18.05.2009

Grauer: „Plötzlich nur noch ein Film“

In Teil 4 und 5 seines Aufsatzes „Spirituelle Aufklärung“ offenbart Christian Grauer erneut, wo er mit seinem Verständnis der Anthroposophie steht und wie sich dieser Standpunkt biographisch entwickelte.


Inhalt
Das schwarze Nichts und das „reine Bewusstsein“
„von anderen Strömungen überholt“
Krankhaftes Erleben
Ungeheure Arroganz


Das schwarze Nichts und das „reine Bewusstsein“

Im vierten Teil berichtet er, wie er schon mit etwa 25 Jahren durch Nietzsche verstandesmäßig einen klaren Begriff davon hatte, „dass es keine absoluten Prinzipien gibt“. Zehn Jahre später kam dann auch die Empfindung dazu, der radikale Zweifel gegenüber den eigenen Überzeugungen, gegenüber dem, „was ich als ‚geistige Welt‘ aus meiner Anthroposophie mitgebracht hatte“, gegenüber jeglichem höheren Sinn, der über die unmittelbare sinnliche Welt hinausging. Dieser radikale Zweifel wurde dann absolut existentiell:

„Ich begann nicht nur philosophisch zu zweifeln, sondern ich erlebte tatsächlich den Zweifel, ohne ihn aber als diesen zunächst zu erkennen. Ich fiel immer öfter in eine depressive Stimmung, unter der ich zunehmend litt und die sich in unterschiedlichen Formen immer um das selbe Motiv drehte: die Angst vor dem Nichts. An einigen Stellen dieser depressiven Anfälle ging ich durch die Straßen und sah förmlich nicht mehr Häuser, Menschen, Autos und dergleichen, sondern ich sah sie wie Attrappen aus dünner Pappe. Als wären die Fassaden aus Papier und dahinter das endlose, schwarze Nichts. Das, was ich bislang als Wirklichkeit erlebt hatte, zerrieselte mir zwischen den Fingern.“


Biographisch kam dann sogar eine schwere Krankheit hinzu, „die mich tatsächlich auch biologisch vor das Nichts stellte und mir [...] die Gewissheit des unmittelbar bevorstehenden Todes als Erlebnis zuteil werden ließ.“ Eine über drei Monate andauernde ohnmächtige Angst vor dem Nichts folgte.

Auf Rat eines befreundeten Arztes begibt Grauer sich dann meditativ in einen Zustand reiner Aufmerksamkeit. Dabei fällt er ganz in das Nichts – aber auf einmal hatte er keine Angst, sondern „empfand die Leere und das Nichts als reine Stille, Ruhe und Zufriedenheit.“

Im fünften Teil beschreibt er zunächst genauer die Qualität jener Erfahrung:

„Es ist nur stilles bewusst sein. Aber dieses bewusst sein zu finden war überwältigend, weil es gerade mit KEINEM Inhalt verbunden war, [...] eine Erfahrung, deren Absolutheit jenseits jeglicher begrifflichen Reflexion in der unmittelbaren Erlebnisqualität liegt. [...] Es ist jene Bewusstseinsschicht, für welche die Gegenstände der Welt da draußen nur Attrappen aus Pappe, nur auf das Nichts projizierte Schatten sind. Es ist das Bewusstsein, in dem nicht nur die Welt sondern auch ich selbst aufgehoben bin. Es ist jene reine präsubjektive Operationalität, welche in konstruktivistischen Begriffen jeglicher ontologischen Instanz vorangeht.“


Grauer beschreibt als weitere Folge dieses Erlebnisses des „reinen Bewusstseins“ dann, dass man alles übrige Erlebte mehr wie ein Zuschauer wahrnimmt:

„Es ist nur wie ein inneres Innehalten und Loslassen nötig, und alles Erlebte tritt etwas zurück. Es ist als tauche man etwas daraus auf und blicke von außen darauf. Es ist jenes Erlebnis, das man haben kann, wenn man im Kino ganz in die spannende Handlung eines Films vertieft ist und plötzlich aufblickt, das Publikum und die Leinwand betrachtet, auf der nach wie vor der Film spielt, der aber plötzlich nicht mehr jener mitreißende, eigentlich als aktuelle Wirklichkeit erlebte Strom ist, in dem das Bewusstsein gerade noch mit strömte, sondern der plötzlich nur noch ein Film ist, betrachtet von einem Publikum. Das, was wir Bewusstseinsinhalt nennen, ändert sich durch dieses Innehalten nicht, nur meine Einstellung dazu ändert sich. Ich nehme plötzlich nicht nur den Bewusstseinsinhalt (den Film) wahr, sondern auch das bewusst sein (das Sitzen im Kino) und die Abhängigkeit und Bedingtheit des Inhaltes in diesem Bewusstsein.“ [Hervorhebung H.N.]


Und nun entschlüsseln sich für ihn all jene Mythen und spirituellen Weisheiten, die in paradoxen Formeln von einem höheren Bewusstsein sprachen: „In dieses reine Bewusstsein fällt die ganze Erleuchtungsrhetorik zusammen. Es ist immer nur wieder eine Beschwörung dieses Nichts des reinen Bewusstseins.“

Und was bedeutet dies für das Welterleben?

„Sich der Welt in dieser Weise erlebend gegenüber zu stellen bedeutet nicht, die Welt zu ändern, sondern nur, sie nicht als Geschehnis sondern als Erlebnis wahrzunehmen und sie so zugleich als etwas unmittelbar eigenes aber auch nur bedingtes zu erkennen. [...] Es ist vielmehr eine ganz grundlegende Erfahrung der Einheit, bei der Karma, Spiritualität, Philosophie und Biographie erst beginnen können, sich im eigentlichen Sinne frei zu entfalten.“

„von anderen Strömungen überholt“

Laut Grauer zielen die verschiedensten spirituellen Ansätze auf „diese Erfahrung des Absoluten“ – darunter auch der anthroposophische Schulungsweg, auch wenn Grauer in eine völlig andere Richtung geleitet worden war:

„Jene Anthroposophie, von der mich abzulösen der Beginn der Entwicklung war [...], führte umfangreiche und komplexe Vorstellungen einer geistigen Welt und ihrer imaginativen, inspirativen und intuitiven Erschließung mit sich. Diese Fülle an präsupponiertem Inhalt, verbunden mit einer pathetischen und teleologischen Entwicklungsrhetorik und der Vorstellung eines primär visionären Charakters einer spirituellen Bewusstseinserweiterung, verstellte mir im Grunde komplett den Zugang zu dieser Erlebnisqualität reiner Bewusstheit. [...] Ich erwartete als Anthroposoph tatsächlich, dass sich im Dunkel der von allen sinnlichen Wahrnehmungen abgeschotteten Innerlichkeit die Vision geistiger Inhalte einstellte und gleichsam nur eine zweite Form der Wahrnehmung die erste ersetzte und ergänzte.“


Während seine Anthroposophie „mit Finalität und Bedeutung“ überfrachtet war, begannen ringsum spirituelle Strömungen „aus alten oder neuen Quellen schöpfend dem modernen Bewusstsein in unterschiedlichsten Meditationsformen jene Bewusstseinsschicht freizulegen [...], die ganz unprätentiös die Tür zu demjenigen öffnet, das in der anthroposophischen Terminologie als geistige Welt bezeichnet wird.“

Hatte Grauer bisher immer konsequent von seiner, von ihm gepflegten Anthroposophie usw. gesprochen, so beendet er diesen Teil mit einer Abrechnung gegenüber der von Rudolf Steiner selbst gegebenen Anthroposophie:

„Bedauerlich ist dies im Rückblick insbesondere deswegen, weil außer Frage stehen muss, dass Rudolf Steiner diese Tür kannte und nutzte, sie ihm vielleicht wie kaum einem Anderen in unserer Zeit eine gleichsam angeborene Selbstverständlichkeit war. Dies zeigen die durchaus vorhandenen Bemühungen von Steiner, Wege zur geistigen Schulung zu weisen. Dass diese Bemühungen nicht fruchteten sondern Steiner durch seinen auf die Welt zurück gewendeten, sie als geistiges Ereignis verstehenden anthroposophischen Impuls einen ganzen Kosmos der Weltdeutung erschuf, unter dem dieser Zugang gleichsam begraben liegt, das könnte seinen Grund auch darin haben, dass Steiner selbst kein Bewusstsein davon hatte, welcher Schritt normalerweise erforderlich ist, um in einem gewöhnlichen Alltagsbewusstsein diese Schicht aufzufinden, da sie für ihn vielleicht immer schon offen lag. Jedenfalls hat sein Werk bei allen sonstigen erstaunlichen Wirkungen auf diesem Gebiet historisch versagt und wurde von anderen Strömungen überholt. [...] Die Anthroposophie [...] ist bepackt mit einer unglaublichen Fülle an theoretischem spirituellem Inhalt und davon inspirierten praktischen Kulturtechniken [...] aber dennoch bleibt sie vor den Toren der viel beschworenen geistigen Erfahrung stehen.“

Krankhaftes Erleben

Grauer liest also in jungen Jahren Nietzsche und wird dadurch im Laufe von zehn weiteren Jahren in existentielle, krankhafte Zweifel gestürzt: Die Realität wird zur Attrappe, hinter der sich das gähnende Nichts ausbreitet... Dieser Zustand wird biografisch dann von einer schweren Krankheit gefolgt. In diesem Ausnahmezustand entdeckt Grauer das „reine Bewusstsein“: Das Nichts als „reine Stille“.

Was liegt hier vor? Grauer entdeckt laut eigenen Angaben das Bewusstsein als Erleben für sich, vor jedem Inhalt. In diesem Bewusstsein erlebt er die Grundlage des gesamten Welt- und Selbsterlebens. Er hat diese Anschauung in seiner Schrift „Am Anfang war die Unterscheidung“ (2007) detailliert dargelegt (>> ausführliche Buchkritik).

Man könnte bei „reinem Bewusstsein“ an das Erleuchtungserlebnis im Zen-Buddhismus denken, vielleicht auch an das „Nirvana“ im Buddhismus. Bezeichnend jedoch ist, dass Grauer diese Bewusstseinsschicht weiterhin als eine solche darstellt, „für welche die Gegenstände der Welt da draußen nur Attrappen aus Pappe“ sind. Es ist, als hätte sich das krankhafte Erleben der existentiellen Depression mit diesem neuen Erleben verbunden – als hätte das gähnende Nichts Einlass in jenes „reine Bewusstsein“ gefunden.

Das angeblich „reine Bewusstsein“ ist für Grauer Quelle jeglichen inhaltlichen Erlebens. Da nun der „Beobachter“ erwacht ist, erlebt Grauer die Ereignisse nicht mehr als „mitreißendes“ Geschehen, sondern als (bewusst eigenes) Erlebnis. Er wird zum Zuschauer, die Wirklichkeit zum Film...

Man kann voraussagen, dass eine solche Erlebnisart früher oder später in die nächste, schwere biografische Krise führen muss. Ein Erleben der Wirklichkeit, das hinter das Selbsterleben (des Beobachters) zurücktritt – in einem Maße, dass es als „Film“ bezeichnet werden kann – führt notwendigerweise in einen furchtbaren Egoismus oder zumindest in einen Zustand der „Selbstverklebtheit“: Man kommt überhaupt nicht mehr von sich, von seinem Erleben als Beobachter los. Primär ist immer das „Wissen“, das man selbst der Beobachter ist, dass die „Wirklichkeit“ ein weitgehend bedingter „Inhalt“ ist und so weiter...

Worum es sich hier handelt, ist nicht etwa der Durchbruch in einer spirituellen Entwicklung, sondern im Grunde das Gegenteil. Spirituelle Entwicklung soll immer mehr mit der Wirklichkeit verbinden: Man taucht immer mehr in das Wesenhafte der Dinge, der Wesen, der Vorgänge ein... Man verliert sich nicht, aber man findet die Welt, immer tiefer, immer reicher, immer wesenhafter. Grauer jedoch beschreibt ein Kino – er hat „sich“ als Beobachter gefunden und die Welt ist das Theater, wird wesenloses Schauspiel, Erlebnis. Es ist kein Geschehen der Wirklichkeit mehr, dessen Geheimnissen ich mich mehr und mehr nähern kann – es ist ein konstruktivistisches Erlebnis, in dem ich die Hauptperson bin, weil ich der „Zuschauer“ bin, der das Stück wesentlich beeinflusst. Ich finde nicht die Welt, ich erlebe immer nur (oder vor allem) mich selbst...

Ungeheure Arroganz

Wer dies als spirituelle Entwicklung versteht, der ist zu bedauern – wer dies gar als Anliegen der Anthroposophie darstellt, ist ihr vielleicht schlimmster Gegner.

Die mit Grauers „Entdeckung“ einhergehende ungeheure Arroganz des sich für erleuchtet haltenden Selbsterlebens zeigt sich in der „Beurteilung“ Rudolf Steiners: Natürlich habe auch er Grauers „Entdeckung“ gekannt, was seine „durchaus vorhandenen Bemühungen, Wege zur geistigen Schulung zu weisen“ zeigten. Diese fruchteten jedoch nichts, vielmehr habe Steiner den Zugang durch „einen ganzen Kosmos der Weltdeutung“ begraben, möglicherweise, weil er „kein Bewusstsein davon hatte“, wie ein gewöhnliches Alltagsbewusstsein diese Bewusstseinsschicht finden kann. „Jedenfalls hat sein Werk [...] historisch versagt.“

Hier kann man nur sagen: Wer so schreibt, hat von Anthroposophie nichts verstanden. Mit seiner Zuschauer/Kino-Entdeckung wähnt Grauer sich auf gleicher Stufe bzw. sogar klarblickender als der große  Eingeweihte. Er stellt den Begründer der Anthroposophie als Witzfigur dar, der mit all seinen Bemühungen in die völlig falsche Richtung arbeitete...

Wenn Grauer noch einmal zu seinem so hochgelobten Zweifel zurückkehren könnte, würde er erkennen können, dass es vielleicht er ist, der den Aufruf und das Wesen der Anthroposophie noch immer nicht verstanden hat. Was Grauer an „Bewusstsein“ verwirklicht, ist nicht das Anliegen der Anthroposophie, sondern führt geradezu in ihr Gegenteil. Dass Rudolf Steiners Bemühungen so wenig „fruchteten“, liegt nicht daran, dass er den eigentlichen Zugang geradezu verschüttet hat, sondern dass der Weg, den er in aller Klarheit gewiesen hat, viel schwerer ist als die Verwirklichung der „Kino-Bewusstseinsschicht“ und dass dieser Weg von niemandem wirklich gegangen wird.

Grauer wähnt sich im Besitz des Schlüssels zu den spirituellen Erfahrungen aller esoterischen Strömungen und stellt sich nicht einen einzigen Augenblick mehr die Frage, ob Steiners über 360-bändiges Lebenswerk vielleicht mehr sein könnte als „Weltdeutung“.

Was Grauer einen „Kosmos der Weltdeutung“ nennt, ist in Wirklichkeit der reale Kosmos der geistigen Welt – einer Welt, zu der zunächst nur der große Eingeweihte Zugang hatte. Wenn andere Menschen die von ihm gewiesenen Wege zur geistigen Schulung ernsthaft und entschlossen gehen würden, würden sich auch ihnen anfängliche Zugänge eröffnen. Dass es bei Rudolf Steiner nie um „Weltdeutung“, sondern um Beschreibungen der geistigen Wirklichkeit geht, bestätigt die Niederländerin Mieke Mosmuller – sie ist Rudolf Steiners Weg gefolgt und hat den Zugang gefunden...