12.02.2009

Geistloser Streit um Prokofieff und Judith von Halle

Obwohl das „Goetheanum“ in der Regel nur noch Buchbesprechungen von maximal einer Seite zulässt, erschienen in der Ausgabe vom 6.2.2009 gleich zwei ausführliche (insgesamt über mehr als drei Seiten gehende) Besprechungen des neuen Buches von Sergej O. Prokofieff, dessen Anhang von mir hier am 30.1.2009 besprochen worden war (>> siehe hier). Im folgenden zeige ich detailliert die Problematik beider Aufsätze.


Inhalt
Originaltext 1 (Heinz Zimmermann)
Originaltext 2 (Dietrich Rapp)
Das verdrängte wahrhaftige Empfinden
Komplexität und Autoritätsglaube
Unverständnis des Geistigen und suggestive Behauptungen
Gesteigerte Irreführung



Die beiden Aufsätze von Heinz Zimmermann und Dietrich Rapp kommen im Grunde zu entgegengesetzten Resultaten, was einmal mehr zeigt, wie es um die Anthroposophie bestellt ist. Es herrschen Meinungen, Vorstellungen, Anschauungen, Gedanken – und diese können natürlich in jede beliebige Richtung gehen und dennoch den Anschein erwecken, mit der Anthroposophie in Übereinstimmung zu stehen. Die erste klare Erkenntnis müsste jedoch sein, dass mit alledem gewissermaßen noch nicht einmal der Vorhof der Anthroposophie betreten ist! Anthroposophie beginnt erst da, wo sich in einem gereinigten Denken Wahrheit durch ihren eigenen Zusammenhang zu offenbaren anfängt. Der folgende Aufsatz ist ein Versuch, zumindest die gröbsten Irrtümer und Abstraktionen der beiden erwähnten Aufsätze aufzuzeigen.

Originaltext 1 (Heinz Zimmermann)

In seinem mit der Überschrift „Gründliche Aufklärung“ betitelten Aufsatz schreibt Heinz Zimmermann unter anderem:

„Das Geheimnis der Auferstehung hat die Christen zu allen Zeiten zutiefst beschäftigt und zu den verschie­densten kontroversen Überzeugungen ge­führt. Auch innerhalb der Anthroposophie gehören Wesen und Bedeutung Christi zum Zentralsten, aber auch Intimsten und damit Verletzlichsten. Missverständnisse und fundamentalistische Haltung entste­hen leicht, weil notgedrungen jeder sein durch Erziehung und religiöse Bedürfnisse geprägtes Christusbild in die anthroposo­phische Bemühung hineinträgt.
Zwei Erscheinungsformen sind es, die dieses Bild vor allem prägen und leicht da­ran hindern, aus der modernen Geistes­wissenschaft heraus zu einem unverstell­ten Verständnis und daraus zu einer christlichen Lebenspraxis zu kommen. Das eine ist der 2000‑jährige traditionsbela­dene kirchliche Vergangenheitsbezug, das andere die latente Sehnsucht nach einer sinnlich‑materiellen Manifestation des Christuswesens. [...]
Auf diesem Hintergrund legt Sergej O. Prokofieff sein neues Buch vor, die Frucht langjähriger Vortragstätigkeit und gründ­licher Verarbeitung des Gesamtwerkes Ru­dolf Steiners. [...]
Es stellt für den Leser eine hohe Anfor­derung dar, all diese gewaltigen Dimen­sionen von Gipfel zu Gipfel mitzuverfol­gen, ohne die Bodenhaftung zu verlieren oder aber alles ins Prosaische herunterzu­ziehen. Der große Respekt des Verfassers selbst, der gegenüber der Thematik durch­wegs zu spüren ist, kann dabei eine Hilfe sein.

Der Anhang ‚Die Kräfte des Phantoms und die Stigmatisation‘ knüpft vor allem an das erste Kapitel an. Der Verfasser ar­beitet, sich wiederum eng an Rudolf Stei­ners Werk orientierend, heraus, dass die Phänomene der Stigmatisation, insofern sie dauernd erscheinen, weder mit dem umgewandelten Phantom noch mit dem christlich‑gnostischen Einweihungsweg unmittelbar zu tun haben. Am Beispiel von Katharina von Emmerich zeigt er aus­führlich, dass die dinghaften sinnlichen Schilderungen des Christuslebens an der Zeitenwende einem leibgebundenen Be­wusstsein entstammen und dem anthro­posophischen Weg einer leibfreien Geist­begegnung, wie sie schon bei Novalis auftritt, völlig widersprechen. Sie bieten sinnesgesättigte Bilder einer zweitausend­jährigen Vergangenheit und verstellen da­durch den Blick auf den gegenwärtigen Christus, der auf ganz neue Weise geistig real gesucht und gefunden werden muss.
[...] Anthroposo­phie ist die Sprache des Christus in unse­rer Zeit.
Der Leser kann diesem Anhang gegen­über den Eindruck haben, ein Franz von Assisi, eine Katharina von Emmerich, eine Theresa von Konnersreuth seien doch zu einseitig beschrieben. Es geht dem Verfas­ser aber mit dem historischen Kontext ein­zig darum, auf die Gefahren aufmerksam zu machen, die aus einem Verkennen von Rudolf Steiners Werk erwachsen und in­nerhalb der anthroposophischen Bewe­gung von Anfang an auch tatsächlich vor­handen waren, wie er mit dem Zitat von Carl Unger zeigen will.
Zum Schluss stellt sich dem Leser in Be­zug auf diesen Anhang die Frage, ob es wohl möglich ist, über so eine zentrale Frage in eine offene geistige Auseinandersetzung zu kommen, in kompromissloser Erkenntnissuche bei gleichzeitigem Res­pekt und seelischer Toleranz dem Mit­streiter gegenüber.“ 

Originaltext 2 (Dietrich Rapp)

Dietrich Rapps Aufsatz „Eine Schicksalsfrage“ geht dann in eine ganz andere Richtung:

„Das neue, hier vorzustellende Buch von Sergej O. Prokofieff „möchte Zeugnis davon ablegen, zu welcher Verständnistiefe der Ereignisse der Zei­tenwende man aufgrund der Geistesfor­schung Rudolf Steiners kommen kann“. [...]
Das erste Kapitel, ‚Das Mysterium von Golgatha und die geistige Kommunion‘, spricht von der „Rettung des menschli­chen Ich“ durch die Schaffung des Aufer­stehungsleibes durch Christus, der den Leib des Jesus von Nazareth „in das Wort verwandelt hat“ (S. 10). Prokofieff führt aus, dass der Weg, „auf freie und bewusste Art zum erkennenden Erleben der Wirk­lichkeit der Auferstehung“ zu gelangen, in der „inneren Arbeit mit dem Grund­steinspruch“, den Rudolf Steiner auf der Weihnachtstagung 1923 zur Neubegrün­dung der Allgemeinen Anthroposophi­schen Gesellschaft gegeben hat, zu suchen ist. [...]
Die Darstellungen dieser drei Kapitel vermitteln tiefe, die religiöse Empfindung anrührende Einsichten in das christliche Mysterium der Auferstehung. Der Leser folgt ihnen, dankbar für die große Über­sicht, gerne. Die wiedergegebenen umfas­senden und komplexen okkulten Zusam­menhänge eröffnen einen Horizont, in dem das Streben nach einer bewussten Verbindung mit dem Christus‑Impuls Ori­entierung finden kann.

Doch im Grunde bleibt das Buch in sei­nem kompendialen und apodiktischen Stil, bei allem Pathos des Mitlebens mit den Inhalten, begrifflich theoretisch; es argumentiert im Kontext der Rudolf‑Stei­ner‑Gesamtausgabe und versucht darin durch gedankliche Schlussfolgerungen, auch neue okkulte Zusammenhänge zu er­arbeiten. Mir fehlt jedoch das Erlebnisele­ment in den erkannten Inhalten. Ich ver­misse die inneren Erfahrungen des intellectus intuitivus, der sich in An­schauungen zu öffnen vermag, die kon­kreten Wahrnehmungen der Inhalte, die, ohne dieses Element, in Begriffsform nur bezeichnet und verkündet werden. [...] Er unterstreicht mit einer durchgängig mahnenden Geste, was ja doch selbstverständlich ist: dass nur ein sinnlichkeitsfreies, leibunabhängiges Den­ken auf dem (anthroposophischen) Schu­lungsweg sich geeignet macht, ein sach­gemäßes, bewusstes Verhältnis zur geistigen Welt einzugehen.
Doch schließt dies Wahrnehmungen (Offenbarungen) im Raum des intuitiv Ge­dachten nicht aus, sondern fordert sie, wenn die geistige Wirklichkeit erreicht und erfahren werden soll. Was macht denn die sinnliche Wahrnehmung insbe­sondere so verdächtig, dass jene ostenta­tive Mahnung nötig erscheint? [...] Als ob sich das Sinnliche nicht geistig berüh­ren ließe... [...]
[Das] ausführliche, letzte Kapitel über ‚Die Kräfte des Phantoms und die Stigma­tisation‘ artikuliert vor dem Hintergrund des exklusiven Anspruchs des ‚wahren‘ Christus‑Verständnisses und der rigiden Abweisung alles ‚Sinnlichen‘ eine resolute Polemik gegen die ‚Visionen‘ stigmatisier­ter Menschen von der Zeitenwende und warnt am Ende in einem kompromisslo­sen Ton vor diesen ‚Abwegen‘. Ihre Schil­derungen seien äußerlich, zu sinnlich, zu leibhaftig und katholisch; sie entsprängen einem somnambulen, leibgebundenen Be­wusstseinszustand und seien daher unge­eignet für die rein geistige, freie und be­wusste Beziehung zu Christus. Die Polemik mündet schließlich in dem radikalen Ver­dikt Prokofieffs: dass das „tief unchristliche Element eines solchen Zugangs [in „Fern­gesichten“] auch zu den Ereignissen der Zeitenwende“ (S. 183) „in Wirklichkeit nicht zu Ihm [Christus] hin, sondern von ihm fort“ (S. 193) führten.

Diese Exkommunizierung ausgewiese­ner Christen und pietätlose Missachtung der leidvollen Lebensgeschichten stigma­tisierter Menschen (deren karmische Gründe in früheren Erdenleben man doch bedenken könnte) erschrecken mich! Wie kommt es zu dieser Anathematisierung? Warum warnt Prokofieff so heftig vor den beiden stigmatisierten Persönlichkeiten früherer Jahrhunderte, die er ausdrücklich nennt, vor Anna Katharina Emmerich (1778‑1824) und Therese Neumann (1898‑1962), die doch in der anthroposo­phischen Bewegung keine Rolle spielen und von daher auch keine ‚Gefahr‘ be­deuten? [...] Wer behauptet denn die Gleichstellung der Schauungen einer Anna Katharina Emme­rich mit den geisteswissenschaftlichen For­schungen Rudolf Steiners, vor der Proko­fieff warnen zu müssen glaubt? [...] Bedeuten Unter­schiede in den Darstellungen, die anderthalb Jahrhunderte auseinanderlie­gen, zudem durch einen einschneidenden Epochenwechsel (Ende des Kali Yuga) getrennt, und die sich auf verschiedenen Erkenntnisebenen bewegen, denn gleich Widersprüche? Was ist das für ein unge­schichtliches und unmethodisches Den­ken?
Wenn Prokofieff mit der Sicherheit sei­ner anthroposophischen Nomenklatura erklärt: „Mit der Anthroposophie und ih­ren geistigen Forschungen hat das alles nichts zu tun“ (S. 174), dann fragt sich der Leser: Wen meint er denn damit, wo doch Anna Katharina Emmerich die An­throposophie nicht kennen beziehungs­weise mit ihr in einen Widerspruch treten konnte? [...]

Der Beobachter der gegenwärtigen an­throposophischen Szene durchschaut aber rasch den Hintergrund der Polemik gegen die offensichtlich nur vorgeschobenen ‚Gegner‘: die eigentliche Zielrichtung des Angriffs, der die Anthroposophie zu ver­teidigen vorgibt, geht auf die Persönlich­keit Judith von Halles, Mitglied der An­throposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, die mit einer Reihe von ‚Beiträgen zum Verständnis des Christus‑Ereignisses‘ auf der Grundlage konkreter Erfahrungen, die sich ihr nach ihrer Stigmatisation (Ostern 2004) ergeben haben, und der geisteswis­senschaftlichen Durchdringung derselben auf dem Boden der Anthroposophischen Gesellschaft hervorgetreten ist. Dass Pro­kofieff uneingestandenermaßen in erster Linie mit Judith von Halle abrechnet, wird daraus deutlich, dass er mit seiner Kritik die geistigen Grundlagen der Anthroposo­phie auf dem Erkenntnisweg zu Christus schützen will, was nur ihr gegenüber Sinn macht, weil nur sie aus und mit diesen Grundlagen arbeitet. Das Buch Prokofieffs nennt sie und ihre Forschungen aber mit keinem Wort – obwohl es in der Sache auf sie abzielt. So ist es ein unehrliches Buch! [...]

Die vorgeschobene Kritik zieht in keiner Weise. Die Art der Darstellung Judith von Halles, die eigene Erfahrungen und geis­teswissenschaftliches Denken auf dem Boden des anthroposophischen Schulungsweges verbindet und die Judith von Halle selbst in methodischen Vor‑ und Nachbe­merkungen ihrer ‚Beiträge‘ über diese bei­den Erkenntnisebenen unmissverständlich deutlich macht, spricht von einer gänz­lich anderen, vollbewussten Erkenntnis­weise. [...]
Warum opponiert Prokofieff mit der wiederholten Ausschlie­ßung: „Nicht mit physischen Sinnen“, wo doch der Auferstehungsleib eine Ver­wandlung, eine Verklärung des physischen Leibes anlegt? [...] Die ‚Gesichte‘ stigmatisierter Menschen schei­nen ‚sinnlich‘ – sind sie deshalb Ausge­burten des physischen Leibes? Welchen Einfluss hat der Auferstehungsleib auf die ‚Sinnlichkeit‘ des Leibes? [...] Prokofieff, hier Vertreter des östlichen Christen­tums, sieht in den offenen, blutenden Wundmalen als bleibenden Stigmata des Leidens eine ‚katholische‘ Indoktri­nation (S. 218f.), die er ablehnen muss; aber das Blut, das aus den Wunden Christi strömt, ist die Ausgangssubstanz der ganzen Gralsgeschichte – sollte das nur von symbolischer Bedeutung sein?
Was wissen wir denn von den außer­ordentlichen Schicksalen der (bleibend) stigmatisierten Menschen, von ihren Er­lebnissen und Tätigkeiten (Übungen) in früheren Erdenleben mit dieser Konse­quenz der Stigmatisation und den ‚Ge­sichten‘ hinsichtlich der Ereignisse zur Zeitenwende? Und was berechtigt uns, diese zu ignorieren oder gar abzuweisen – statt zuzuhören, was sie sagen, wenn sie in bestimmten geschichtlichen Mo­menten und Gemeinschaften auftreten? [...]

Das verdrängte wahrhaftige Empfinden

In Zimmermanns Aufsatz fällt als erstes die Formulierung auf, dass „notgedrungen jeder sein durch Erziehung und religiöse Bedürfnisse geprägtes Christusbild in die anthroposo­phische Bemühung hineinträgt.“ Die wahrhaft anthroposophische Bemühung beginnt erst dort, wo man all diese Bilder und sonstigen Prägungen ablegen kann! Dass dies fast überhaupt nicht geschieht, macht die Tragik der heutigen „Anthroposophie“ aus.

Vieles von dieser Tragik zeigt auch der folgende Absatz: „Es stellt für den Leser eine hohe Anfor­derung dar, all diese gewaltigen Dimen­sionen von Gipfel zu Gipfel mitzuverfol­gen, ohne die Bodenhaftung zu verlieren oder aber alles ins Prosaische herunterzu­ziehen. Der große Respekt des Verfassers selbst, der gegenüber der Thematik durch­wegs zu spüren ist, kann dabei eine Hilfe sein.“

Was bei Rudolf Steiner tatsächlich gewaltige Dimensionen sind, wird hier zu (sicher im besten Willen) bemühten Phrasen, angewandt auf die abstrakten Zusammenstellungen von Prokofieff, die selbst ganz real Opfer beider Tendenzen sind: Sie verlieren die Bodenhaftung und sie fallen ins Prosaische ab. Das Gewaltige dessen, worüber da gesprochen wird, ist nur noch Schein – es ist schein-heilig, weil es in Prokofieffs Zusammenstellungen ganz abstrakt wird. Natürlich versucht man, im eigenen Gefühl gegenüber diesen Worten Rudolf Steiners über das Christus-Wesen eine heilige Scheu zu empfinden – und läuft Gefahr, dann auch die eigene Schein-Heiligkeit nicht mehr zu bemerken. Angesichts der Abstraktion muss man vielmehr die wahrhaftige Empfindung wirklich erleben können, die einem sagt: „Das ist eine Abstraktion. Hier kannst Du keine heilige Scheu empfinden!“ – Als ob der „große Respekt“ Prokofieffs, der „gegenüber der Thematik durchwegs zu spüren ist“, einem eine Hilfe sein könnte! Gegenüber diesem heiligen Thema wäre wohl mehr notwendig, als „großer Respekt“ – aber auch diese Worte zeigen im Grunde die Hilflosigkeit des Gefühls, wenn es sich den Ausführungen Prokofieffs nähert und verzweifelt versucht, die „richtige Stimmung“ hervorzurufen.

Bei der Besprechung des Anhangs über die Frage der Stigmatisation stellt Zimmermann richtig fest, dass Prokofieff, „sich wiederum eng an Rudolf Steiners Werk orientierend“ zeigt, dass Stigmata mit dem Phantom oder dem christlichen Einweihungsweg nichts zu tun haben und sinnliche Schilderungen der Zeitenwende einem leibgebundenen Bewusstsein entstammen und den Blick auf den gegenwärtigen Christus, der geistig real gefunden werden muss, verstellen. Jedoch bleibt Zimmermann auch hier dem Vorgehen Prokofieffs gegenüber blind, indem er wie dieser Franziskus, Katharina von Emmerich und Theresa von Konnersreuth in eine Reihe stellt – und weder auf die grandiose Entwürdigung des Franziskus eingeht, noch auf Prokofieffs Grundirrtum, man könne Franziskus und den christlichen Schulungsweg überhaupt in einen Zusammenhang bringen und daraus irgendwelche „Beweise“ konstruieren (siehe meine ausführliche Kritik).

Nur leise deutet sich das richtige Empfinden an, indem Zimmermann zugibt, der Leser könne den Eindruck haben, Franziskus und die beiden Frauen „seien doch zu einseitig beschrieben“, aber er weist dies gleich ab, indem er sagt, es gehe Prokofieff einzig darum, „auf die Gefahren aufmerksam zu machen, die aus einem Verkennen von Rudolf Steiners Werk erwachsen“. Nun – gerade Prokofieff verkennt dieses Werk völlig, indem er Versatzstücke von Steiner-Zitaten zu einem „Beweis“ hinbiegt, der schon deshalb nichts beweisen kann, weil er rein äußerlich geführt ist und ganz und gar aus falschem Verständnis, Entwürdigungen heiligster Tatsachen und Verdrehungen aufgebaut ist.

Wenn Zimmermann zum Schluss fragt, „ob es wohl möglich ist, über so eine zentrale Frage in eine offene geistige Auseinandersetzung zu kommen, in kompromissloser Erkenntnissuche bei gleichzeitigem Res­pekt und seelischer Toleranz dem Mit­streiter gegenüber.“, stellt sich die ganze Frage nach dem Wesen von Erkenntnis. Was ist denn „geistige Auseinandersetzung“? Eine Auseinandersetzung in dieser Weise und mit diesen Methoden, mit dieser Abstraktion auch, hat eigentlich nur mit Geistlosigkeit zu tun – welche „Ansichten“ auch immer vertreten werden. Und was für „Mitstreiter“ sind wohl gemeint? Jene, die Judith von Halle „verteidigen“? Die große Unwahrhaftigkeit Prokofieffs macht Zimmermann jedenfalls voll mit, indem auch er sie (um die es eigentlich geht) mit keinem Wort erwähnt...

Komplexität und Autoritätsglaube

Zu dem Aufsatz von Dietrich Rapp ist noch wesentlich mehr zu sagen, denn er deckt die Unwahrhaftigkeit Prokofieffs zwar ganz klar auf, jedoch nur, um dann Judith von Halle wieder ganz auf den Boden der Geisteswissenschaft „herüber-zu-argumentieren“. Man steht also wiederum vor der vollständigen Erkenntnisfrage. Die Steiner-Zitate, die Prokofieff gleich zu Beginn anführt, zeigen, dass Stigmatisation und Schulungsweg nichts miteinander zu tun haben, aber die Schilderungen Judith von Halles unterscheiden sich dennoch von denen einer Katharina von Emmerich, zumal sie die Anthroposophie untrennbar mit in ihre Schilderungen hineinzieht – Dietrich Rapp weist richtig darauf hin, dass Prokofieffs gesamte Ausführungen allein schon dadurch im luftleeren Raum schweben.

Kurz sei darauf eingegangen, dass Rapp erwähnt, wie Prokofieff die „innere Arbeit am Grundsteinspruch“ als den Weg zu einem bewussten und „erkennenden Erleben der Wirklichkeit der Auferstehung“ sieht. Dies ist natürlich eng mit der dogmatischen Behauptung einer noch immer „lebendigen Weihnachtstagung“ verbunden. Dadurch, dass man den Grundsteinspruch immer wieder mystifiziert und sämtliche in ihm verborgenen Wahrheiten auszuloten scheint, hat man sich noch keinen einzigen Schritt in die geistigen Welten erhoben – sondern nur immer tiefer in die Illusion einer „würdigen Nachfolge“ verstrickt.

Man sollte stattdessen, wie Rudolf Steiner betont, mit dem Erleben des Geistes wirklich Ernst machen. Dieser Geist kann im gesamten Werk Rudolf Steiners gefunden werden – und dennoch muss man selbst mit dem Erleben des Geistes ernst machen. In Prokofieffs Zusammenstellungen ist wirklicher Geist nicht zu finden, „profunde Kenntnisse von Rudolf Steiners Werk“ sehr wohl, intellektuelle Zusammenstellungen größter Komplexität sehr wohl, wahrhaftiger Geist aber nirgendwo.

Dietrich Rapp unterstützt die autoritätsgläubige Haltung noch, wenn er schreibt: „Die Darstellungen dieser drei Kapitel vermitteln tiefe, die religiöse Empfindung anrührende Einsichten in das christliche Mysterium der Auferstehung. Der Leser folgt ihnen, dankbar für die große Über­sicht, gerne. Die wiedergegebenen umfas­senden und komplexen okkulten Zusam­menhänge eröffnen einen Horizont, in dem das Streben nach einer bewussten Verbindung mit dem Christus‑Impuls Ori­entierung finden kann.“ – Der Leser sollte dieser abstrakten Übersicht gar nicht dankbar folgen! Und wessen Streben nach Christus in dieser „umfassenden Wiedergabe komplexer okkulter Zusammenhänge“ Orientierung findet, dessen Streben ist im Grunde schon fehlgeleitet und irregeführt worden – nämlich in die Abstraktion hinein, dorthin, wo der lebendige Christus niemals zu finden sein wird.

Rapp beschreibt das richtige Empfinden, wenn er sagt: „Doch im Grunde bleibt das Buch in sei­nem kompendialen und apodiktischen Stil, bei allem Pathos des [angeblichen!] Mitlebens mit den Inhalten, begrifflich theoretisch; es argumentiert im Kontext der Rudolf‑Stei­ner‑Gesamtausgabe und versucht darin durch gedankliche Schlussfolgerungen, auch neue okkulte Zusammenhänge zu er­arbeiten.“

Unverständnis des Geistigen und suggestive Behauptungen

Nun folgt aber die Wende in Rapps Ausführungen – die Verteidigung von Judith von Halles Schauungen. Erstaunlich genug ist, dass er selbst zugibt, dass es „ja doch selbstverständlich“ ist, dass „nur ein sinnlichkeitsfreies, leibunabhängiges Den­ken auf dem (anthroposophischen) Schu­lungsweg sich geeignet macht, ein sach­gemäßes, bewusstes Verhältnis zur geistigen Welt einzugehen.“ und dann sagt, dass dieses zu „Wahrnehmungen (Offenbarungen) im Raum des intuitiv Ge­dachten“ kommen muss, „wenn die geistige Wirklichkeit erreicht und erfahren werden soll“. Unmittelbar darauf fährt er jedoch plötzlich fort: „Was macht denn die sinnliche Wahrnehmung insbe­sondere so verdächtig [...] Als ob sich das Sinnliche nicht geistig berüh­ren ließe...“

Dieser Widerspruch ist nicht aufzulösen: Rapp sagt richtig: Nur das sinnlichkeitsfreie und leibfreie Denken kann zur Erfahrung der geistigen Wirklichkeit kommen! Und unmittelbar danach: Auch das Sinnliche lässt sich geistig berühren! Dies ist eben nicht der Fall, kann nicht der Fall sein. Das Geistige kann nur das Geistige berühren und erkennen. Es kann auch nur das Geistige im Sinnlichen erkennen, nicht das Sinnliche selbst. Dass Rudolf Steiner das Antlitz des Menschheitsrepräsentanten gestalten konnte, verdankte er seiner rein geistigen, intuitiven Begegnung mit dem Christus-Wesen – und dieses rein geistige, nicht-sinnliche, aber sehr wohl das Geistig-Physische mit einschließende Erleben vermochte er dann in die sinnlich-materielle Substanz des Holzes hineinzugestalten. Mit diesem reinen Geist-Erleben haben die von vornherein sinnlichen Schauungen Judith von Halles nichts gemein.

Prokofieffs Satz, diese „Gesichte“ führen „in Wirklichkeit nicht zu Ihm [Christus] hin, sondern von ihm fort“, bezeichnet Rapp dann als erschreckende „Exkommunizierung ausgewiese­ner Christen und pietätlose Missachtung der leidvollen Lebensgeschichten stigma­tisierter Menschen“. Doch worum geht es? Es geht um die Wirklichkeit des lebendigen, seit Seiner „Himmelfahrt“ nur im rein Geistigen zu findenden Christus. Judith von Halle erlebt die Ereignisse der Zeitenwende mit – mit welcher Objektivität auch immer –, aber Christus ist nicht mehr sterbend, leidend, auferstehend, er ist heute der Auferstandene. Es führt heute wahrhaftig von Ihm weg, wenn man beschreibt, wie er gekreuzigt wurde, wie die Kreuzesnägel hergestellt wurden... Und es führt von Ihm weg, wenn man beschreibt, wie er selbst ein Lamm geschächtet habe (was Er nicht tat!), wie Elohim angeblich das Ätherische von Hautfetzen des Christus aufsammeln und was für furchtbare, sinnlich pervertierte, völlig falsche Schauungen noch geschildert werden! Das alles ist tief unwahr – man kann sich fragen, woher diese Bilder und Erlebnisse kommen, aber sie sind nicht die Wahrheit und sie führen überall in die Irre, niemals zu Christus.

Rapps Begriff „Exkommunizierung“ geht völlig fehl, denn hier geht es nicht um konfessionelle oder andere Vereinigungen, aus denen jemand ausgeschlossen werden kann, es geht um die Frage, wo der lebendige Christus zu finden ist. Die Wahrheit des Satzes „...führt nicht zu Ihm“ erweist sich nicht dadurch, dass Prokofieff ihn ausspricht, sondern durch die Wirklichkeit selbst.

Ehrfurcht und Liebe muss man gegenüber der Wahrheit haben, gegenüber dem Leiden geht es nicht um „Pietät“, sondern um Mitleid. Wenn Judith von Halle an ihren Stigmata leidet, kann man Mitleid mit ihr haben; man muss aber auch Mitleid mit den Irrtümern haben, in die sie verstrickt ist und die sie für Wahrheit hält, weil die Stigmatisation und die drastischen, unmittelbaren Schauungen die Wahrheit zu verbürgen scheinen. Die Leiden eines Stigmatisierten verbürgen jedoch nie die Wahrheit seiner Erlebnisse, ebenso wenig wie die Leiden eines Besessenen, mit dem man ebenso Mitleid haben muss.

Die unklaren Gedanken im Aufsatz von Rapp setzen sich fort, wenn er schreibt: „Bedeuten Unter­schiede in den Darstellungen, die anderthalb Jahrhunderte auseinanderlie­gen, zudem durch einen einschneidenden Epochenwechsel (Ende des Kali Yuga) getrennt, und die sich auf verschiedenen Erkenntnisebenen bewegen, denn gleich Widersprüche? Was ist das für ein unge­schichtliches und unmethodisches Den­ken?“ Rapp behauptet also, es sei richtiger, in den Schauungen von Katharina von Emmerich und den Schilderungen Rudolf Steiners keine Widersprüche zu sehen. Das aber hieße, Rudolf Steiner würde „eigentlich“ das Gleiche beschreiben, nur dank des zuende gegangenen Kali Yuga nun – ja, was: reiner ... wahrer? Rudolf Steiner betont jedenfalls, dass in jenen Schauungen vieles ganz richtig sei, dass sie sich aber nie zur Wahrheit und zur lebendigen Erkenntnis erheben. Und allein darum geht es: Um die wirkliche Begegnung mit dem Christuswesen im Unterschied zu allen Schauungen, die eine Wirklichkeit nur vorgaukeln und bei denen man nie wissen kann, was unter Umständen „richtig“ ist, was halbrichtig ist und was eine Illusion oder gar furchtbare Lüge ist.

Rapp kann dann zunächst nichts weiter tun, als Judith von Halle als „Mitglied der An­throposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft“ auszuweisen, die mit einer Reihe von ‚Beiträgen zum Verständnis des Christus‑Ereignisses‘ auf der Grundlage konkreter Erfahrungen, die sich ihr nach ihrer Stigmatisation (Ostern 2004) ergeben haben, und der geisteswis­senschaftlichen Durchdringung derselben auf dem Boden der Anthroposophischen Gesellschaft hervorgetreten ist.“ Das alles sind reine Worte, rein äußere Fakten, die den Eindruck erwecken sollen, dass Judith von Halle auf dem Boden der Anthroposophie steht. Rapp deckt die Unwahrhaftigkeit Prokofieffs auf, der „mit seiner Kritik die geistigen Grundlagen der Anthroposo­phie auf dem Erkenntnisweg zu Christus schützen will, was nur ihr [Judith von Halle, die er nicht erwähnt!] gegenüber Sinn macht, weil nur sie aus und mit diesen Grundlagen arbeitet.“ – aber in diesen letzten Worten steckt dann unvermittelt die unwahre Behauptung Rapps.

Gesteigerte Irreführung

Die alles entscheidende Frage ist eben, aus welcher Quelle die „Erkenntnisse“ Judith von Halles stammen – Rapp gibt in einem Nebensatz die Antwort als reine Behauptung! Rapp behauptet eine „vollbewusste Erkenntnisweise“ Judith von Halles (im Gegensatz zu Katharina von Emmerich), doch diese Illusion entsteht nur dadurch, weil sie ihre Schauungen mit scheinbar anthroposophischen Ausführungen erläutert und durchdringt. Die Tatsache, dass sie dies tut, ist für Rapp Beweis für „geisteswissenschaftliches Denken“ – und dies ergänzt er durch die nächste Behauptung, sie würde beides „auf dem Boden des anthroposophischen Schulungsweges“ miteinander verbinden.

Was liegt hier vor? Es werden Schauungen mit Hilfe der „Anthroposophie“ interpretiert bzw. „vertieft“ oder scheinen auch Schilderungen Rudolf Steiners ähnlich zu sein bzw. diese sogar zu „vertiefen“ – und schon werden sie zu „geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen“ erklärt. Dabei weist Rudolf Steiner selbst immer wieder darauf hin, dass geisteswissenschaftliche Erkenntnisse nur auf wirklich leibfreie, sinnlichkeitsfreie Weise erworben werden können und natürlich selbst auch sinnlichkeitsfrei sind. Es gibt keine geisteswissenschaftlichen Erkenntnisse, die auch nur irgendwelche sinnlichen Reminiszenzen aufweisen!

Das heißt aber: Wenn man sinnliche Schauungen und „Anthroposophie“ amalgamiert, entsteht ein furchtbarer Irrtum. Dass Judith von Halle „völlig bewusst“ vorgeht, ist dazu kein Widerspruch: Man kann auch vollbewusst im Irrtum leben – selbst wo es um rein geistige Welten geht, die Judith von Halle überhaupt nicht berührt.

Rapp beteiligt sich dann ganz und gar an der Irreführung, wenn er darauf verweist, dass „doch der Auferstehungsleib eine Ver­wandlung, eine Verklärung des physischen Leibes anlegt“ und fortfährt: „Die ‚Gesichte‘ stigmatisierter Menschen schei­nen ‚sinnlich‘ – sind sie deshalb Ausge­burten des physischen Leibes? Welchen Einfluss hat der Auferstehungsleib auf die ‚Sinnlichkeit‘ des Leibes?“ Darauf ist zu antworten: Scheinen die Schauungen sinnlich oder sind sie sinnlich? Oder ist das Sinnliche vielleicht nur eine (Sinnes-)Täuschung? Man möchte über die Leere der Worte, der suggestiven Argumentation verzweifeln! Sinnliches entsteht auf der Grundlage des physisch-sinnlichen Leibes, anderes ist nicht möglich. Der Auferstehungsleib hat auf die Sinnlichkeit des Leibes sozusagen überhaupt keinen Einfluss, sondern er macht gerade unabhängig von diesem sinnlichen Leib – damit aber auch frei von seiner Sinnlichkeit! Wo die Sinnlichkeit noch vorhanden ist, kann nicht der Auferstehungsleib sein.

Natürlich durchdringt das Geistige das Sinnliche und durchdringt im Erdenleben auch jeder Keim des Auferstehungsleibes den physisch-sinnlichen Körper. Die Frage ist aber: In welchem von beiden (er)lebt man – im sinnlichen oder im geistigen? Davon hängt das Erleben, die Wahrnehmung ab – sie ist entweder sinnlich oder geistig. So ist es auch mit dem Blut des Erlösers: Nicht die materielle, sinnliche Substanz ist entscheidend, sondern die geistige Substanz, die das Wesen dieses Blutes ausmacht. Aber hier war noch mehr: In dem Leib, den der Christus durchdrungen hatte, wurde das Sinnliche selbst bis in die Materie hinein vergeistigt. So beschreibt Rudolf Steiner auch, wie der Leib des Christus Jesus im Grab gleichsam zu Asche zerfiel. – Aber was hier vorliegt, kann niemals mit etwas anderem verglichen werden. Rapp tut dies jedoch, indem er blutende Wundmale von Stigmatisierten und das Blut Christi in einem Satz in Zusammenhang bringt.

In einem letzten Schritt wird die Irreführung dann durch die Karmafrage gesteigert: „Was wissen wir denn von den außer­ordentlichen Schicksalen der (bleibend) stigmatisierten Menschen, von ihren Er­lebnissen und Tätigkeiten (Übungen) in früheren Erdenleben mit dieser Konse­quenz der Stigmatisation und den ‚Ge­sichten‘ hinsichtlich der Ereignisse zur Zeitenwende? Und was berechtigt uns, diese zu ignorieren oder gar abzuweisen – statt zuzuhören, was sie sagen, wenn sie in bestimmten geschichtlichen Mo­menten und Gemeinschaften auftreten?“

Nun, zum Karma kann man erst einmal nichts sagen, und schon sind einem scheinbar alle Argumente genommen, denn Rapp spricht von „außerordentlichen Schicksalen“, von Übungen in früheren Erdenleben, von der Konsequenz der Stigmatisation und der Schauungen – alle Worte suggerieren, dass es sich hier um (in rechtmäßigem Sinne) weit entwickelte Individualitäten handelt, die – offenbar zum Wohle aller – „in bestimmten geschichtlichen Momenten und Gemeinschaften auftreten“ und deren Schauungen Früchte eines langen vorangegangenen Weges sind! Dies wird als Möglichkeit und eigentlich als Behauptung hingestellt, obwohl Rudolf Steiner alle in dieser Weise auftretenden Schauungen immer als atavistisch und unzeitgemäß bezeichnet hat – und es aus Judith von Halles eigenen Schilderungen klar hervorgeht, dass sie nicht frei lassen, sondern unvermeidlich auftreten! – Allein schon dadurch wird ihr unchristliches Wesen offenbar.

Diese Ausführungen mögen gezeigt haben, was wahre Geistes- und Christus-Sucher berechtigt, die „Gesichte“ von Judith von Halle zu ignorieren und abzuweisen.