrale Sinn der Erdenentwicklung? Und kann jemand, der den Christus leugnet, abschafft und ihn zu einer Art PR-Trick erklärt, in irgendeiner Weise als Anthroposoph bezeichnet werden? Wenn Du dann sagst, Du schaust bei jeder Äußerung Gronbachs neu, dann habe ich das Gefühl, Dir ist eine „überlegenswerte“ Gronbach-Äußerung wichtiger als der (abgeschaffte) Christus selbst! Wie empfindest Du das Gewicht von Gronbachs Leugnung dieser Wesenheiten im Vergleich zu anderen „bedenkenswerten“ Äußerungen von ihm?

Ich will die Dinge nicht als Vorwurf formulieren, versuche sie so aufzufassen, dass sie rein mein Empfinden beschreiben, auf das Du aus Deiner Sicht reagieren kannst und sagen: Ich sehe es aber so – oder: nein, Du hast mich falsch verstanden. Also, meinem Empfinden nach ist das, was Du beschreibst, eine falsch verstandene „Positivität“ und „Unbefangenheit“. Richtig ist, dass man das „Unmögliche“ für möglich halten soll – man soll es z.B. für möglich halten, dass jemand, der lebenslang gelogen hat, heute beginnt, die Wahrheit zu sagen... Man soll nicht mit einem festen Urteil das „Wunder“ unmöglich machen, man soll von einem Moment auf den anderen verzeihen können usw. Aber – dafür muss das Wunder erst einmal geschehen!

Unbefangenheit besteht nicht in Toleranz nach dem Motto: „Du sagst zwar die ganze Zeit furchtbar schlimme Dinge, aber das, was Du jetzt gerade gesagt hast, war durchaus anregend.“ Letzteres mag ja sein, aber es kann doch nicht dazu führen, dass man das furchtbar Schlimme einfach toleriert und sich darüber gar kein Urteil bildet, außer vielleicht, es sei „merkwürdig“? Deswegen ist mir eigentlich noch immer die Frage, ob bzw. warum Du in dem, was Gronbach in zwei Dritteln seines Buches sagt, nicht die „Entkernung“ der Anthroposophie siehst. Und wenn man sich seinen Blog anschaut, dann wird erst recht deutlich, dass er lieber heute als morgen einen New-Age-Ashram eröffnen sollte, der sicher vielen Menschen wunderbare Gefühle des Einsseins usw. vermittelt, aber dass all dies doch das Gegenteil von Geisteswissenschaft (Anthroposophie) ist!

Der „Fanatismus der Toleranz“

Selbst an Ramon Brüll verstehe ich nicht, wie er sich sozusagen über „ewiggestrige Anthroposophen“ aufregen kann, wenn er einem dezidierten Nicht-Anthroposophen wie Rüdiger Sünner das Wort gibt und eine solche „Offenheit“ als „Sprung ins 21. Jahrhundert“ verkauft [und dann Reaktionen kommen]! Natürlich sollte man sich als Anthroposoph nicht vor der Welt abschließen, sondern sich gerade öffnen, natürlich sollte man auch erleben, wie die Welt über die Anthroposophie denkt usw. – aber das ist doch etwas anderes, als sich von einem Nicht-Anthroposophen sagen zu lassen, wie Anthroposophie gepflegt werden müsse – in kritischer Distanz zu Steiner, in einer Neuübersetzung in eine modernisierte Sprache und, und, und.

Ob unser Austausch (über diese und andere Fragen) produktiv ist, hängt davon ab, ob wir dadurch unser Verständnis vertiefen können. Dann könntest Du in unserem Austausch ebenfalls Produktivität erleben. Und Verbindlichkeit.

„Anregung im Anderssein“ vielleicht nicht unbedingt – weil Anthroposophie nicht im Anderssein an sich besteht. Im Geiste findet man sich mit Sicherheit wieder – wenn beide den Geist suchen... Geisteswissenschaft ist gerade das Vereinigende. Aber nur wenn sie ernst genug genommen wird. Es ist heute natürlich die Tendenz da, das Anderssein als solches zu zelebrieren. Das ist alles gut und schön, solange man weiß, auf welcher Ebene man sich bewegt. Wenn es um die Anthroposophie geht, muss man sagen können, was Geisteswissenschaft ist – in diesem Punkt ist Toleranz Unsinn. So wie ein Waldorfschüler im Werkunterricht nicht einfach der Illusion unterliegen kann, er sei ein Meister, sondern vom Werkstück und der harten Realität belehrt wird, wie weit sein Können reicht, kann man eben auch nicht ohne Folgen alles zu „Anthroposophie“ erklären und glauben, die Anthroposophie umfasse schon alles, was man aus Freude am Anderssein des Anderen unter ihrem toleranten Mäntelchen treibe.

Was ist nun Anthroposophie?

Jeder glaubt zu wissen, was Anthroposophie sei. Daher entsteht ja überhaupt erst meine Frage, was die Menschen unter Anthroposophie eigentlich jeweils wirklich verstehen. Von Geisteswissenschaft spricht dann eigentlich fast niemand. Und das ist mein Hauptkritikpunkt.

Sicher geht es darum, Anthroposophie nicht zu verstehen, sondern zu leben. Sicher geht es darum, sie zu einer Lebenshaltung zu machen, Anregungen Rudolf Steiners aufzugreifen, die eigenen Gewohnheiten zu überprüfen und aus all diesen Anregungen heraus auch seine Begegnungen mit der Welt anders zu gestalten – vom Gegenstand bis hin zum anderen Menschen. Und doch gibt es ein großes Aber.

Dieses Aber liegt in der Frage, wie ernst man die Anthroposophie wirklich nimmt. Das heißt, was man als ihre wesentliche Aufgabe erkennt und wie energisch man diese ergreift. Davon hängt ab, was all das in der vorigen Aufzählung Gesagte wirklich bedeuten kann.

Es ist ja eigentlich leicht, zu sagen, ich nehme Rudolf Steiners Übungen als Anregungen, ich versuche, auf die Dinge anders zu schauen, meine Beziehungen anders zu gestalten. Die Frage ist doch: Wo kommt die Veränderung her? Und in welche Richtung soll die Veränderung gehen? Was für neue Fähigkeiten sollen ganz konkret entwickelt werden? Man kommt so zur Frage der Übung und dessen, was geübt werden soll. Sicher können schon beeindruckende Veränderungen eintreten, wenn man im alltäglichen Leben versucht, immer bewusster zu sein. Die Veränderungen können so beeindruckend sein, dass man sie für das Eigentliche nimmt.

Doch die Quelle für jede eigentliche Veränderung und der allererste Beginn der Anthroposophie (Geisteswissenschaft) ist die Schulung und Entwicklung des reinen Denkens. Erst dadurch öffnet sich das erste Tor zur geistigen Welt, entwickelt sich auch jener zweite, höhere Mensch, von dem Rudolf Steiner spricht. Dieses reine Denken kann nun jedoch nicht im Alltag (in Neu-Englisch: „work in progress“) entwickelt werden, sondern nur durch z.B. eine innere Arbeit an der „Philosophie der Freiheit“, durch Konzentration und Meditation. Und erst mit der allmählichen Entwicklung dieses reinen Denkens verwandelt sich auch der gesamte Alltag in einer Weise, die viel grundlegender ist, als jene, die möglich ist, wenn man hier und da im Leben selbst Anregungen Rudolf Steiners aufgreift und seine Lebenshaltung davon verwandeln lässt.

„...dass man mit dem Erleben des Geistes ernst macht“

Anthroposophie will ja alles verwandeln, von Grund auf, durch und durch. Sie will eine Lebenskraft werden, aber eine Kraft, die die Welt erschüttert, die Berge versetzt – die also nicht sanft und leise die Lebenshaltung verwandelt, sondern die erschütternd real einen zweiten, höheren Menschen hervorbringt. Im pädagogischen Jugendkurs sagt Rudolf Steiner:

„Die Leute kämpfen heute kontra Anthroposophie – und manchmal auch pro – recht materialistisch, das heißt geistlos, während es sich darum handelt, daß man mit dem Erleben des Geistes ernst macht. [...] Also das möchte ich einmal ganz deutlich ausgesprochen haben, meine lieben Freunde: bei dem, was ich hier meine und jemals gemeint habe, handelt es sich nicht darum, vom Geist zu reden, sondern darum, aus dem Geiste heraus zu reden, im Reden selber den Geist zu entwickeln. Das ist dann der Geist, der erst wirklich erzieherisch wiederum in unser totes Kulturleben hereinschlagen kann.“

Es geht also um die reale Entwicklung des Geistes, des Geist-Erlebens. Das heißt, man kann eigentlich sehr genau sagen, wo man anthroposophisch tätig ist und wo nicht: Nur dort, wo man aus dem Geistigen heraus tätig ist! Und wo ist man das? Nirgends... Ja, man strebt, aber das ist der Punkt: Wonach strebt man? Nach dem Geist kann man nur streben, wenn man in der energischen Meditation nach der Entwicklung dieses höheren Denkens strebt, das Rudolf Steiner beschreibt. Wenn man dies nach und nach entwickelt, dann kann man auch danach streben, dieses Denken und seine Früchte auch ins Alltagsleben hinüberzutragen – aber der zweite Schritt vor dem ersten ist unmöglich. Man kann nichts in den Alltag hineintragen, was man noch gar nicht hat. Wenn man dieses jedoch nicht als Hauptsache erkennt, wird man sein ganzes Leben lang nicht dasjenige hineintragen können, um das es eigentlich ginge – sofern es um Geisteswissenschaft geht, um die wirkliche Durchgeistigung der Welt.

Das ist aber mehr, als die eigenen Gewohnheiten zu überprüfen und einmal zu ändern zu versuchen, die Beziehungen bewusster zu gestalten zu versuchen, Interesse zu entwickeln, auf das Geistige zu vertrauen... Das alles versuchen fast sämtliche New-Age-Richtungen auch, das versucht auch Gronbach, das versuchen auch viele andere Menschen. Es führt durchaus zu einer Verwandlung, durchaus ganz in dem Sinne, wie es in der Absicht auch angedeutet ist – aber es führt nicht zum wirklichen Geist. Das heißt, es bleibt in seiner Wirksamkeit beschränkt – und eben deshalb kann man sich mit Recht nie sicher sein, dass man „ab jetzt anthroposophisch tätig ist“.

Eine Lügenwelt „anthroposophischer“ Aktivität

Anthroposophie ist ein Erkennen, Erleben und Handeln aus dem Geist heraus. Das ist ihr Anspruch – nach dessen Realisierung man auch wiederum nur streben kann. Aber es ist ganz klar, wonach man streben muss: Nach dem Geist, d.h. zunächst danach, dass man sein Denken so verwandelt, dass man mit diesem Denken, in diesem Denken den tätigen Geist erleben kann.

Es wird aber immer so getan, als hätte man diesen Geist schon – oder als käme es auf die verschiedensten anderen Dinge an. Schau Dir die anthroposophische Bewegung doch einmal an: Alle reden über Anthroposophie, das Geistige usw., aber wer redet und handelt denn aus dem Geist? Da hat man zahllose Begegnungen, Beziehungen, Tagungen, Zusammenkünfte, Mysteriendramen usw., und alle basieren auf der Vorstellung, man bewege sich mitten in der Anthroposophie. Aber niemand spricht aus dem Geiste. Und niemand verweist auf die Notwendigkeit, diesen Geist zu entwickeln, weil alle so tun, als hätten sie ihn schon. Das ist eine Lüge. Und wenn vielleicht Einzelne sagen, sie sind „auf dem Wege“, so ist es zumindest in dem Moment immer noch eine Lüge bzw. Phrase, denn auf dem Wege ist man sozusagen nur in der Meditation. In jedem Fall kann man, wenn man erst „auf dem Wege“ ist, Anthroposophie nicht wirklich vertreten – es tun aber alle (so)... Vertreten kann man nur den immer wiederkehrenden Hinweis, wo die Anthroposophie zu finden wäre. Auch alles, was man sonst ausspricht, müsste so gesagt sein, dass man weiß: Ich spreche jetzt über Anthroposophie, aber eigentlich ist das ein Ding der Unmöglichkeit, jedenfalls verwechselt es bitte nicht mit der wirklichen Anthroposophie...!

Das also ist es, was ich erlebe. Ich erlebe eine Welt „anthroposophischer Aktivität“, die mit Anthroposophie nichts zu tun hat, sondern eine Illusion aufbaut, weil jeder sich mit dem anderen einig ist, dass es eben doch Anthroposophie sei. In dieser Welt geht es um Beziehungen, um das Reden „über“, und je mehr sich alle einig sind, desto mehr darf man empfinden, man pflege, vertrete und entwickele die Anthroposophie – man sei gemeinsam auf dem Weg, rege sich gegenseitig an usw. Und gemeinsam vergisst man die Hauptsache. Man vergisst das Wesen der Anthroposophie, vergisst, dass sie Geisteswissenschaft ist, und dass überall, wo diese Geisteswissenschaft und ein wahres „aus dem Geiste“ noch nicht verwirklicht ist, Anthroposophie einfach noch nicht da ist!

Ein kleines Symptom und Beispiel unter vielen ist dann etwa die Aufführung des Mysteriendramas, die Christian Richter besprochen hat. Es mag sein, dass es intelligent, einfallsreich, bemüht, mit innerer Intensität und eindrücklich inszeniert und aufgeführt wurde, doch das alles ist nicht das, worum es geht. Christian Richter beschreibt, dass der Geist nicht zu erleben ist, dass es nicht aus dem Geiste gespielt wird – und dass man nur dank Catherine Ann Schmid zumindest ein Empfinden dafür gewinnen kann, in welche Richtung es eigentlich gehen müsste...