03.05.2009

Grauers Gefängnis – Entwicklung als Dogma?

Im zweiten Teil seines Aufsatzes „Spirituelle Aufklärung“ behandelt Christian Grauer aus eigener biographischer Erfahrung die Frage der „moralischen Dogmatik“. In diesem Teil wird das Wesen seines „Gefängnisses“ sehr deutlich. Es geht um die Pervertierung eines umfassenden Ideals. Leider führt die vermeintliche „Befreiung“ oft nur in ein anderes Extrem und nicht dazu, dass man dem Wesen der Anthroposophie wirklich näher kommt. Dafür müsste man eine wirkliche Liebe zu jenem Ideal und zur wahren Anthroposophie fassen... Teil 3 zeigt jedoch, dass Grauer sich in die völlige Unterscheidungslosigkeit verliert - "dank" seiner Befreier Nietzsche und Helge Schneider.


Inhalt
Zitate aus dem Originaltext (Christian Grauer)
Von Lust und „saurer Pflicht“
Eine Frage der Freiheit
Die geistige Heimat des Menschen
Grauers Befreier: Nietzsche und Helge Schneider!
Mit einem falschen Begriffspaar...
... auf dem Weg in die Unterscheidungslosigkeit


Zitate aus dem Originaltext (Christian Grauer)

In dem zweiten Teil seines Aufsatzes „Spirituelle Aufklärung – Meine anthroposophische Privatsekte“ vom 2.5.2009 schreibt Christian Grauer u.a.:

(eine ausführlichere Wiedergabe an dieser Stelle ist leider nicht mehr möglich, da mir der Autor bereits am 4.5. eine "Honorarrechnung" schickte und rechtliche Schritte androhte)

Die Form von Anthroposophie, in der ich aufwuchs und die ich mir dann als junger Erwachsener aktiv ausstaffierte, ist nach außen zunächst keine besonders enge und restriktive Weltanschauung. [...]
Aber dieser freiheitliche Gestus der Anthroposophie verdeckt auch oft eine tiefer liegende Schicht an Dogmen, die den Lebensalltag prägten, ohne direkt ausgesprochen worden zu sein oder gar in Verboten und Regeln gefasst zu werden. [...]
[...] Die Anthroposophische Endlösung, dass wir einst alle werden wie Rudolf Steiner - allgütige, allwissende, vergeistigte Eingeweihte - das war das selbst gesetzte Leistungsdiktat. [...]
[...] So war zum Beispiel Sex nur in seiner unumgänglichen Grundform geduldetes und nie thematisiertes Übel und alle Varianten sexueller und körperlicher Lust, die um ihrer selbst Willen kultiviert werden, wurden tabuisiert. SM und Fetischismus ebenso wie Sauna, FKK oder übermäßiges Make-Up. [...] und wenn man sich doch auch mal an niederen Dingen delektierte, die nicht Teil der anthroposophischen Wertewelt waren, so war man sich zumindest deutlich bewusst, dass man gerade vom Pfad abwich, seine Lebenszeit verschwendete und danach umso mehr üben musste, um den Rückstand aufzuholen. [...]

Von Lust und „saurer Pflicht“

Im wesentlichen geht es in diesem zweiten Teil von Grauers Aufsatz um die Frage der Entwicklung – um das Ideal der Entwicklung und um seine Pervertierung in ein Dogma.

Dabei sind „Arbeitsethik, Leistungsmoral...“ und „SM und Fetischismus“ gewissermaßen zwei Seiten derselben Medaille – nämlich des Dramas eines verfehlten Ideals... Wer in Opposition zu „Schmerzkultur, Prüderie“ usw. das Ausleben der Lust propagiert, fühlt sich befreit von falschen Zwängen, gerät damit aber nur in ein anderes Extrem. Die wahre Mitte ist auch von ihm noch nicht gefunden worden. Die Zwänge, denen er unterliegt, sind nur schwerer durchschaubar...

Wer seine Triebe und Lüste in Form von SM, Fetischismus, Leistungssport usw. genießen will, kennt eben noch nicht die Lust, die in der wahren inneren Entwicklung liegt.

Meine Triebe, Instinkte, Leidenschaften begründen nichts weiter in mir, als daß ich zur allgemeinen Gattung Mensch gehöre [...]. Durch meine Instinkte, Triebe bin ich ein Mensch, von denen zwölf ein Dutzend machen. (Rudolf Steiner, Philosophie der Freiheit, S. 164).

Wer nach Idealen von hehrer Größe strebt, der tut es, weil sie der Inhalt seines Wesens sind, und die Verwirklichung wird ihm ein Genuss sein, gegen den die Lust, welche die Armseligkeit aus der Befriedigung der alltäglichen Triebe zieht, eine Kleinigkeit ist. (Ebd., S. 232).


Es steht jedem Menschen frei, sich nicht zu entwickeln oder nur zeitweise einer inneren Entwicklung nachzustreben, er möge nur nicht so tun, als seien alle Anderen in einer „lustfeindlichen, sich selbst verleugnenden“ Vorstellungswelt befangen. Sicher gibt es viele, die einer Entwicklung nachstreben, weil sie es als „höhere Pflicht“ empfinden. Solche Menschen ordnen sich einem Ideal unter, sie stehen mehr oder weniger unter der Knechtschaft einer Idee.

Man kann jedoch dahin kommen, die Idee der Entwicklung wirklich zum Ideal zu machen – und dies bedeutet, dass Idee und Wille ganz und gar eins werden. Dann nimmt man die Idee voll bewusst und aus völliger Freiheit in seinen Willen auf. Dies ist gleichbedeutend mit einer reinen, umfassenden Liebe zu dieser Idee. Die innere Entwicklung ist einem fortan ganz real unendlich wertvoller als alles, was man früher als Gewissen kannte.

Solche Menschen unterscheidet eine ganze innere Welt von jenen, denen die Idee der Entwicklung eine „saure Pflicht“ bleibt, und von jenen, die ganz zur Befriedigung der egoistischen Lüste zurückkehren bzw. darin verharren. 

Eine Frage der Freiheit

Es ist wichtig, zu erkennen, dass das Ich die volle Freiheit der Entscheidung hat. Es ist aber auch wichtig, zu sehen, dass das Ich zunächst schwach ist – und dann zunächst gar nicht in den vollen Zustand der Freiheit gelangt. Das Ich, das sich nur der „sauren Pflicht“ unterwerfen kann, ist schwach – und das Ich, das sich den Lüsten seines Ego-Schattens hingibt, ist ebenfalls schwach. In beiden Fällen hat es seine Freiheit nicht verwirklicht. Freiheit steht im Widerspruch zur Pflicht, zumindest zu jeder „sauren Pflicht“, denn Freiheit bedeutet Liebe zur Tat – und Liebe ist niemals sauer.

Freiheit steht aber auch im Widerspruch zu den Lüsten des niederen, leibgebundenen Ego, denn solange das Ich sich diesen Lüsten hingbt, hat es sein wahres geistiges Wesen noch nicht wirklich erkannt, auch wenn es sich seine „Freiheit“ noch so sehr einredet.

Von dem hier gemeinten lebendigen Ideal sind die meisten Menschen und ist die heutige „anthroposophische Welt“ weit, weit entfernt. Das macht die Sache so furchtbar.

Weit entfernt ist man in der Regel auch in der Erziehung von jenem Ideal, was Rudolf Steiner z.B. folgendermaßen formulierte:

Und es ist das Bedeutsame, daß dies eintritt, daß die Pflicht selbst herauswächst aus Gefallen und Mißfallen, daß Pflicht nicht eingeimpft wird, sondern eben aus Gefallen und Mißfallen herauswächst. Denn das ist der Aufgang der wahren Freiheit in der Menschenseele. Darin erlebt man die Freiheit, daß das Moralische der tiefste eigene Impuls der individuellen Menschenseele ist. Hat man das Kind in selbstverständlicher Autorität an das Moralische herangeführt, so daß das Moralische für es in der Gefühlswelt lebt, dann arbeitet sich die Pflicht nach der Geschlechtsreife aus dem eigenen Inneren des Menschen heraus. Das ist das Gesunde. Da führen wir die Kinder in der rechten Weise zu dem, was individuelles Freiheitserlebnis ist. ‑ Warum haben das die Menschen heute nicht? Sie haben es nicht, weil sie es nicht haben können, weil ihnen vor der Geschlechtsreife eingeimpft wird, was gut und böse ist, was sie tun oder lassen sollen.
22.7.1924, GA 310, S. 118.


In der „anthroposophischen Welt“ findet man überall die „saure Pflicht“, den Anspruch an sich selbst, an den anderen, die gegenseitige Bewertung, das ungeschriebene Gesetz „Du musst dich entwickeln“ usw.

In dieser Welt ist die Freiheit kaum zu finden. Und dann ist es unmittelbar zu verstehen, dass es fast menschenunmöglich erscheint, sich dennoch zum reinen Ideal zu erheben, wenn man in dieser Welt „sozialisiert“ wurde. Viel nahe liegender ist es, dass man allmählich die ungeheure Unfreiheit und Lüge empfindet, die dieser Welt zugrunde liegt – und sie letztlich als Ganzes ablehnen muss. Naheliegend auch ist es, dass man die Anthroposophie mit dieser Welt identifiziert oder dass man es der Anthroposophie zum Vorwurf macht, dass eine solche Welt entstehen konnte.

Unter diesem Blickwinkel kann man Grauers Position vollkommen verstehen, d.h. nachvollziehen. Sein gegenwärtiges Denken und Erleben ist die nahe liegende Folge eines furchtbaren Systems subtiler Dogmen und kollektiver Verhaltensweisen, die entstehen, wenn sich die Menschen nicht wirklich zum Ideal der Entwicklung erheben. Man kann dieses Ideal nicht verwirklichen, wenn man sich dabei (teilweise) verleugnet, wenn man sich von sich selbst entfremdet, wenn man sich – und Andere – unfrei macht.

Und dennoch muss man sagen: Jeder Mensch, jedes Ich, hat die Aufgabe und die Möglichkeit, sich aller Zwänge, die in der Vergangenheit auf ihn wirkten, bewusst zu werden und sich Schritt für Schritt von ihnen zu befreien, um sich zur Freiheit, zur Wahrheit, zu seinem wahren Wesen, zu „seinen“ Idealen zu erheben.

Unter diesem Blickwinkel ist es unerheblich, wie furchtbar die vergangene Sozialisation gewesen ist – die Möglichkeit, zwischen dem wahren Ideal und seinen Verzerrungen zu unterscheiden, hat jeder Mensch. Natürlich ist es eine allerschwierigste Aufgabe, sich von all dem zu befreien, was Dogmatik, subtiler Zwang usw. an Prägungen für das eigene Denken, Fühlen und Wollen verursacht haben. Worum es mir hier jedoch geht, ist, dass keine Vergangenheit dazu berechtigt, das Ideal selbst als Dogma, Lüge oder Illusion hinzustellen.

Das Ideal der Entwicklung ist das großartigste Ideal, das es gibt. Wie schlimm die heutige „anthroposophische Realität“ diese Idee auch entstellen mag, sie kann ihrer wahren Natur nichts anhaben. Diese entstellende Realität wirkt jedoch auf die Menschenseele und raubt ihr die notwendigen Kräfte – wirkliches Verstehen, Erkennen, Begeisterung –, die man braucht, um sich aus vollster Liebe mit diesem Ideal zu durchdringen.

Der Mensch kann diese notwendige Kraft jedoch in sich finden, wenn er die Idee wirklich liebt. Freiheit ist keine Illusion, aber sie ist auch nicht leicht zu „haben“. Es geht um die Frage, was der Mensch in seinem Innersten wirklich liebt. Dies wird er suchen, dem wird er nachstreben und nichts kann ihn auf Dauer davon abhalten.

Die geistige Heimat des Menschen

Freiheit, Liebe und Entwicklung – das ist das Wesen der wahren Anthroposophie, das ist die geistige Heimat des Menschen, zu der die Anthroposophie der großartige Weg ist.

Diese geistige Heimat offenbart sich dem wahrhaft strebenden Geist Schritt für Schritt als eine ganze Welt, in der das Ich Wesen unter Wesen ist. Rudolf Steiner hat diese Welt geschildert – unter immer anderen Blickwinkeln. Es steht einem frei, diesen Weg nicht zu gehen. Wer aber diese Welt leugnet, wer die zentrale Bedeutung des Christuswesens leugnet, der kann kein Anthroposoph sein. (Über das Finden des Christus in der Wirklichkeit siehe das Buch „Der Heilige Gral“ von Mieke Mosmuller).

Alle hier berührten Fragen finden sich auch in dem wunderbaren Buch „Der lebendige Rudolf Steiner“ von Mieke Mosmuller – die Frage nach dem wahren Wesen der Anthroposophie und auch das Problem seiner fortwährenden Pervertierung durch Dogma, Phrase, Konvention und Routine.

Zum Schluss möge daher ein länger Abschnitt aus dem Kapitel „Der Weg zur Wahrhaftigkeit“ stehen (S. 218ff, Hervorhebungen H.N.):

Mit Anti-Anthroposophie meine ich die Unwahrhaftigkeit im Denken, denn diese verträgt sich mit einer echten Anthroposophie auf keinste Weise.
Eine Sünde gegen den Heiligen Geist ist diese Anti-Anthroposophie, wenn bewusst etwas anderes aus der Anthroposophie gemacht wird. Das kann nur jeder Mensch für sich beurteilen, ob er so weit sündigt. Die Unwahrhaftigkeit selbst jedoch beginnt schon da, wo Anthroposophie vom Abstrakten her ‚behandelt‘ wird, statt sich von innen nach außen wahrhaft zu entfalten.
Rudolf Steiner hat damals schon auf die innere Unwahrhaftigkeit hingewiesen, am klarsten vielleicht im ‚Pädagogischen Jugendkurs‘, aber auch bei vielen anderen Gelegenheiten. Das Denken der anthroposophischen Wahrheiten muss immer mit dem Innersten der Menschenwesenheit verbunden bleiben, darf sich nie davon loslösen. Einen mathematischen Satz darf man wohl ohne Begriff aufsagen, einen geisteswissenschaftlichen Inhalt nie – man sündigt dann wirklich gegen die Wahrhaftigkeit, gegen die Anthroposophie als lebendiges reales Wesen. Die Gedanken dürfen nie Phrase werden, werden es jedoch, die aus den Gedanken geschöpften Verhaltensweisen nie zur Konvention, es besteht aber ein ganzes System ‚anthroposophischer‘ Konventionen, und die Taten, welche auch immer, nie zur Routine, diese findet sich jedoch im ganzen ‚anthroposophischen‘ Tatenleben (Vorbereitungsgruppen, Jahresfeste, Tagungen, Konferenzen, Zweigabende, usw.).
Die Geisteswissenschaft darf auch nicht mit einem tieferen Agnostizismus gedacht werden, mit einem eigentlichen Zweifeln an der Wahrheit, an der Möglichkeit geistigen Erkennens. Dies wäre auch eine Unwahrhaftigkeit, weil Anthroposophie nichts anderes als Geisteswissenschaft sein kann und man die menschliche Fähigkeit zum Erkennen im Geiste als erste anerkennen sollte. Um den Zweifel zu verschleiern, werden dann die Verhältnisse in der Gesellschaft sentimental verherrlicht und nimmt man auf Autorität hin etwas einfach hin.
Wenn der Anthroposoph in einer Zeit, in der die ernste Geisteswissenschaft so bedroht wird, wie wir es jetzt erleben, sich nicht zur Wahrhaftigkeit erzieht oder wenigstens einsieht, dass er diese erstreben soll, führt das zur Anti-Anthroposophie, hat es bereits dazu geführt.
So hat man einen Gedankeninhalt der Anthroposophie, der nur Abstraktion ist. Auch wenn der Mensch sich dafür begeistert, genügt das nicht. Die Geisteswissenschaft steht als geistloses, unbegründetes Wissen da.

[...] Nur eine Begründung durch das Hineinführen des individuellen Willens in die Gedanken führt zu einer Erlösung aus der Abstraktion, wodurch die Gedanken in sich den Grund tragen. Das abstrakte geistlose Wissen liefert Dogmatismus. Denn Wissen, das man nicht vollkommen mit seiner eigenen innersten Wesenheit verbunden hat und trotzdem annimmt, ist dogmatisch. Dadurch wird man außer sich gesetzt, denn es gibt keine Möglichkeit, das Wissen in sich zu prüfen, es wird von außen angeschaut, man schaut sich selbst von außen an und muss so beurteilen, ob man den dogmatischen Urteilen und Regeln entspricht. Es wird ein Wesen erweckt, das außerhalb der Menschen als urteilende Instanz wirkt. Es wird eine Art ‚Universalie‘, die für jeden in gleicher Weise und in gleichem Maße gelten soll. Dieses Wesen geht in der Gesellschaft unter den Menschen herum, beeinflusst sie, verwandelt sie. Es entsteht eine Versammlung von Menschen, die, ohne es zu wissen, diesem Wesen verfallen sind.
[...] Es ist das Wesen der Unwahrhaftigkeit. Die Mitglieder sind eine Gruppe von Menschen, die ebenso unvollkommen sind, wie die Glieder der übrigen Menschheit. Das einzige Vollkommene, das sie haben, ist die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners. Sie werden aber dazu verführt, sich dieser Vollkommenheit ähnlich fühlen zu wollen, nachdem man sich in welcher Weise auch immer damit beschäftigt hat. Das hat diese furchtbare Schein-Heiligkeit herbeigeführt, die alle Lebendigkeit abtötet. Man wagt es doch nicht, auch nur einen Schritt aus sich heraus zu machen – denn dann fühlt man sich als ein Egoist, subjektiv, emotional, persönlich…
Vor dem Entfalten von Eigen-Interessen fürchtet man sich so sehr, dass alle Freiheit nur noch als Phrase lebt. Schöne Worte klingen überall, wirken jedoch schaudererregend, solange man nicht selbst in die Hände dieser ‚Universalie‘ geraten ist. Die Anthroposophie soll ‚universell‘ sein, das Persönliche darf nicht sein.
Den Christus findet man aber nie in einem System von Gedanken, auch nicht, wenn diese ursprünglich dem Geist entsprungen sind. Ihn können wir nur finden, wenn zwei gegensätzliche Welten sich ausgleichen, wenn der Wille mit dem Gedanken eins geworden ist.

Diese Angst vor dem Persönlichen beruht auf der Abneigung gegenüber der Trieb- und Gefühls-Wahrhaftigkeit, das kann man sehr gut verstehen. Eine Selbsterziehung im Sinne der Anthroposophie bedeutet eine Verwandlung der Triebnatur mit ihren Instinkten und eine Verwandlung des Subjektiv-Emotionalen. Eine Verwandlung, nicht ein Negieren oder Unterdrücken. Da diese zwei Formen der ‚Ehrlichkeit‘ gefürchtet werden, wird die echte Wahrhaftigkeit ebenfalls mit Argwohn betrachtet und wird alles, was mit dem Willen verbunden kräftig hervortritt, im Grunde abgewiesen. So ist man dann bei Ahriman angelangt, aus Furcht vor Luzifer.
Ein wahrhaftiger Anthroposoph sollte sich nicht für seinen Egoismus schämen, sondern ihn mutvoll erkennen wollen, um ihn dann da zu überwinden, wo er überwunden werden muss; ihn aber kräftig zu entfalten, wo er am Platz ist: wo der Wille in das Denken einschlagen soll. Die Seele wird rein, weil der egoistische Wille sich in ein selbstloses Gebiet entfalten muss: in das Denken.

 

Grauers Befreier: Nietzsche und Helge Schneider!

Im dritten Teil seiner Serie – „Spirituelle Aufklärung 3“ – lüftet Grauer das Geheimnis seiner Befreiung bzw. seines Befreiers. Zunächst schildert er, wie Nietzsche ihn in den Nihilismus hineinriss und ihm klarmachte, dass der „Hedonismus“ die einzig mögliche Ethik sei, da wir in jedem Fall egoistisch handeln (hier bei Nietzsche erkennt er dann „erstmals die eigentliche Radikalität der monistischen Freiheitsphilosophie Steiners“). Und dann nahte der „intensiv erlebte emotionale Befreiungsschlag“ in Gestalt von Helge Schneider.

An seiner Albernheit, seinem Unsinn trank Grauer neuen Lebenssaft, fühlte er eine „eigentümliche Wärme, die all die Panzerscheiben meines pietistisch-protestantischen Moralgefängnisses zum Schmelzen brachte“. Grauer erkannte, dass er die Anthroposophie „nicht um ihres Ernstes und ihrer Weltmission, sondern um der selben Lust willen betrieb, die sich in einer Helge Schneider Show auslebte.“ und er fährt fort:

Es löste sich die Unterscheidung zwischen „ernst“ und „albern“ auf, zwischen Kultur und Unterhaltung, zwischen hoher Kunst und trivialem Spaß, zwischen Profanität und Heiligkeit.


Hier zeigt sich wieder die völlige Begriffsverwirrung, die sicher auch einen Nietzsche wütend gemacht hätte. Sicher gibt es einen heiligen Humor und sicher auch viel profane „affektierte Kulturbeflissenheit“, wie Grauer schreibt. Wer jedoch Albernheit mit Heiligkeit in Verbindung bringen kann und den Unterschied zwischen hoher Kunst und trivialem Spaß nicht erkennt, offenbart einfach seinen geistlosen Nihilismus. Wenn Grauer im nächsten Satz auf Gronbachs Begriffpaar „grundlegend“ und „bedeutend“ hinweist und dieses gleichzeitig als „wertfrei“ bezeichnet, beweist er seine Urteilsunfähigkeit nur ein zweites Mal.

Gronbach selbst sagt in seinem Buch „Missionen“ (S. 119): „Sünde allein ist es, sich in diesem Grundlegenden zu verlie­ren, und die Ursünde ist es, im Angesicht der überwältigenden Kraft des Grundlegenden dieses Grundlegende zum Bedeut­samen zu erklären.“ Damit ist ganz klar ein Wert gesetzt: das Bedeutsame ist wertvoller als das Grundlegende; sich in letzterem zu verlieren, ist Sünde.

Wenn Gronbach im weiteren dann sagt: „Der Geistschüler hat keine Angst vor animalischem Sex, er meidet ihn nicht furchtsam, er überhöht ihn nicht, sondern er hat ihn einfach – das war's.“, relativiert er den Wert des Bedeutsamen irrtümlich wieder, indem er das „Grundlegende“ verabsolutiert. Er sieht nicht, wie es in der Freiheit des Menschen liegt, den Bereich des Bedeutsamen immer weiter auszudehnen und den „Naturbereich“ des Grundlegenden immer weniger notwendig und grundlegend werden zu lassen.

Mit einem falschen Begriffspaar...

Das Bedeutsame ist das, was den Geist – das Wesen des Menschen – offenbart und zu ihm erhebt. Das Grundlegende ist das, was den Menschen am Leben erhält – Essen, Schlafen. Was den Menschen abgesehen von diesen Lebensnotwendigkeiten an das bloß Irdische, an das Sinnliche fesselt, ist nicht grundlegend, weil es nicht notwendig ist. Wer „animalischen Sex“ (Gronbach) braucht, der möge sich noch so einreden, dass dies zumindest „grundlegend“ sei, es gibt jedoch genügend Menschen, die solchen Sex weder brauchen, noch haben – und auch nicht in Gedanken von diesem verfolgt werden, wie Gronbach behauptet. Man kann mit dem Begriff „grundlegend“ sehr vieles glorifizieren, von dessen Zwang man sich selbst noch nicht lösen konnte. „Animalischer Sex“ ist für den Menschen weder bedeutend, noch grundlegend. Dieses „weder – noch“, nämlich das völlig Unbedeutende, besser gesagt das eigentlich Unmenschliche, fehlt als dritte Kategorie.

Grundlegend ist, was den Menschen am Leben erhält. Bedeutsam ist, was seine Seele nährt und sie schließlich sogar zum Geistigen erhebt. Unmenschlich ist, was weder dem einen, noch dem anderen dient, sondern den Menschen unter sein eigentlich menschliches Niveau hinunterführt.

In ähnlicher Weise führt dieses Begriffspaar in die Irre, wenn es z.B. dazu dient, Humor und Ernst gegeneinander auszuspielen. Humor und Ernst gehören beide in den Bereich des Bedeutsamen – wenn sie an ihrem jeweils richtigen Platz sind! Wenn dagegen heilige Wahrheiten in den Schmutz gezogen werden, oder wenn mit saurem Ernst äußere Moralregeln befolgt werden, hat man es mit dem Gegenteil zu tun – mit etwas, das in den Bereich des eigentlich Unmenschlichen hineinzieht. Man muss hier wie überall lebendig unterscheiden können. Es hilft überhaupt nichts, ein Begriffspaar zu entwickeln – ein solches kann allein dazu dienen, einen weitgehenden moralischen Nihilismus zu begründen, um die eigene Geistlosigkeit bzw. Sinneslust zu legitimieren.

Nochmals: Humor kann dazu dienen, einen falschen Ernst aufzudecken – einen „sauren Ernst“, der dadurch entsteht, dass man mit dem eigenen Ernst nicht ernst macht, dass der Ernst dem eigenen innersten Willen äußerlich bleibt, dass er „aufgesetzt“ ist. Wenn aber Grauer den „banalen Humor“ und die „plärrende Ästhetik“ eines Helge Schneider braucht, um sich aus seinem „Gefängnis“ zu befreien, dann sagt dies nicht nur etwas über die Wucht dieses Gefängnisses, sondern auch über den tiefen Abgrund, der ihn nun (noch immer) von wahrer Geistigkeit trennt. Das ist auch ziemlich verständlich: Wer sich aus einem selbstgebauten Gefängnis moralischer Vorstellungen befreien muss, die er nie mit seinem innersten Wesen verbunden hat, wird zunächst nicht nur diese Vorstellungen abwerfen, sondern auch ihr wahres Wesen leugnen und in einen Hedonismus zurückfallen, der auch die grinsende Banalität und das blind Animalische mit einschließt.

Die Devise ist dann: Moralität, wenn ich Lust habe; Banalität, wenn ich Lust habe. Begründet wird es damit, dass das ganze Leben wertfrei ist bzw. nur der Mensch selbst ihm Wert beimisst. Wenn ich sage, dass Banalität wertvoll sei, ist sie wertvoll. So einfach ist das. So konstruiert man sich eine Welt, in der der reine Egoismus herrscht: Nicht die moralischen Ideale bereiten mir die höchste Lust, sondern ich bestimme, wann ich darauf Lust habe (vielleicht morgen wieder?) und wann ich lieber „animalischen Sex“ wähle. Und was ich dabei gar nicht bemerke, ist, dass ich mir zwar einrede, ich würde mir die Richtung selbst geben, dass ich dabei aber nur Spielball meiner Lust bin, deren eigentliche Quelle ich gar nicht erkenne bzw. nicht bestimmen kann.

Frei ist der Mensch eben nur, wenn er aus dem Reich der Ideen, des lebendigen Geistes schöpfen kann – dies aber ist eine vollkommen moralische Welt! Die Impulse der Lust, sofern diese irgendwie sinnesgebunden ist, steigen dagegen aus dem Sinnlichen, dem Leiblichen auf ... und lassen den Menschen unfrei bleiben. Ein so schönes Begriffspaar wie „grundlegend – bedeutsam“ bringt es natürlich mit sich, dass man Rudolf Steiners (in anderem, bestem Sinne) grundlegende Aufdeckung der Bedingungen der Freiheit bequem wieder vernebeln kann.

... auf dem Weg in die Unterscheidungslosigkeit

Und so kommt Grauer ohne jedes Unterscheidungsvermögen am Ende tatsächlich beim Nihilismus an, den er als „Lebensfülle“ wahrnimmt:

Und die ganze Welt, all die Mannigfaltigkeit des Lebens, all die möglichen Lebensweisen, all das Individuelle und Absurde, all die Sehnsüchte und Lüste, die Gewohnheiten und Schrullen, die jeden von uns in eine andere Ecke treiben, waren plötzlich willkommene Gäste in meiner Welt. [...] Ganz egal: dass man auch ganz ohne Anthroposophie leben kann, mit völlig anderen Ansichten und Ansätzen [...], dass all das überhaupt nicht zählt, sondern die Menschen einfach Mensch sind wie ich, dass wir in der selben Welt leben und auf der gleichen Suche waren, dass das wahre wahre Leben nicht in irgend einem anthroposophischen Biotop, sondern da draußen in all der Mannigfaltigkeit unterschiedlichster Überzeugungen und Lebensweisen stattfand, dass es keine niedere und höhere Wirklichkeit gab, sondern dass die eine Wirklichkeit da draußen auch zugleich die wahre Wirklichkeit war - wahrhaftig: was für eine Befreiung!


Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg zum Geist. Wenn man diesen wirklichen Geist mit Hilfe der Anthroposophie nicht erkennt – weil man sie völlig missversteht –, wird man sie irgendwann als Dogma von sich werfen und sich in das „wahre Leben“ stürzen. Wenn man die Anthroposophie nur als „Brille“ kennengelernt hat, um alles und jeden zu bewerten, wird man sie irgendwann von sich werfen und selbst den schrulligsten Typen als willkommenen Gast und Botschafter des „wahren Lebens“ empfangen.

Es ist jedoch nicht wahr, dass die Anthroposophie Menschen bewertet – das tun Menschen, die die Anthroposophie missverstehen. Anthroposophie will den Menschen zu seiner geistigen Heimat, zu seinem wahren Wesen führen. Es ist nun aber ebenfalls nicht wahr, dass alle Menschen „auf der gleichen Suche“ sind, jedenfalls nicht in gleichem Maße – das ist völlig offensichtlich, und das ist keine Bewertung, sondern eine objektive Feststellung. Und das wahre Leben ist eben doch nur dasjenige, was den Menschen zu seinem wahren Wesen führen kann – alles andere ist im eigentlichen Sinne nicht das wahre Leben des Menschen. Man sollte in diesem Zusammenhang zugeben, dass wir alle doch recht wenig wirklich leben – weder die Menschen, die lustvoll nur ihren Trieben leben; noch die, die mit saurer Miene diesen Trieben entsagen; noch die, die glauben, eine hedonistische Synthese sei die befreiende Lösung.

Es gibt niedere und höhere Wirklichkeiten – und beide finden sich da draußen in der einen Wirklichkeit. Nur dass die höhere Wirklichkeit des Menschen sich letztlich nur in seinem Innersten offenbart – und dass sie sich oft zunächst nur sehr, sehr wenig offenbart. Eine kleine, unscheinbar erscheinende Menschenbegegnung kann einen zu seinem wahren Wesen erheben. Eine Banalität kann dies nicht. Animalischer Sex kann dies nicht. Wer seine Unterscheidungsfähigkeit untergräbt und sie durch seine Darstellungen auch anderen Menschen zu nehmen versucht, wird das wahre Wesen des Menschen nicht finden können.

Am Ende schreibt Grauer:

Und je äußerlicher, je alltäglicher die Dinge sind, umso mehr sehe ich mich heute immer mehr meiner Sozialisierung gemäß handelnd. Der feine Unterschied ist aber, dass ich mir dieses Umstandes bewusst bin und diesem Handeln keine Wertung beilegen muss. Ich muss es weder als defizitär tabuisieren und innerlich mit Übungen dagegen opponieren, noch muss ich es als einzig gesunde Lebensweise glorifizieren. Ich bin so und ich handle so. Frei von jeder moralischen Implikation.


Was damit gesagt sein soll, weiß er vielleicht nur selber. Der Sinn erschöpft sich offenbar in dem „Es ist so“. Und seine Freiheit fühlt er in der „Freiheit von“. Und schließlich empfindet er vielleicht noch die Freiheit, dass er sich der Sozialisierung – also der Gründe – seines Handelns bewusst ist, frei nach dem ersten Kapitel der „Philosophie der Freiheit“. Frei ist der Mensch jedoch nicht im Geringsten, wenn er sich seiner Zwänge bewusst ist... Offenbar reicht es Grauer, seine Sozialisierung hinzunehmen und die Befreiung von allen „moralischen Implikationen“ zu genießen.

Immerhin: Sich seiner Sozialisation bewusst zu sein, ist schon etwas. Allerdings nichts besonders Bedeutendes. Es ist zwar grundlegend für die Entwicklung wahrer Freiheit, aber dazu müsste man den zweiten Schritt tun und Anthroposophie verwirklichen. Grauer dagegen hat sie gerade erfolgreich abgeschafft.