03.05.2009

Grauers Gefängnis – von spiritueller Verdunkelung

Christian Grauer vertritt wie Sebastian Gronbach den Ungedanken, dass man Anthroposoph nur sein könne, wenn man sich von der Anthroposophie befreie. Auch in seinem Aufsatz „Spirituelle Aufklärung“ wird der ganze Unsinn dieses Ungedankens wiederum deutlich – ebenso wie die dahinterstehende persönliche Tragik.


Inhalt
Zitate aus dem Originaltext (Christian Grauer)
Der Gedankengang in Kürze
Vom Hineinfressen und eigenen Versagen
Von Leere und einer nicht berücksichtigten Erkenntnis
Lebendige Erkenntnis, Unbefangenheit und Zweifel
Konstruktivismus oder wahre Anthroposophie


Zitate aus dem Originaltext (Christian Grauer)

In seinem Blog „Schachtelhalm“ schreibt Christian Grauer unter dem Titel „Spirituelle Aufklärung I – Emanzipation von meinem anthroposophischen Dogma“ am 28.4.2009 u.a. folgendes:

(eine ausführlichere Wiedergabe an dieser Stelle ist leider nicht mehr möglich, da mir der Autor bereits am 4.5. eine "Honorarrechnung" schickte und rechtliche Schritte androhte):

[...] Ich fraß dieses Werk regelrecht in mich hinein und schwelgte in den lebendigen Bildern und all den Bedeutungen, die mir die Welt und sogar das, was "hinter" ihr liegt, erschließbar erscheinen ließen. Bücher ungesund? Der sprudelnde Quell des Geistes waren sie für mich und die Warnung dieses Stadtstreichers schnell vergessen.
[...] Irgendwann in meinem Studium begann ich etwas eigentümliches festzustellen: ich bemerkte, dass das Wissen, das mir die Bücher gaben, mich wie ein Gefängnis umgab. Ich war geradezu gefangen in dieser Anthroposophie, die für jede Frage eine passable Antwort bereit hielt [...] Alles Neue, jede Erkenntnis, jeder mögliche Denkansatz, jedes Buch und jeder Autor wurde in meinem Hirn automatisch durch den Steiner-TÜV geprüft, klassifiziert und in bekannten Kategorien abgelegt. [...] Ich beschloss also, Neues zu suchen.
[...] Es musste noch eine Schicht der Welterfahrung möglich sein, die durch diese Anthroposophie nicht abgedeckt war. [...]
[...] Angelesenes Wissen ist toter Ätherleib. Alles, was sich nicht mehr verändert, was nicht aufgelöst und neu erschaffen wird, ist toter Ätherleib. Erkenntnis ist aber immer das Hinzufügen eines Neuen oder das Verändern eines vorhandenen Wissens. Erkenntnis ist Ausdruck des Lebens, Wissen ist Ausdruck des Todes. [...]
Ich habe in der Folge tatsächlich die Bücher zur Seite gelegt und mit etwas begonnen, das eigentlich Steiner an jeder Ecke predigt und das man als braver Anthroposoph, der ich war, doch nie wirklich pflegt - zumindest nicht seinen eigenen Überzeugungen gegenüber: Unbefangenheit und Zweifel. Und gerade die eigenen Überzeugungen sind doch ihr legitimes Opfer. [...]
[...] Ich bin vom Antworten zum Fragen aufgestiegen. Nicht dass ich nichts mehr lesen würde - ich schreibe sogar - aber ich sehe darin etwas Sekundäres. Das Primäre ist das unmittelbare lebendige Denken, der unbefangene systematische Zweifel, der die innersten Verankerungen des Seins hinter Mauern aus Vorurteilen und Vorstellungen freilegt und erkennt, dass zuletzt überhaupt nichts übrig bleibt. Und in diesem Nichts ist alles aufgehoben und kann von mir konstruktiv gefasst werden. [...]

Der Gedankengang in Kürze

Christian Grauer beschreibt in diesem Aufsatz in geradezu phänomenaler Klarheit, wie Anthroposophie vollkommen falsch aufgenommen wird – und in der Folge dann gänzlich missverstanden wird und dadurch unverstanden bleibt. Er beschreibt das tragische Schicksal so vieler, die Anthroposophie zuerst begeistert „in sich hineinfressen“ und sich am Ende in einem „Gefängnis von Vorstellungen“ wiederfinden.

Inzwischen ist durch den zweiten Teil seines Aufsatzes („Meine anthroposophische Privatsekte“) klar, dass er im negativen Sinne „perfekt sozialisiert wurde“ und sich selbst sozialisiert hatte. Diesen Aspekt lasse ich im Folgenden jedoch außer Acht, da Grauer inzwischen beansprucht, ein autonom und frei handelndes Individuum zu sein und nunmehr das „richtige“ Verhältnis zur Anthroposophie gewonnen zu haben...

Folgen wir zunächst seinem Gedankengang:

Als er Anfang zwanzig war, fraß er das Werk Rudolf Steiners regelrecht in sich hinein und schwelgte in den lebendigen Bildern, die für ihn der sprudelnde Quell des Geistes waren. Irgendwann aber bemerkte er, dass das Wissen, das ihm diese Bücher gaben, wie ein Gefängnis umgab. Da die Anthroposophie „für jede Frage eine passable Antwort bereit hielt“, hatte er letztlich ein Gefühl der Leere, weil ihm die Neugier und die Möglichkeit fehlte, eine neue Erfahrungsschicht der Welt und des Lebens freizulegen. „Alles Neue ... wurde in meinem Hirn automatisch durch den Steiner-TÜV geprüft, klassifiziert und in bekannten Kategorien abgelegt.“

Die Begeisterung und „Goldgräberstimmung“ anderer Menschen, die irgendwann in ihrer Biographie zur Anthroposophie (oder einem anderen Sinnsystem) finden, fehlte ihm, weil er gleichsam Anthroposoph von Geburt an war. Also suchte er nach einer Schicht der Welterfahrung, die durch diese Anthroposophie nicht abgedeckt war – und erkannte, dass Wissen und Erkenntnis sich zueinander wie Tod und Leben verhalten: Erinnerung und Wissen ist nichts anderes als konserviertes Leben, toter Ätherleib. Erkenntnis dagegen ist Hinzufügen eines Neuen, Verändern eines vorhandenen Wissens, Ausdruck des Lebens.

Grauer legte also die Bücher zur Seite und begann damit, Unbefangenheit und Zweifel zu entwickeln – vor allem gegenüber seinen eigenen Überzeugungen. Nach und Nach löste sich für ihn bzw. seine Erkenntnis die Anthroposophie und zugleich die ganze Welt auf. Sein Zweifel wurde universal, und er begegnete dem Nichts, das für ihn jedoch auch eine Befreiung war, „denn so sehr einen der Tod aus dem Dunkel des Nichts anstarrt, so sehr ist es als Akt das schiere Leben, mit dem man diese Erkenntnis erfasst“. Und er erkannte, dass wahre Philosophie nicht im Anhäufen von Wissen und Erklärungen besteht, sondern im Abtragen von Vorurteilen, im systematischen Zweifeln.

Nun konnte er endlich auch andere Autoren mit unbefangener echter Neugier lesen – aber auch Steiner. Er stellte fest, dass die Fragestellungen der Anthroposophie universell sind und Steiners Antworten nicht die einzigen. Grauer war nun „hinter den Kulissen“ und hatte sich „die Freiheit der eigenen, lebendigen Reflexion“ genommen, war „vom Antworten zum Fragen aufgestiegen“. Seitdem ist das Primäre für ihn das „unmittelbare lebendige Denken, der unbefangene systematische Zweifel, der die innersten Verankerungen des Seins hinter Mauern aus Vorurteilen und Vorstellungen freilegt und erkennt, dass zuletzt überhaupt nichts übrig bleibt. Und in diesem Nichts ist alles aufgehoben und kann von mir konstruktiv gefasst werden.“

Vom Hineinfressen und eigenen Versagen

Wenn man Grauers Aufsatz nun noch einmal selbstständig durchgeht und durchdenkt, stellt man so viele Geistlosigkeiten fest, dass man sich fragt: Wie ist das nur möglich...? Im Grunde besteht der Ganze Aufsatz aus Geistlosigkeit.

Zunächst ist zu bemerken, dass Grauer seinen Aufsatz mit einer Begegnung mit einem Stadtstreicher beginnt, der ihm sehr ans Herz legt, keine Bücher zu lesen – und dass er am Ende genau bei dem Rat dieses wirrhaarigen Gegenüber ankommt.

Dass Grauer dann in der Folge sämtliche Fehler begeht, die man im Umgang mit der Anthroposophie nur begehen kann, heißt nicht, dass er am Ende dann den richtigen Weg findet – es lässt vielmehr allein schon dadurch das Schlimmste befürchten.

Natürlich gibt es unzählige „Anthroposophen“, die das Werk Rudolf Steiners in sich hineinfressen – gerade weil sie in ihm auf einen völlig neuen Erfahrungsbereich stoßen und begeistert in diesen eindringen wollen. Gerade weil die lebendigen Bilder reinste Seelennahrung sind und den Menschen bereits erste Schritte auf den Weg zum Geist führen können. Rudolf Steiner hatte sich aber auch lange gegen eine Veröffentlichung seiner Vorträge gewehrt – und vor allem hatte er immer wieder scharf kritisiert, dass man sich in mystischem Wohlbehagen darauf beschränkt, in den von ihm gegebenen Bildern zu schwelgen! Warum? Nun, dies hat mit dem Wesen der Anthroposophie zu tun...

Den Geist kann man nur finden, wenn man ihn selber sucht. Man empfindet im Werk Rudolf Steiners den „sprudelnden Quell des Geistes“, aber man wird diesen Quell nie finden, wenn man sich nur berieseln lässt... Der Quell des Geistes ist nur zu finden, indem man selbst diesen Quell in sich hervorbringt. Hier droht dann zugleich ein ungeheurer Irrtum, doch dazu später.

Grauer stellt irgendwann fest, dass ihn das gewonnene Wissen und die Vorstellungen wie ein Gefängnis umgeben. Diese Erfahrung werden alle machen, die das Werk Steiners in sich hineinfressen und dabei stehen bleiben. Zunächst bereichert sich das Vorstellungsleben in ungeheurer Weise – und nur weil eine ganze Welt von Vorstellungen dazukommt, die sich noch dazu auf das Geistige, das Wesen des Menschen und der Welt beziehen, hat man die Empfindung des Lebendigen. Erst viel später stellt man fest, das zwar das „Hinzukommen“ ein Prozess war, dass aber danach wieder das Unbewegliche folgt: Die Vorstellungswelt hat sich ungeheuer vergrößert, aber sie ist starr geblieben, ein System, eine feste Welt-Anschauung.

Nun ist auch dies wieder einzig und allein der Fehler desjenigen, der die Anthroposophie derart ungeistig aufnimmt. Rudolf Steiner betont für die Pädagogik, dass man Kindern lebendige Vorstellungen geben muss – Bilder, die mitwachsen können. Darauf kommt es an! Die Vorstellungen müssen lebendig bleiben können! Sollte dies nicht auch für die Vorstellungen des erwachsenen, reifen Menschen gelten? Doch, das sollte es. Und Rudolf Steiner hat lebendige Bilder gegeben. Sein ganzes Werk ist eines, das im Menschen fortwährend lebendig sein, sich verwandeln und wachsen kann. Wenn der „Anthroposoph“ es nicht vermag, die lebendigen Bilder lebendig zu erhalten, so ist dies allein sein Versagen.

Von Leere und einer nicht berücksichtigten Erkenntnis

Grauer fühlte eine Leere angesichts einer Anthroposophie, die scheinbar zu jeder Frage eine Antwort bereithielt. Aber auch dies ist doch nicht die Schuld der Anthroposophie? Wenn etwas wie die Anthroposophie auf Wahrheit beruht, muss es dann nicht die Fülle in sich tragen? Die Wahrheit der Welt ist Fülle, unendliche Vielfalt, unendliche Entwicklung. Wenn sich Grauer angesichts dessen gelähmt fühlt, ist dies seine Schwäche. Die Anthroposophie drängt sich niemandem auf. Grauer selbst war es doch, der das Werk Steiners in sich hineinfraß? Zu diesem Zeitpunkt gab es noch Begeisterung. Irgendwann schlug dies dann um, und die Aussicht, hier auf jede Frage eine Antwort zu finden, wurde für ihn lähmend, wurde zum Gefängnis.

Hier geht es um die Frage, wie man sich zur Welt des Geistes, zum Reich der Wahrheit, zum Gebiet der unendlich reichen, werdenden Erkenntnisse zu stellen vermag. Grauer stand ihm gegenüber wie einer fertigen Welt, wie den steinernen Mauern eines riesigen Gefängnisses. Rudolf Steiner hatte schon alles gewusst, er, Grauer, würde immer nur nachvollziehen können, was längst feststand und ausgesprochen worden war. Es ist dasselbe Problem, das schon Heraklit formulierte: „Lehren heißt nicht, ein Fass füllen, sondern eine Flamme entzünden.“ – Und wiederum muss gesagt werden: Sollte der große Eingeweihte Rudolf Steiner genau dies missachtet haben? Nein, sondern Grauer selbst hat die Flamme in sich erlöschen lassen! Er hat das Feuer, was er im Werk Rudolf Steiners empfand, schon für sein eigenes gehalten – und ist dann nicht weitergegangen. Das winzige Flämmchen, das in ihm entzündet worden war, hat er wieder vergehen lassen, ohne es zu hüten und zu stärken...

Wir er dann zum Werke Rudolf Steiners, ja zu Steiner selbst stand – ob er sich dies eingesteht oder nicht –, zeigen seine folgenden Worte: „Alles Neue, jede Erkenntnis, jeder mögliche Denkansatz, jedes Buch und jeder Autor wurde in meinem Hirn automatisch durch den Steiner-TÜV geprüft, klassifiziert und in bekannten Kategorien abgelegt.“ Steiner war ihm schließlich die verinnerlichte, aber nichtsdestotrotz immer noch äußerliche Autorität, die sein Denken und Vorstellen bestimmte. Grauer war unter die Knechtschaft der Anthroposophie geraten... Warum? Weil er sich nicht „der Idee erlebend gegenüberstellen“ konnte. Und so hatte er auch überhaupt keine einzige Idee aufgenommen, sondern nur tote Vorstellungen! Tote Vorstellungen aber töten das Seelenleben...

Und nun schildert er nicht ohne gewissen Stolz und pädagogischen Unterton seine „Selbstbefreiung“: „Ich beschloss also, Neues zu suchen“... Merkwürdig ist, wie er dann sogar erst über einen Umweg zu der allereinfachsten Erkenntnis kommt. Und wie er sogar hier noch der Anthroposophie „die Schuld zuschiebt“: „Das absurde war, dass es Steiners Anthroposophie selbst war, die mir die Instrumente lieh, um diese Erkenntnis zu erfassen.“ Durch Rudolf Steiners Schilderung des freiwerdenden Ätherleibes als Träger der Erinnerung entdeckt Grauer, dass Erinnerung und Wissen konserviertes, abgestorbenes Leben seien.

Über diesen Umweg kommt Grauer also zu der Erkenntnis: Wissen ist tot. Man muss sich an dieser Stelle wirklich einmal klarmachen, was für ein Armutszeugnis diese Worte ablegen – und was für eine Ungeheuerlichkeit es ist, Rudolf Steiners Anthroposophie auch nur irgendwie damit in Verbindung zu bringen! Denn wenn es etwas gibt, was Rudolf Steiner immer und immer und immer wieder betont hat, dann dies: Dass Anthroposophie nichts mit totem Wissen zu tun haben darf, niemals totes Wissen werden darf, dass sie ganz anders aufgenommen werden muss usw. – Grauer kommt zu dieser Erkenntnis erst über einen Umweg und rühmt sich dieser Erkenntnis dann noch als einer eigenen, als den ersten Schritt aus seinem Gefängnis!

Grauer ist zutiefst unwahrhaftig gegenüber sich selbst und gegenüber Rudolf Steiner, wenn er nicht ganz klar zugibt, dass Rudolf Steiner es immer als absolute Grundbedingung für den Weg jedes Anthroposophen formuliert hat, dass die Anthroposophie niemals totes Wissen sein darf. Grauer mag aus Blindheit diese einfache Erkenntnis nach tragischen Jahren selbst gefunden haben, er muss dann aber auch zugeben, dass er selbst den Weg falsch gegangen ist, dass er Rudolf Steiners eherne Warnung völlig missachtet hat, dass er selbst sich in sein Gefängnis eingemauert hat! Wer sich selbst einmauert, muss natürlich auch selbst wieder hinausfinden. Andere berücksichtigen Rudolf Steiners grundlegende Erkenntnis gleich – und geraten dadurch gar nicht erst auf diesen Abweg.

Lebendige Erkenntnis, Unbefangenheit und Zweifel

Interessanterweise ist selbst Grauers „Umweg-Erkenntnis“ noch falsch: Er sieht Erinnerung als toten Ätherleib an und kommt über diesen Umweg zu seinem toten Wissen. Nun ist aber Erinnerung an sich etwas ganz anderes als totes Wissen – es sei denn, sie ist ebenso tot. Es gibt aber unzählige Menschen, die von „lebendigen Erinnerungen“ sprechen. Und ganz besonders unter den alten Menschen gibt es solche, deren Erinnerungen geradezu durchgeistigt, von lebendigem Geistlicht durchstrahlt sind. Von alledem hat Grauer offenbar keine Ahnung.

Das Wesen der Erkenntnis schließlich fasst Grauer ebenso wenig. Er sagt: „Erkenntnis ist aber immer das Hinzufügen eines Neuen oder das Verändern eines vorhandenen Wissens.“ Er denkt Erkenntnis in Kategorien von Hinzufügen oder Verändern, aber bleibt in der Logik des toten Wissens. Man kann aber totes Wissen noch so sehr ergänzen und immer wieder verändern, es bleibt tot. So bleibt z.B. auch die heutige Wissenschaft tot, auch wenn sich ihre „Erkenntnisse“ wandeln und vergrößern. Erkenntnis ist etwas absolut Lebendiges, selbst das „Hinzufügen“ oder „Verändern“ ist schon ein Ergebnis, verweist schon auf das Tote, das „hinzugefügt“ oder „verändert“ werden kann. Solange man Erkenntnis jedoch mit diesem Toten, mit Wissen, irgendwie in Verbindung bringt, hat man ihr Wesen nicht verstanden.

Und dann gerät Grauer völlig auf Abwege. Er sagt, er habe sich dann einen von Steiner immer wiederholten Grundsatz zueigen gemacht: Unbefangenheit und Zweifel, gegenüber den eigenen Überzeugungen. Hier gerät man in eine völlige Verwirrung, denn Grauer wirft alles durcheinander. Man soll unbefangen auf die Welterscheinungen zugehen, sein Erleben nicht von eigenen Vorurteilen prägen und verfälschen lassen. Dazu kommt, dass man lieb- oder festgewordene Vorstellungen hinterfragt, d.h. anzweifelt. Unbefangenheit und Zweifel sind jedoch ein Gegensatzpaar. Man kann der Außenwelt oder auch seinen eigenen Überzeugungen nicht unbefangen und zugleich zweifelnd gegenüberstehen! Entweder – oder.

Wenn man sich die Anthroposophie als totes Wissen angeeignet hat, hilft nichts anderes, als all dies von sich zu werfen und noch einmal ganz von vorne anzufangen. Grauer tut das erstere – aber nicht das letztere. Er gerät in einen systematischen existentiellen Zweifel, bis „kein Stein auf dem anderen blieb“, aber er verbleibt dann in dem Nichts, im systematischen Zweifel! In diesem erlebt er eine Befreiung, eine neue Unmittelbarkeit und Lebensfülle, aber zu einem wirklichen Neuaufbau kommt er nicht. Vielleicht nimmt er die Welt nun wieder lebendig wie ein Kind wahr – aber seine Erkenntnis bleibt ebenso auf der Stufe eines Kindes. Steiners „Antworten“ sind für ihn nun „nicht die schlechtesten“ (!), aber auch nicht die einzigen. Vor allem: Es bleiben für ihn Antworten – Grauer aber ist „vom Antworten zum Fragen aufgestiegen“. Das kann doch nur heißen, dass er jetzt seine „eigenen“ Antworten sucht und alles Andere höchstens als „Anregung“ nimmt.

Der richtige Umgang mit Unbefangenheit und Zweifel wäre jedoch der Folgende: Die eigenen Vor-stellungen und Vorurteile sind zu bezweifeln, d.h. man muss sich von ihnen befreien, um sich anderen Gedanken und Welterscheinungen vollkommen unbefangen öffnen zu können. Damit ist nicht Urteilsunfähigkeit gemeint, aber eben die völlige Freiheit von allem, was das reine Wahrnehmen und Erkennen verfälschen würde. Wenn man auf diese Weise vorgehen könnte, würde man die Gedanken Rudolf Steiners unbefangen als dasjenige aufnehmen können, was sie sind: Lebendige Weltgedanken, die den Menschen zu seinem eigenen Geistigen und zum Geistigen der Welt führen können. Man würde im Leben mit diesen Gedanken erkennen, dass sie wahr sind, weil sie alle in sich zusammenhängen und ihre Wahrheit nach und nach immer mehr beweisen.

Um die Anthroposophie so aufnehmen zu können, braucht es aber nicht nur die Unbefangenheit, sondern man muss auch in der Lage sein, die Gedanken lebendig zu halten. Und hier sind wir wiederum beim Widerspruch zwischen Unbefangenheit und Zweifel. Der Zweifel dient dazu, sich von dem Toten zu befreien! Solange man die Stufe des „systematischen Zweifels“ nicht durchgemacht und überwunden hat, wird man zum Lebendigen nicht kommen können. Zweifel tötet. Grauer ist immer noch dabei, seine Vergangenheit – die toten Vorstellungen – zu töten und immer wieder neu abzuschütteln. Er kann sich von diesem Stadium nicht lösen, weil er in jedem Gedanken wiederum Totes fürchtet. Aus Furcht, sich nicht wiederum von Fremdem bestimmen und einmauern zu lassen, sieht er in fremden – und offenbar vor allem in den von Rudolf Steiner gebildeten – Gedanken immer zu sehr das „Antworthafte“ und vertraut nur auf seine eigene „Konstruktion“ der Welt. Und das Ganze nennt er dann lebendiges Denken!

Konstruktivismus oder wahre Anthroposophie

Wenn man das „Aufsteigen vom Antworten zum Fragen“ nicht mit einem unbefangenen Studium der Anthroposophie in Einklang bringen kann, ist man kein Anthroposoph. Ersteres wäre gerade die Voraussetzung dafür, dass man die Anthroposophie nicht als totes Wissen aufnimmt. Grauer jedoch kann seinen „Aufstieg“ nur so realisieren, dass er der Anthroposophie fortan zweifelnd und mit gewisser Distanz gegenübersteht. Noch immer spricht er von Steiners „Antworten“ – und diese sind „nicht die schlechtesten, aber auch nicht die einzigen“.

Würde man sich wirklich unbefangen auf die von Rudolf Steiner geprägten Gedanken und Imaginationen einlassen, würde dies den eigenen Geist zur lebendigen Geistigkeit der Welt führen. Nichts anderes ist die weltengroße Aufgabe der Anthroposophie.

Grauer jedoch verliert sich in einen banalen und egoistischen „Konstruktivismus“, in dem er die armselige Freiheit seines „eigenen Denkens“ empfinden kann. Sicherlich wird man in der so gefundenen „Unmittelbarkeit“ des Denkens und Erlebens eine ganz neue „Lebensfülle“ finden, wenn man vorher ganz in das Gefängnis unendlich vieler toter Vorstellungen eingemauert war. Dies jedoch als das „stets neu zu erzeugende Eigentliche“ hinzustellen und die Anthroposophie tendenziell nur als „Partitur“ der Symphonie (noch dazu als eine Partitur neben vielen anderen), ist ein grandioses Missverstehen und eine furchtbare Verhöhnung der lebendigen Geisteswissenschaft. Es zeigt nichts anderes, als dass Grauer sich noch immer im Gefängnis befindet.

Dass auch die heutige „Anthroposophie“ in Gestalt der heutigen „Anthroposophen“ sich in diesem Gefängnis befinden, ändert nichts an der Tatsache, dass die Anthroposophie ihrem wahren Wesen nach die Offenbarung des lebendigen Geistes in seiner ganzen Fülle ist.

Dies kann an einem Menschen deutlich werden, der die Anthroposophie so lebendig erleben kann, wie es hier angedeutet wurde und wie dieser Mensch es selbst beschreibt. Die niederländische Anthroposophin Mieke Mosmuller legt in ihren Büchern Zeugnis von einem wahrhaft lebendigen Geisterleben ab. In ihrem Buch „Der lebendige Rudolf Steiner“ schildert sie dieses wahre Wesen der Anthroposophie und auch seine Abtötung in der heutigen „Anthroposophie“. Was den Aufsatz von Christian Grauer betrifft, sollte man sich tief bewusst machen, wie Rudolf Steiner selbst immer wieder von der Lebendigkeit der Anthroposophie gesprochen hat. Und zum Abschluss mögen die Worte stehen, mit denen Mieke Mosmuller ihr Buch beendet:

Nun, nach 24 Jahren des ‚Zusammenlebens‘ mit dem Nachlass Rudolf Steiners und intensiver Nachfolge seiner Anregungen, habe ich noch immer nicht im geringsten genug davon, fesselt mich noch immer jede Zeile, habe ich noch immer keine bleibenden Widersprüche – zeitweilige natürlich schon – gefunden, beweist sein Werk noch täglich die unerschütterliche Wahrheit, weil alles nachvollziehbar ist, nicht nur als Erkenntnis, sondern vor allem in dem Verwirklichen der beschriebenen Erkenntnis-Stufen, das auch zum wirklichen, lebendigen Rudolf Steiner führt.
Täglich finde ich noch Neues, auch in Bänden, die ich schon mehrmals durchgearbeitet habe. Wenn ich ‚nur‘ lese, empfinde ich immer eine leise Schuld, weil es ja viel intensiver sein muss, jeder Inhalt muss meditiert werden, sich vertiefen, erweitern. Die Gesamtausgabe lebt, wenn der Leser darin leben kann (will), denn sie wächst, wird immer mehr, größer, wertvoller. Nie entsteht das Gefühl: ja, ja, das weiß ich nun schon … immer bleibt dagegen die Empfindung: ich kann es nicht ganz ermessen, auch wenn ich es sehr wohl verstehen kann. Tiefer, höher, weiter reicht es, als ich erleben kann. Daraus wächst diese wachsende Sehnsucht, dieses wachsende ‚immer strebend sich bemühen‘. Nicht erlahmend durch Langeweile, sondern zunehmend spannend ist dieses Studium, das in das Leben hineinführt. Leben in seinen verschiedenen Bedeutungen: das Leben der Biographie und das Leben des ätherischen Leibes, Leben im Gegensatz zum Tod.