01.07.2009

Einleitung

In meiner Buchbesprechung schrieb ich:

Es gibt Hunderte von Büchern über die Waldorfpädagogik. Vor diesem einen jedoch steht man staunend, nirgendwo habe ich zuvor ein solches gefunden. Man liest und erlebt eine wesenhafte Beschreibung von etwas; das Erleben des Lesers wird angesprochen, aufgerufen. Ganz real entfaltet sich ein Ideal – und im Leser beginnt eine Begeisterung zu erwachen, die nur vergleichbar ist mit jener, welche man empfinden kann, wenn man die pädagogischen Schriften von Rudolf Steiner selbst liest, als wenn es das erste Mal wäre...


Mittlerweile hat sich gezeigt, dass es durchaus nicht jedem Leser so geht... Es ist vielmehr so, dass die Reaktionen auf dieses Buch nicht gegensätzlicher sein könnten!

Was sind die Einwände?

- Das Ideal des Buches sei abstrakt und weltfremd, hätte mit der Wirklichkeit nichts zu tun und sei völlig unpraktikabel.
- Die Autorin sei ja überhaupt keine Waldorflehrerin, hätte also überhaupt nicht das Recht und/oder nicht die Kompetenz, sich zu äußern.
- Es gebe gute Waldorflehrer, die überhaupt keine Anthroposophen sind, und Waldorflehrer, die zwar gute Anthroposophen sind, aber als Lehrer völlig versagen.
- Das Ideal sei ja gut und schön, aber die Kritik, die das Buch auch enthalte, sei absolut unmöglich. Dieser Vorwurf differenziert sich weiter in folgende Gedanken:
- Die Autorin tue so, als wüsste sie alleine, was richtig ist, und entwerte alles andere.
- Kritisieren sei immer einfach, man solle erstmal selber tun.
- Die Kritik sei lieblos, zeuge von persönlicher Verbitterung, sei einseitig und destruktiv.
- Die Kritik mache eine bestimmte Schule und bestimmte Menschen unmöglich und sei schon von daher indiskutabel.
- Die Kritik spiele unmittelbar den Gegnern in die Hände.
- Der gravierende Substanzverlust und die mangelnde Vertiefung in der Waldorfbewegung sei ja unzweifelhaft, dennoch müsse man die Situation nehmen wie sie ist.
- Kritik lähme und ändere nichts. Man könne Dinge nur verbessern, indem man vom Positiven und von vorhandenen Ansätzen ausgeht und diese stärkt.


Wenn man diese Einwände auf sich wirken lässt, kann man geradezu zweifeln, ob man überhaupt von demselben Buch spricht... Es ist dasselbe Buch, aber die Gedanken darüber gehen bei verschiedenen Menschen diametral auseinander, und die Empfindungen reichen von tiefer Begeisterung bis zu tief antipathischer Verurteilung und völliger Ablehnung.

Im Folgenden gehe ich auf die genannten Einwände der Reihe nach ein.

Abstraktes, weltfremdes Ideal?

Das Ideal des Buches ist das Wesen der Waldorfpädagogik – eine lebendige, tiefe, reiche Erkenntnis des werdenden Menschen, aus der dann die Intuitionen für das Handeln des Erziehers quellen.

Der Vorwurf der Abstraktheit lässt sich nicht einmal im Ansatz aufrechterhalten, wenn man das Buch wirklich gelesen hat. Die Autorin geht immer wieder bis ins Einzelne auf ganz konkrete Fragen ein, die mit dem Wesen dieses Ideals zusammenhängen. Gerade diese Entfaltung des Ideals macht es so tief erlebbar...

Der Vorwurf der Weltfremdheit dürfte sich vor allem auf den ersten Teil des Buches beziehen, in dem eine völlig erneuerte Lehrerbildung entwickelt wird.

Dort heißt es gleich zu Beginn:

Junge Menschen, die sich zum Waldorflehrer ausbilden wollen, haben eine Sehnsucht nach dem Geist. Das muss so sein. Sie suchen eine wahrhafte Anthroposophie und hoffen, dass sie mit dieser in unserer Welt etwas Heilsames tun können. Auch wenn sie sich in ihrer Jugendzeit vielleicht ausgetobt haben, zuviel ferngesehen haben, am Computer hingen, viel Alkohol genossen haben usw. ... jetzt suchen sie eine Metamorphose dieser ihrer (Sehn)süchte, eine edle Metamorphose. An diesem Punkt sollte die so notwendige Erneuerung und Erweiterung der Waldorfpädagogik ansetzen. [...]
Die erste Qualität der Seele, diese wunderbare Fähigkeit, die erweckt werden muss, liegt in unserer Zeit tief in der Seele verborgen. Meistens ist sie gar nicht da, scheint nicht angelegt zu sein. Sie ist eine Qualität, die nicht von unserer Zeit ist. Sie ist als Anlage aber in jeder Seele anwesend und kann ausgebildet werden. Ein Mensch, der sich nach dem Geist sehnt, muss diese Qualität als Anlage haben, ja seine Sehnsucht ist eine Äußerung dieser Fähigkeit.
Es ist die Stimmung, die in ‚Wie erlangt man...‘ als Grundstimmung gefordert wird, als die erste Bedingung. Es ist die Stimmung der Ehrfurcht, der Devotion, der Ehrerbietung für alles Wahre, Schöne und Gute. Wer Kinder erziehen will, muss den Pfad der Verehrung gegangen sein.
Eine Klasse voller Engel, S. 30ff.


Und dann entwickelt die Autorin eine vier- bzw. fünfjährige Lehrerbildung, in der die Studenten sowohl diese grundlegenden Qualitäten, als auch ein tiefes Verständnis des physischen Leibes, des Lebens, der Seele und des Geistes entwickeln – und daneben und damit einhergehend ihre Phantasie, die Methodik, die Didaktik... Den Grund für alles andere legt jedoch jenes tiefe, breite und reale Verständnis für das Menschenwesen – für das, was dem Waldorflehrer jeden Tag begegnen wird.

Wer dies als Grundlage leugnet oder heute für unmöglich bzw. weltfremd erklärt, der leugnet das Wesen der Waldorfpädagogik – oder er glaubt, dass es mit einigen Seminarstunden über die „Allgemeine Menschenkunde“ getan ist...

Das eben ist es gerade, was Mieke Mosmuller kritisiert: In der heutigen Ausbildung wird das „anthroposophische Menschenverständnis“ durch die „Menschenkunde“ und/oder die „Theosophie“ von außen an die Studenten herangebracht (in den ersten Stunden evtl. „freilassend“ als „Arbeitshypothese“ oder „Denkangebot“, was an der Tatsache jedoch nichts ändert). Dieses „von außen“ ist aber die Grundlage aller Dogmatik. Und gerade hier liegt die Abstraktion – nicht bei Mieke Mosmuller.

Man nimmt nicht lebendige Anthroposophie auf, wenn man die „Menschenkunde“ liest. Man braucht als Waldorflehrer die lebendige Menschenkunde, aber sie muss sich als eigenes Erleben langsam entwickeln können. Genau das ist es, was in einer neuen Lehrerbildung stattfinden könnte.

In Bezug auf andere Literatur zum Erüben der Ehrfurcht und des guten Willens schreibt die Autorin:

Es muss gelernt werden, nur kleine Abschnitte zu kosten und dann den eigenen Willen mit dem Gelesenen zu erfüllen, zum Erglühen zu bringen. Der gute Wille ist allem gewachsen, nichts ist ihm zu groß oder gewaltig. Das muss man in der Gruppe – mit dem Lehrer – empfinden lernen.
Eine Klasse voller Engel, S. 43.


Einer solchen völlig erneuerten Lehrerausbildung liegt jede Dogmatik und jede Abstraktion fern. Sie wäre jedoch – und damit macht sie Ernst – nur für Menschen, die wirkliche Waldorflehrer werden wollen. Bedingung dafür ist nicht, dass man schon in der Ausbildung mit der „Theosophie“ oder auch nur der „Allgemeinen Menschenkunde“ in Berührung käme, sondern nur der Wille, das Grundlegendste wirklich entwickeln zu wollen: Die Ehrfurcht, den guten Willen, ein immer tieferes Verständnis...

Und so schreibt Mieke Mosmuller:

[Wenn] eine Abneigung gegen die wahre Anthroposophie, gegen die Heiligung der Seele, spürbar wird, sollte von dem weiteren Studium abgeraten werden.
Eine Klasse voller Engel, S. 80.


Wenn man diese Grundlage ablehnt, dann möge man auch das Buch ablehnen und glauben, wahre Waldorfpädagogik wäre ohne diese Grundlage möglich. Dann aber möge man auch Rudolf Steiner selbst und seine eigenen Worte ablehnen:

Es gibt nur eine Stimmung gegenüber dem Kinde, welche die richtigen Impulse zum Erziehen und Unterrichten gibt; und das ist gerade dem Kinde gegenüber die religiöse Stimmung.
Rudolf Steiner, 19.8.1922, GA 305, S. 71f.

Und das ist es, was ich weiß, daß ich es nicht brauche zu sagen in irgendeiner auffordernden Weise, sondern nur auszusprechen brauche als eine Tatsache, daß Ihr, meine lieben Lehrer, diese Kinder heranzieht und unterrichtet in dem Sinne, daß sie von Euch wirklich ihr ganzes Leben hindurch empfinden werden, Ihr seid diejenigen Wohltäter, die das selbst sein können durch die Kraft, welche in Ihre Herzen dringt von dem Mysterium von Golgatha.“
Rudolf Steiner, 24.4.1923, GA 298, S. 169, Feier zum Beginn des fünften Schuljahres.


Mieke Mosmuller geht es nur um diese Grundlagen – sie aber wären in einer erneuerten Lehrerausbildung umfassend und kräftig auszubilden. So würden die werdenden Lehrer auf ganz eigenständige Weise in sich selbst die lebendige Anthroposophie entwickeln können. Mieke Mosmuller macht Halt vor all jenen Schritten der heutigen Ausbildungsstätten, die die Anthroposophie von außen an die Studenten heranbringen zu können glauben – teilweise bis hin zu den „Nebenübungen“. Dem entgegnet sie:

Natürlich kann ein junger Mensch die Nebenübungen machen. Er muss dann aber selbst dazu kommen und auch selbst versuchen, die Übungen zu gestalten. Er kann dann Hilfe suchen, wenn er das nötig hat. Die Übungen können aber nicht außerhalb der Esoterik bearbeitet werden, auch wenn es Nebenübungen sind. Es sind ja Übungen zur Ausbildung der Lotusblumen, und das ist etwas sehr, sehr Heiliges. Das kann nicht in einem Studium doziert werden, wenn nicht zuvor eine umfangreiche Erweckung der Ehrfurcht und des guten Willens stattgefunden hat.
Man sperrt die Seele in unübersteigbaren Grenzen ein, statt sie über sich selbst hinaus zu entwickeln.
Eine Klasse voller Engel, S. 78.


Das Buch „Eine Klasse voller Engel“ entfaltet das wunderbare Ideal der Waldorfpädagogik – und entwickelt eine erneuerte Ausbildung, in der es vor allem um dieses Ideal und seine Lebensgrundlagen geht. Dieses Ideal ist kein Abstraktum, es ist das Konkreteste, was es gibt.

Jeder wahre Waldorflehrer trägt etwas von diesem Ideal in sich – Mieke Mosmuller zeigt von verschiedenen Seiten her immer wieder, dass dies die Grundlage der Waldorfpädagogik ist und dass das Wesen der Waldorfpädagogik sich nur dann entfalten kann, wenn dieses Ideal umfänglich entfaltet werden kann. Waldorflehrer wird man in dem Maße, in dem dieses Ideal im eigenen Wesen zu einer lebendigen, wirkenden Realität zu werden beginnt.

Dann bilden Ideal und Wirklichkeit eine Einheit – und das Wesen der Waldorfpädagogik tritt in die Erscheinung...

Keine Kompetenz, sich zu äußern?

Allein schon durch das zuvor Gesagte zeigt sich die Haltlosigkeit dieses nächsten Vorwurfes. Wenn ein Mensch das Ideal der Waldorfpädagogik so tief fasst wie Mieke Mosmuller, dann ist das Gerede von „fehlender Kompetenz“ nichts weiter als ein Totschlagargument – und wirft ein bezeichnendes Licht auf die Menschen, die es äußern.

Selbst wenn man außer Acht ließe, dass die Autorin auf eine derart außergewöhnliche Weise das Ideal der Waldorfpädagogik erfasst und zudem noch ausführliche Hinweise für eine erneuerte Lehrerbildung gibt, würde sich die Frage stellen: Warum sollte eine auf dem inneren Schulungsweg weit fortgeschrittene Anthroposophin nicht über die Waldorfpädagogik schreiben können? Etwa weil sie keine Waldorflehrerin ist? War Rudolf Steiner Waldorflehrer? Und wie wird man Waldorflehrer? Indem man eine Ausbildung macht? Indem man Kinder unterrichtet? Nein, sondern der Mensch wird ein guter Erzieher vor allem durch dasjenige, was er ist.

In solchen Scheinargumenten, die der Autorin die „Kompetenz“ absprechen wollen, lebt nichts anderes als die Furcht vor dem lebendigen Geist. Wer die reale Anthroposophie verwirklicht, lebt erkennend im Wesen einer Sache. Mieke Mosmuller muss nicht den Beruf des Waldorflehrers ergriffen und praktiziert haben, um über das Wesen der Waldorfpädagogik schreiben zu können. Das Buch selbst ist der schönste Beweis dieser Tatsache.

Waldorflehrer und Anthroposophie?

Mit Blick auf das angeblich „weltfremde Ideal“ wird auch damit argumentiert, dass es viele gute Waldorflehrer gebe, die überhaupt keine Anthroposophen seien, und auch viele „gute Anthroposophen“, die als Lehrer versagen würden.

Dazu ist zu sagen: Grundsätzliche Wahrheiten lassen sich nicht durch einzelne „Gegenbeispiele“ widerlegen (niemand wird zum Beispiel behaupten, Fahrschulen seien unnötig, bloß weil einzelne Menschen sich das Autofahren irgendwie selbst beigebracht haben). Darüber hinaus aber ist die Frage, ob es sich hierbei überhaupt  um Gegenbeispiele handelt.

Was versteht man unter „guten Waldorflehrern“? Ein begeisterter Lehrer, der seine Kinder liebt und intuitiv erkennt, was sie gerade brauchen, ist – wenn es wirklich so ist – in der Tat ein guter Waldorflehrer. Man könnte auch sagen: Ein pädagogisches Naturtalent. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass vielen Lehrern entweder die Begeisterung oder die Liebe oder die Erkenntnis fehlt – und dass es eine andere Ausbildung bräuchte, in der es gerade um diese Grundlagen geht!

Und noch einmal sei wiederholt, dass gerade in der von Mieke Mosmuller entworfenen Lehrerbildung keine „Anthroposophen“ ausgebildet werden sollen. Doch gerade hier entwickeln die werdenden Lehrer so viel guten Willen, Begeisterung und auch lebendige Erkenntnis, dass sie in diesem Sinne zugleich (gute) Waldorflehrer und Anthroposophen werden, ohne dass sie sich mit dem letzteren Namen bezeichnen müssen, der heute so missverstanden und auch missbraucht ist...

Was jene Lehrer angeht, die heute zwar „gute Anthroposophen“ sind, aber pädagogisch eher versagen, so liegt auch dies ganz und gar daran, dass man kein guter Lehrer sein kann, wenn man nicht die entsprechenden Fähigkeiten entwickelt hat. Durch die Beschäftigung mit der Anthroposophie allein (erst recht, wenn sie theoretisch-abstrakt erfolgt) wird man noch kein guter Lehrer. Aber auch diese Binsenweisheit kann nicht gegen das Buch gewendet werden. Denn – nochmals wiederholt – in einer Ausbildung, wie sie Mieke Mosmuller entwickelt, würden keine „guten Anthroposophen“ ausgebildet, sondern wahre Waldorflehrer – mit all jenen Fähigkeiten, wie sie die eingangs erwähnten Naturtalente haben...!

Die Kritik – absolut „unmöglich“?

Teilweise wird das Ideal des Buches anerkannt, aber man stößt sich an der Kritik, die das Buch auch enthält. Teilweise benutzt man die „Kritik an der Kritik“, um zugleich damit auch das Ideal „vom Tisch zu wischen“. Teilweise erkennt man schon das Ideal an sich nicht an – und dann ist die Kritik natürlich erst recht völlig unmöglich...

Warum aber sollte man keine Kritik üben dürfen? Heute ist „Kritikfähigkeit“ als Kompetenz in aller Munde – aber es scheint doch schlecht um sie bestellt zu sein. Schon immer wurden unliebsame Wahrheiten mit allen möglichen Mitteln unter Verschluss gehalten – oder verketzert. Früher wurde der Überbringer schlechter Nachrichten enthauptet... Das ist heute zum Glück etwas anders, der Umgang mit der Wahrheit jedoch hat sich in vielen Fällen nicht geändert.

Immer wieder greift in Bezug auf unliebsame Wahrheiten ein kollektives Verhalten, dem die Regel zugrunde liegt, dass „nicht sein kann, was nicht sein darf“. Es scheint, als glaube man, dass das Problem schon dadurch verschwindet, dass man nicht darüber spricht...

Weiß etwa nur die Autorin, was richtig ist?

Das ist natürlich ein höchst willkommenes „Argument“ gegen jeden kräftig geäußerten Gedanken... Die Schwäche dieses Arguments ist schnell erwiesen: Es besagt überhaupt nichts!

Wenn es jemandem wirklich um die Wahrheit geht, sollte er seine persönlichen Antipathien tunlichst ausschalten. Reagiert man schon antipathisch, bloß weil jemand auf eine Art auftritt, als sei von ihm die Wahrheit beschrieben, gehört man eben nicht zu den Wahrheitssuchern, denn was wäre, wenn die Autorin Recht hätte? Das könnte doch sein? Wenn man das allein schon aufgrund des Stils – schlimmer noch: aufgrund der eigenen subjektiven Wahrnehmung dieses Stils! – ausschließt, zeigt dies nur, wie wenig man selbst zur Unvoreingenommenheit fähig ist (eine Nebenübung!).

Mieke Mosmuller weist darauf hin, dass die heutigen Ausbildungen die Ausbildung grundlegender Fähigkeiten vernachlässigen bzw. mit falschen Ansätzen verfolgen. Diesen Gedanken kann man ernst nehmen oder nicht. Aus ihm folgt jedoch zwangsläufig, dass die heute existierenden Ausbildungen einen falschen Ansatz gewählt hätten! Denn in der Tat haben sie alle ähnliche Ansätze – und keiner gleicht auch nur ansatzweise dem, was Mieke Mosmuller auf sehr klare und völlig nachvollziehbare Weise entwickelt. Wenn man sich dann darüber aufregt, „Mieke Mosmuller tue so, als ob sie allein Recht habe“ – nun, bitte, dann soll man sich darüber aufregen...

Es gibt viele Menschen, die erkennen, dass Mieke Mosmuller Recht hat. Wenn man dies jedoch nicht sieht und nicht sehen will (und auch all jene „übersieht“, die ihr zustimmen), dann allerdings hätte sie leider „allein Recht“. Das aber wäre/ist erst der eigentliche Skandal, denn es zeigt, dass man die Wahrheit gar nicht haben will... Man lehnt eine Wahrheit ab, macht weiter wie bisher und fragt verächtlich: „Sollte sie etwa allein Recht haben?“ Man braucht eine Wahrheit also nur lächerlich zu machen und in Isolation zu halten und kann sie dann mit diesem Argument bequem bekämpfen. Dafür gibt es in der Geschichte unzählige Beispiele: Kopernikus, Galilei, Goethe, Rudolf Steiner...

„Kritisieren ist einfach...“

Natürlich – auch dies ist eine Binsenweisheit. Man übersieht aber auch hier, dass dieses Argument auf das Buch von Mieke Mosmuller kaum anwendbar ist. Es trifft jene, die immer bloß kritisieren, ohne zu sagen, wie man es besser machen kann. Mieke Mosmuller dagegen entfaltet ein ganzes Konzept einer völlig neuen Lehrerbildung und gibt viele weitere Hinweise. Gegen diese Tatsache kann man sich nur wehren, indem man sie irgendwie vom Tisch wischt („weltfremd“).

Tatsache ist, dass die eigentliche Kritik an der heutigen Waldorfpädagogik nur einen kleineren Teil des Buches ausmacht – und dass das Buch gerade dann in gewisser Weise weltfremd oder zumindest abstrakt geblieben wäre, wenn es diese Realität nicht auch einbezöge!

Mieke Mosmuller kritisiert also nicht nur und nicht einmal in erster Linie – sie entwirft das konkrete Ideal der Waldorfpädagogik, und die Kritik beleuchtet nur die Tatsache, wie wenig dieses heute verwirklicht ist.

Dennoch versucht man, das Buch mit einem solchen Argument zu entwerten – und dehnt es auf die Tatsache aus, dass die Autorin ja selbst gar nicht als Lehrerin arbeitet und versucht, in dem von ihr skizzierten Sinne zu wirken. Entscheidend aber ist doch die Frage: Ist das, was sie in ihrem Buch schildert (Kritik und/oder Ideal) wahr oder nicht? Wenn es wahr ist, spielt es überhaupt keine Rolle, ob Mieke Mosmuller selbst Lehrerin ist – denn das Buch ist nun einmal ein Aufruf an alle Lehrer, die Wahrheit und das Ideal zu ergreifen und zu verwirklichen. Wie schwer dies trotz allem ist, weiß die Autorin sicher am besten – entscheidend aber ist der Wille, es überhaupt zu tun...

Oben erwähnte ich bereits das Argument, mit dem der Autorin jede Kompetenz abgesprochen werden sollte, ein solches Buch überhaupt zu schreiben. Hier nun haben wir das Argument „Kritisieren ist einfach...“ Was nun? Ist „Kritisieren einfach“ oder hat die Autorin nicht einmal das Recht, etwas zu kritisieren? Hieran sieht man, dass die Argumente gegen das Buch einander sogar widersprechen – was den Eindruck verstärkt, dass sie vielfach ohne jede Grundlage an den Haaren herbeigezogen werden.

In diesem Zusammenhang muss man aber auch den Begriff „Kritisieren“ einmal grundsätzlich hinterfragen. Die Autorin schildert im mittleren Teil Zustände und Ereignisse, die dem Wesen der Waldorfpädagogik tiefgreifend widersprechen. Diese Zustände und Vorkommnisse sind an sich – in ihrer Realität – eine scharfe Kritik am Bestehenden. Man kann sagen: Gewisse reale Tatsachen, die in der Waldorfbewegung täglich geschehen, sind schon als Tatsache eine schlimme Kritik. Vor dem Auge der geistigen Welt ist das so. Im Irdischen braucht es Menschen, die diese Tatsachen auch aussprechen, damit ein Bewusstsein davon entstehen kann. Wenn man dies mit „Kritisieren ist einfach“ abtut, tut man der Waldorfpädagogik keinen Dienst – im Gegenteil, man verhindert das klare Bewusstsein über den Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit.

Gerade den Gegnern des Buches, die sagen „Kritisieren ist einfach“, wäre zu erwidern: „Kritisieren ist einfach“! Es ist wirklich sehr leicht, das Buch mit wenigen Worten abzutun. Schwerer ist es, sich mit den realen Tatsachen und mit den übrigen Gedanken der Autorin wirklich auseinanderzusetzen. Das muss man wirklich wollen...

Persönliche, einseitige, destruktive Kritik?

Auch mit diesem Argument bleibt man selbst im Subjektiven. Wenn man der Autorin vorwirft, sie würde aus einer persönlichen Verbitterung o.ä. schreiben, nimmt man eben die Tatsachen nicht zur Kenntnis. Mieke Mosmuller schreibt aus dem unmittelbaren Erleben des Ideals und sie schildert in einer objektiven Weise (nicht zu verwechseln mit Distanziertheit!) auch das, was diesem Ideal widerspricht.

Die „Kritik“ ist letztlich nichts anderes als eine Beschreibung von Symptomen, die ganz klar zeigen, wo überall die Anthroposophie als Grundlage der Waldorfpädagogik vollkommen fehlt – wo man also dem äußeren Schein nach (Lehrplan, Methodik usw.) von „Waldorfpädagogik“ sprechen kann, wo aber ihre Grundlage, ihr Wesen überhaupt nicht da ist...

Warum empfindet man die Erwähnung gewisser Tatsachen in dem Buch als derart schlimm? Weil diese Tatsachen selbst schlimm sind. Dann aber sollte man nicht ihre Erwähnung verteufeln und an dieser Erwähnung leiden – sondern an den Tatsachen selbst!

Das Buch enthält zum Beispiel Rückblicke von sechs ehemaligen Waldorfschülern – die sehr differenziert sind, insgesamt aber sehr negativ. Wenn der Leser schon beim Lesen dieser Rückblicke leidet (von wegen: „destruktive Kritik“ o.ä.), wie schlimm muss die Sache dann erst als reale Biographie dieser sechs Schüler sein? Um die Frage einmal ganz drastisch zu erleben, kann man an die jüngst bekannt gewordenen Fälle von Kindesmissbrauch durch katholische Priester denken. Was ist schlimmer – das Öffentlichwerden von Tatsachen oder der Missbrauch als solcher?

Dass man beim Lesen der sechs Schülerrückblicke an den „Schaden für die Waldorfbewegung“ denkt und nicht an jeden einzelnen dieser sechs Schüler, ist bereits ein Teil der „Krankheit“, die Mieke Mosmuller in ihrem Buch schildert.

Man dürfte diese Rückblicke zunächst gar nicht als „Kritik“ lesen, sondern rein, wie es dasteht – als Wahrnehmung und Erleben ehemaliger Schüler. Dann kann doch wirklich ein großer Schmerz über einen kommen? Wenn man das Ideal der Waldorfpädagogik und die Kinder und jungen Menschen liebt, dann wird man selbst doch auch furchtbar (mit)leiden, wenn man miterlebt, dass ehemalige Schüler so auf ihre Schulzeit zurückblicken? Wenn man beim Lesen jedoch an etwas anderem mehr leidet, wäre das sehr bezeichnend...

Ein anderes Argument ist dann, die Kritik sei einseitig, die Autorin hätte überhaupt nicht das Positive geschildert. Das stimmt nicht. Sie schildert eine wunderbare Kindergärtnerin (die allerdings gerade keine „Anthroposophin“ war und daher auch nicht die „richtigen Anthroposophenkinder“ in ihre Gruppe bekam!). Sie schildert einen „geborenen Klassenlehrer“, den sie auch – bei Schwierigkeiten mit gewissen Eltern – immer verteidigt hat. Allein dies zeigt schon, dass das Argument, die Autorin sei verbittert oder eine völlig undifferenzierte Kritikerin, völlig haltlos ist.

Die Ungeschminktheit der Schülerrückblicke tut weh – aber will man der Wirklichkeit etwa nicht ins ungeschminkte Auge sehen? Es ist sehr wichtig, dass diese sechs jungen Menschen mit der traurigen Frucht ihrer Waldorfschulzeit zu Wort kommen konnten. Es ist eine Wirklichkeit. Und außerdem hätte man sonst mehr noch als jetzt sagen können: „reine Behauptungen“, „völlig abstrakte Vorwürfe“ oder ähnliches...

Es stimmt auch nicht, dass das Buch durch seine Kritik und diese Rückblicke einseitig wird. Oder wenn doch, dann nur als Gegengewicht zu der großen Einseitigkeit, die in der Waldorfbewegung selbst zu finden ist. Denn dort wird ja doch immer wieder der Status Quo hingenommen und schöngeredet, ja es werden die eigenen Schwächen überhaupt nicht wahrgenommen! Ich frage mich, ob irgendeiner der damaligen Den Haager Lehrer weiß, dass in jenen sechs und vielen anderen jungen Menschen am Ende ein solches Erleben der Waldorfschulzeit zurückbleibt? Vielleicht hat man sie als „typisch schwierige junge Menschen“ in Erinnerung, vielleicht auch gar nicht? Aber mit Sicherheit waren das nicht einmal die „schlimmsten Fälle“. Welchem Lehrer sind diese Dinge überhaupt bewusst?

Erst (und vor allem) an solchen Rückblicken kann man wirklich unmittelbar erleben, wie gerade die zentralen Elemente der Waldorfpädagogik völlig vernachlässigt werden. Und deswegen wäre auch nicht „das richtige Gleichgewicht hergestellt“, wenn das Buch noch sechs weitere Biographien enthielte, wo die Schüler nicht einen deutlichen „Schaden fürs Leben“ mitbekommen haben, sondern positiv auf ihre Waldorfzeit blicken. Wenn man für die Waldorfpädagogik wirken will, muss man vor allem erkennen, wo der Kern dieser Pädagogik missachtet wird. Eben dies zeigt sich an den Schicksalen dieser jungen Menschen. Selbst wenn es nur die Minderheit wäre, der es so ergangen ist, ist doch jedes einzelne dieser Schicksale eines zu viel!

Lieblose Kritik?

Man kann nun argumentieren: Das Verständnis, das die Autorin für die Kinder „fordert“ – hat sie es denn selbst gegenüber den Lehrern? Sieht sie nicht, wie auch die Lehrer immer nur werdende Menschen sind, Menschen mit all ihren Schwächen?

Bei diesem Argument stellt sich schon die Frage, ob man wirklich die gleichen Maßstäbe, die bezüglich des Verhältnisses zwischen Waldorflehrern und Schülern gelten müssten, auf die Lehrer selbst anwenden will? Der Waldorflehrer muss das Wesen des werdenden Menschen gründlich kennen und lieben, um überhaupt erziehen zu können. Er muss Milde und Verständnis für die „Schwächen“ der Kinder haben, die noch gar keine Schwächen sind, weil das Wesen des Kindes ja gegen alle Hindernisse erst in Erscheinung treten will – und die Aufgabe des Lehrers ist, ihm hierbei beizustehen! Der Lehrer muss sich also, um seine Aufgabe überhaupt erfüllen können, schon viel weiter entwickelt haben... Man wird dies von ihm erwarten dürfen und müssen...

Und dennoch ist dies nicht der Punkt, um den es geht. Mit dem Argument, die Autorin solle ihren „Maßstab“ auch gegenüber den Lehrern selbst anwenden, macht man nicht nur völlig Ungleiches gleich, sondern man verkennt (unwissentlich oder absichtlich) sogar ganz und gar die Ebene, um die es geht.

Natürlich sind alle Menschen immer nur Werdende. Die Frage aber ist: Erkennt man überhaupt alles, was die Autorin als Widerspruch zum Ideal schildert, als solchen Widerspruch? Das ist eigentlich die entscheidende Frage. Denn wenn man dies nicht (an)erkennt, hieße das, dass man in seinen Schwächen und Fehlern verharren will. Mieke Mosmuller schildert nicht nur konkrete Geschehnisse, die jeder unmittelbar als schlimm erkennen wird, sie schildert auch Symptome einer „Waldorfkrankheit“, und die Frage ist: Erkennt man diese Krankheit als solche?

Eine andere Frage ist: Will sich der einzelne Lehrer überhaupt entwickeln? Als Mensch? Im Sinne der lebendigen Menschenerkenntnis? Im Sinne einer zunehmenden „Heiligung“? Wie weit geht der Wille des Lehrers? Und wie weit geht dieser Wille im Kollegium? In der Waldorfbewegung insgesamt?

Und auf der anderen Seite: Wie weit glaubt der Lehrer, immer schon zu wissen, was gut und richtig für die Kinder ist? Inwieweit verdrängt er täglich seine eigenen Schwächen? Inwieweit urteilt er über Schüler viel zu leichtfertig – allein und im Kollegium? Inwieweit entsteht aus alledem eine ganz andere, dem Streben entgegengesetzte Realität, die eine innere Entwicklung hemmt und verhindert? Einzeln, im Kollegium, in der Waldorfbewegung insgesamt?

Das ist die Ebene der Fragen, die das Buch „Eine Klasse voller Engel“ aufwirft – nirgendwo geht es um Persönliches. Keine persönliche „Forderungen“, keine persönliche „Kritik“, sondern viel grundsätzlichere Fragen...

Mieke Mosmuller will also keinen einzigen Lehrer verurteilen, sondern auf etwas ganz anderes hinweisen: Unabhängig vom einzelnen Lehrer werden die lebensnotwendigen Grundlagen der wahren Waldorfpädagogik nicht gepflegt. Nur deshalb gibt es solche Biographien und Rückblicke, bei denen man wirklich furchtbar mitleiden muss, wenn man es ernst meint. Das dürfte alles gar nicht sein!

Man kann also größtes Verständnis für den einzelnen Lehrer und die größten Schwächen haben – und man sollte der Autorin dieses Verständnis unbedingt zutrauen –, doch wofür man kein Verständnis haben darf, ist, dass diese Dinge „normal“ sind, dass sie zugelassen werden, dass sie sich wiederholen, dass sie einen nicht wirklich kümmern, dass man also an diesen Dingen eben gerade nicht tief leidet.

Und was passiert stattdessen? Es gibt um das Buch einen Riesenaufruhr und man wirft der Autorin vor, dass sie von solchen Dingen schreibt und die schöne, erfolgreiche Waldorfpädagogik beschmutzt. Man macht aus ihr die „böse Kritikerin“, die „persönlich enttäuscht“ sei, und verdreht so die Dinge um 180 Grad!

Das Verständnis für das individuelle menschliche Versagen, die mangelnden Kräfte usw. ist bei Mieke Mosmuller mit absoluter Sicherheit in voller Stärke da. Worüber sie in ihrem Buch schreibt, ist aber etwas anderes – es ist etwas, mit dem sich die Waldorfbewegung als ganze auseinandersetzen muss. In diesem Buch war es notwendig, das Ideal zu entfalten und daneben die ungeschminkte Realität zu schildern – nicht aus Böswilligkeit, nicht aus persönlicher Kritik, nicht aus Einseitigkeit, sondern aus tiefem, aber gewissermaßen unpersönlichem Leiden daran.

Dieses Buch sollte keine Anklage sein, sondern eine Krankheitsdiagnose. Nur in fragwürdigen esoterischen Gemeinschaften ist eine Diagnose zugleich eine Kritik, eine Anklage. ‚Krankheit beruht auf Fehlern und Sünden in einer vorigen Inkarnation‘ ist dann der zusammenfassende Satz. Nicht, dass er nicht wahr sein kann, gelten kann er für einen Arzt jedoch nie, denn das ganze Verhalten würde lieblos.
Eine Klasse voller Engel, S. 361.


Man kann also nicht von Einseitigkeit oder mangelnder Liebe sprechen. Sogar am Christuswesen selbst kann man doch erleben, dass es nicht nur um Milde und Liebe geht – das wäre eher buddhistisch –, sondern auch um die Apokalypse, die Scheidung der Geister, das „Ändert Euren Sinn“.

Und wenn man an die scharfe Kritik Rudolf Steiners denkt, die er auch gegenüber den ersten Waldorflehrern immer wieder äußern musste (musste!),

[...] und wenn man die Nachschriften der Konferenzen liest, sieht man, wie er eingreifen musste, wie mild sein Urteil über die Kinder, wie scharf sein Urteil über die Lehrer war.
Eine Klasse voller Engel, S. 206.

– ist es denn dann auch so, dass er zu wenig Liebe und Verständnis walten ließ? Nein, auch er hatte innerlich immer das größte Verständnis für alles, was menschliche Schwäche ist. Aber um der Sache willen musste er ungeschminkt aussprechen, wie stark man gegen das Ideal, die Idee (gemäß der man doch handeln wollte) und die Kinder sündigte...

In genau diesem Sinne geht Mieke Mosmullers Frage (in Gestalt ihres Buches) an die Wurzel: Ist das, was heute „Waldorfschule“ heißt, vom Wesen her wirklich Waldorfpädagogik? Oder ist der lebendige und lebensnotwendige Kern dieser Pädagogik überhaupt nicht ergriffen? Es ist wirklich christlich-michaelisch, die Frage so grundsätzlich aufzuwerfen...

Wird man mit dieser Frage auch christlich-michaelisch leben können?

Kritik an einer bestimmten Schule und bestimmten Menschen?

Neben allen anderen Argumenten wird der Autorin auch vorgeworfen, sie schildere im Zusammenhang mit ihrer Kritik Geschehnisse an einer bestimmten Schule, gehe auf eine bestimmte Ausbildungsstätte ein, erwähne bestimmte Menschen...

Das ist ja heutzutage vielleicht sogar das gewichtigste Argument. Gerade in „anthroposophischen Zusammenhängen“ ist sogenannte „persönliche Kritik“ (also Kritik, die sich, selbst wenn sie objektiv ist, auf eine bestimmte Person bezieht) ein sehr großes Tabu. Im Grunde hat man hier das Paradigma der „Diskursethik“ und das Dogma des „wir sind alle immer nett zueinander“ miteinander verschmolzen und auf die Spitze getrieben. Was dabei auf der Strecke bleibt, ist die Wahrheit – und die Wahrhaftigkeit.

Das daraus entstehende Dogma „persönliche Kritik ist tabu“ bezieht sich sowohl auf einzelne Menschen, als auch auf einzelne Einrichtungen usw. – mit anderen Worten: In allgemeiner Form kann man gerne alles sagen, doch sobald es konkret wird, ist es tabu... Wenn man sich trotzdem äußert, bekommt man das Stigma des „unsozialen Kritikers“, ein Stigma, das dann ggf. noch „menschenkundlich“ oder „widersacherkundlich“ unterlegt werden kann – hier wird man dann gegenüber dem Kritiker wirklich (im schlimmen Sinne) persönlich...

Rudolf Steiner sagte zu dieser ganzen Frage einmal sinngemäß (der Wortlaut ist aus der Gedächtnisaufzeichnung einer Teilnehmerin einer Esoterischen Stunde):

... müssen wir als höchstes, heiligstes Gut, das wir haben, immer die Wahrhaftigkeit pflegen, niemals Konzessionen machen, die gegen die Wahrheit verstoßen, denn an der Wahrheit darf sich der Esoteriker nie versündigen. Es ist schrecklich und schwerwiegend, wenn ein Esoteriker die Wahrheit um der Brüderlichkeit willen verdreht, wenn er, um einen Menschen nicht zu kränken, die Wahrheit auch nur im Geringsten trübt, denn er schadet auch dem betreffenden Menschen damit. ... Wenn wir auch die Taten eines Menschen verurteilen müssen, den Menschen selber sollen wir nicht kritisieren, sondern ihn lieben.
Rudolf Steiner, 20.9.1912, GA 264, S. 336.


Mieke Mosmuller hatte den Mut, die Wahrheit zu schildern, obwohl es ihr mit Sicherheit schwer fiel, das Licht der Wahrheit auf diese Weise auf konkrete Menschen, auf eine konkrete Schule fallen lassen zu müssen.

Wem es ebenso um die Wahrheit geht, der sollte an der Wahrheit nicht so leiden, dass er die „Kritikerin“ bekämpft oder beschimpft! Überhaupt ist doch die Frage: Wie sollte sich Mieke Mosmuller denn anders äußern, als dass sie Erfahrungen schildert, die sie als Mutter an der Waldorfschule machte, die ihre Kinder besuchten? Wenn sie in ihren Äußerungen ganz allgemein geblieben wäre, hätten dieselben Kritiker ihr sicher vorgeworfen, sie äußere „abstrakte Vorwürfe“, die sie doch bitte einmal genauer belegen möge...

Gefundenes Fressen für die Gegner?

Mit dem Argument, Mieke Mosmullers Buch spiele den Gegnern der Waldorfpädagogik in die Hände, sollte man sich eigentlich nicht ernsthaft auseinandersetzen müssen. Denn auch mit einem solchen Argument kann man alles bekämpfen, was auf notwendige Veränderungen hinweist. Dieses Argument zeigt sehr genau, wie ausgeprägt die Kritikunfähigkeit ist.

Aber es kommt natürlich auf den Standpunkt an: Wenn man der Meinung ist, die heutige Waldorfpädagogik sei gesund, sie ruhe stabil auf gesunden Grundlagen, dann kann man die Dinge sicherlich anders sehen. Wenn man sieht, wie die eigentlichen Grundlagen rasant wegbrechen bzw. schon lange nicht mehr da sind, dann ist jedes Argument, das „die Gegner“ ins Spiel bringt, völlig irrelevant. Dann ist man nämlich mit jedem Verschweigen der weit fortgeschrittenen Krankheit und ihrer Symptome sein eigener gefährlichster Gegner...

Was derzeit in der Waldorfbewegung stattfindet, ist ein kollektiver Selbstbetrug. Man will nicht wahrhaben, dass die innere Schulung des Lehrers die nicht hintergehbare Grundlage der wahren Waldorfpädagogik ist. Man will nicht wahrhaben, dass diese notwendige Grundlage nicht ausgebildet und nicht genährt wird. Stattdessen betreibt man interne und externe „Öffentlichkeitsarbeit“ mit neuen Entwicklungen und Errungenschaften, mit Diskussionen um „das bewegte Klassenzimmer“, „Portfolio“, Arbeitskreisen wie „Zukunft der Abschlüsse“ usw. All dies kann sehr schön darüber hinwegtäuschen, dass nicht einmal die inneren Grundlagen einer wahren Waldorfschule existieren.

Die „Gegner“ der Waldorfpädagogik haben an den einzelnen Geschehnissen, die vor vielen Jahren in Den Haag passiert sind, nicht viel. Auch die Rückblicke der sechs Schüler geben für die „Gegner“ nichts Besonderes her. Ein Skandal sind diese Dinge aber für die Waldorfbewegung selbst – wenn sie es auch nur ansatzweise mit ihrem eigenen Anspruch und Ideal ernst meinen würde. Dass dieses Buch, welches das Ideal der Waldorfpädagogik liebt, nun aus den eigenen Reihen bekämpft wird, zeigt jedoch, wie „ernst“ man dieses Ideal nimmt...

Das Ideal hat offenbar ausgedient. Man beschränkt sich heute auf weichgespülte „Leitbilder“, und die Realität sieht nochmals ganz anders aus. Und so kann man nur sagen: Die Waldorfbewegung ist selbst ihr schlimmster Gegner geworden...

Die Situation nehmen wie sie ist?

Und dann gibt es jene Argumente, die zugeben, dass der Substanzverlust ja völlig unzweifelhaft sei, aber einwenden, dass man nun einmal mit der gegebenen Situation leben und dort ansetzen müsse.

Dies ist in dieser Form ein reines Scheinargument – denn natürlich muss man an der gegebenen Situation ansetzen! Ein echtes Argument ergibt sich erst, wenn man hinzufügt, dass man immer nur beim Positiven ansetzen müsse (dazu siehe unten).

Es ist geradezu absurd, extra darauf hinweisen zu müssen, dass natürlich Mieke Mosmuller ebenfalls nichts anderes tut, als an der heutigen Situation anzusetzen. Der große Unterschied liegt jedoch in der Tat darin, dass sie diese Situation nicht hinnimmt, wie sie ist. Und sie zeigt ganz konkrete Wege auf, wie die Situation grundlegend verändert werden könnte.

Es stellt sich hier also die Gretchenfrage, die immer eine Willensfrage ist, in diesem Fall: Will man die Situation überhaupt verändern? Hat man den Mut, dem Substanzverlust – den man in diesem Argument ja sogar zugibt – wirklich zu begegnen? Oder richtet man sich weiter im Gewordenen ein und bestätigt sich regelmäßig wiederkehrend, dass ja „jeder nur bei sich selbst anfangen“ könne? Und hofft im übrigen, dass in den nächsten 50 Jahren die Substanz, die in den letzten 50 Jahren verlorenging, schon wiederkehren werde?

Die Substanz kann nicht wiederkehren, sie kann nur und wird auch in ihren letzten Resten noch verschwinden, wenn die Ausbildung nicht völlig verwandelt wird. Die ersten Waldorflehrer erhielten ihre gesamte innere Substanz aus ihrer Begegnung mit Rudolf Steiner. Die nächste Generation zehrte von der Begegnung mit diesen ersten Waldorflehrern. Und dann wurde es immer weniger, immer weniger...

Heute ist es so, dass sehr viele Lehrer an der Waldorfschule überhaupt kein Interesse an der Anthroposophie haben – nicht einmal mehr Interesse! Sich wirklich tief verbinden mit der Anthroposophie und ernsthaft täglich innerlich streben – das tut nur noch ein verschwindend geringer Teil aller Lehrer an Waldorfschulen.

Aber – so sagt man sich in der „Bewegung“ – man hat ja den Lehrplan, man hat die Methodik, man arbeitet an neuen „Kompetenzmodellen“, man hat Portfolio, es führt ein leuchtender Weg in die Zukunft...!

Rudolf Steiner deutete immer wieder an, worauf es in der Waldorfpädagogik eigentlich ankommt:

Zum Lehrer gehört nicht Wissen und Beherrschen der Methoden der Pädagogik, sondern ein bestimmter Charakter, eine Gesinnung, die schon wirkt, ehe der Lehrer gesprochen hat. Er muss, bis zu einem gewissen Grade, eine innere Entwicklung durchgemacht haben, er muss nicht nur gelernt, er muss sich innerlich verwandelt haben.
Rudolf Steiner, 24.1.1907, GA 55, S. 136f.

Was der Erzieher tut, [...] muß vielmehr in jedem Augenblicke seines Wirkens aus lebendiger Erkenntnis des werdenden Menschen heraus neu geboren sein.
Rudolf Steiner, GA 24, S. 86.

Die drei goldenen Regeln der Erziehungs- und Unterrichtskunst, die in jedem Lehrer, jedem Erzieher, ganz Gesinnung, ganz Impuls der Arbeit sein müssen [...], die müssen sein:
Religiöse Dankbarkeit gegenüber der Welt, die sich in dem Kinde offenbart, vereinigt mit dem Bewußtsein, daß das Kind ein göttliches Rätsel darstellt [...]
Rudolf Steiner, 19.8.1922, GA 305, S. 75.


Das klingt angesichts der heutigen Situation wie Worte aus einem vergangenen Jahrtausend. Was hier ausgesprochen ist, hätte sich im Laufe der letzten 90 Jahre eigentlich zu einer Blüte entfalten sollen.
Stattdessen gab es eine oberflächlich eindrucksvolle Verbreitung der Waldorfschule mit ebenso eindrucksvollem Substanzverlust – und eindrucksvoller Selbstverleugnung dieser Tatsache. Statt einer wunderbaren Blüte gab es eine unkontrollierbare Wucherung, und die heutige Gestalt der Waldorfpädagogik ist ihrem Wesen völlig fremd.

Im Pflanzenreich gibt es (von Pilzen, Gallwespen u.a. ausgelöste) Missbildungen, die teilweise äußerst beeindruckend und oft sogar wohlgeformt aussehen – aber das Wesen der Pflanze völlig verunstalten. Wenn man das Wesen und das wahre Erscheinungsbild der Pflanze nicht kennt, kann man also sehr beeindruckt sein...

Erkenntnis tut weh. Wenn man das Wesen der Waldorfpädagogik wirklich liebt und wenn man den gravierenden Substanzverlust sieht und zugibt, dann muss man diese Realität natürlich zunächst hinnehmen, aber man darf sie nicht akzeptieren. Das heißt, man müsste alles tun, um diesen Substanzverlust umzukehren. Das aber bedeutet: Nicht an neuen Abschlüssen usw. arbeiten, sondern an einer neuen Lehrerbildung.

In dem Argument „die Situation nehmen, wie sie ist“ steckt nicht zuletzt auch ein gewisses „Die Menschen sind, wie sie sind“. In der Realität ist dies leider oft so – aber gerade deshalb, weil das Streben und das Werden durch die Strukturen gehemmt und verhindert wird.

Es kann sich nichts ändern, wenn man nicht den Substanzverlust ganz klar als allerwichtigste Problematik und Aufgabe erkennt und benennt – und gemeinsam ernsthaft und mit größtem Einsatz nach Möglichkeiten sucht, eine neue Vertiefung zu fördern. Dazu würde gehören, ernsthaft über eine andere Art der Ausbildung nachzudenken. Dazu würde aber vor allem gehören, durch ein Buch wie „Eine Klasse voller Engel“ tief nachdenklich zu werden und das dort Entwickelte zumindest tief ernsthaft zu bedenken, anstatt es mit wenigen Worten abzutun.

Wenn jedoch letzteres geschieht, zeigt dies nur, dass der Substanzverlust gar nicht wirklich als dramatisches Problem gesehen wird. Es gehört dann vielleicht zum guten Ton, einen „gewissen“ Substanzverlust zuzugeben, im übrigen hält man es aber mit der berühmten TINA-Logik von Margaret Thatcher: „There is no alternative“...

Kritik ändert nichts – nur beim Positiven ansetzen?

In diesem letzten Argument bündeln sich eigentlich viele der vorangegangenen Argumente: „Kritisieren ist einfach“, „man muss die Situation nehmen wie sie ist“ usw.

Dieses Argument sagt etwa Folgendes: „Wir haben also heute die Situation, dass sehr viele Lehrer an Waldorfschulen sich für die Anthroposophie nicht einmal mehr interessieren. Gut, das ist so. Kritik ändert daran gar nichts. Wie kann man das Interesse wecken? Wie kann man an vorhandenen kleinen Keimen dieses Interesses ansetzen und dann die Vertiefung fördern? Wie kann man neue Keime säen?“

Zunächst einmal kann einem bei diesem Argument folgendes Bild kommen: Ein Bauer hat seinen Acker viele Jahre lang völlig unsachgemäß oder überhaupt nicht gepflegt. Nun ist er von Unkraut überwuchert, die wenigen Nutzpflanzen gehen im Gestrüpp unter oder sind überhaupt nicht mehr zu sehen... Nun fragt er: Was kann ich tun? Wie kann ich mein Gemüse fördern, wie soll ich das Unkraut besänftigen?

Wenn man jahrzehntelang die Grundlagen vernachlässigt hat („Vertiefung ist Sache jedes Einzelnen“), muss man sich nicht wundern, wenn man am Ende vor einem Unkrautacker steht, bei dem jede Hoffnung vergebens ist.

Es ist eine Illusion zu glauben, Lehrer an der Waldorfschule, die kein Interesse an der Anthroposophie haben – ich wiederhole: Lehrer an der Waldorfschule! –, würden dieses irgendwann plötzlich entwickeln. Wenn es so wäre, dann müsste die Anthroposophie generell heute weltweit bereits ein gewaltiger Kulturfaktor sein.

Natürlich kann man versuchen, bei anderen ein lebendiges Interesse an der Anthroposophie anzuregen. Aber hat man es denn bisher nicht versucht? Wenn nein, warum nicht?! Und wenn doch, warum hat es nicht gewirkt? Es ist doch eine Tatsache, dass die Grundlagenarbeit an sehr vielen Schulen zu kurz kommt, dass sie entweder gar nicht stattfindet oder nur eine Pro-Forma-Veranstaltung ist oder aber trotz gewisser Ernsthaftigkeit keinerlei reale Früchte trägt.

Wer soll daran etwas ändern, wenn nicht die Lehrer selbst? Dass die Situation nur immer noch schlimmer wird, zeigt, dass sie nichts ändern wollen. Es zeigt, dass die wenigen, die etwas ändern wollen, längst in der wirkungslos gewordenen Minderheit sind oder in vielen Fällen sogar schon völlig allein stehen.

Mieke Mosmuller tut nichts anderes, als auf diese Situation hinzuweisen – sie als Einzelne kann natürlich auch nichts ändern. Dennoch: „Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung“. Wenn man durch den radikalen Hinweis ihres Buches dazu käme, den Ernst der Lage zuzugeben – gemeinsam, als Waldorfbewegung –, dann könnte sich etwas ändern. Wer an der Anthroposophie kaum nennenswertes Interesse hat, weiß natürlich gar nicht, von welchem „Ernst der Lage“ die Rede ist – aber alle anderen, die wenigen noch Übrigen, könnten sich bekennen, dass in der Vergangenheit nichts wichtiger gewesen wäre und jetzt und in Zukunft nichts wichtiger ist, als an den essentiellen Grundlagen der Waldorfpädagogik zu arbeiten – und zwar stärker und entschiedener als je zuvor.

Wenn man sich einig ist, dass die innere Substanz der Waldorfschulbewegung massiv gefährdet bzw. am Verschwinden ist, dann kann man an das Bild eines Todkranken denken. Man stelle sich vor, dieser Mensch fühle sich dennoch durchaus wohl und würde vielleicht ein wenig von der Krankheit bemerken, sich aber letztlich doch nicht wirklich Sorgen machen und sich vor allem auch für das Heilmittel gar nicht interessieren. Was könnte an dieser Situation etwas ändern? Ein Anpreisen des Heilmittels? Ein Anpreisen des Lebens ohne Krankheit? Doch wohl kaum. Wenn etwas helfen kann, dann die deutliche Mahnung, dass es sich um eine weit fortgeschrittene Krankheit handelt. Der Mensch muss ganz bewusst erkennen, was es heißt, krank zu sein – und er muss ganz bewusst gesund werden wollen. Wenn er eines von beidem nicht selbst will, dann gibt es keine Hoffnung.

Wenn man den Aufruf des Buches „Eine Klasse voller Engel“ nicht ernst nimmt, ist alles Reden vom „Ernst der Lage“ ein reines Lippenbekenntnis...

Zugleich gibt die Autorin aber auch zahlreiche, konkreteste Anregungen, um an den essentiellen Grundlagen der Waldorfpädagogik zu arbeiten – ihr ganzes Buch ist eine einzige Anregung, ein einziger Aufruf. Und deshalb ist gerade dieses Buch zugleich ein positives Ansetzen par excellence. Wenn man diese Anregungen ebenfalls nicht ernst nimmt, sondern mit einem einzigen Wort („weltfremd“) abtut, zeigt sich also auch, wie ernst man sein eigenes Argument von den „positiven Ansätzen“ meint.

Man verdammt die „Kritik“ des Buches und benutzt dies, um die positiven Ansätze, die die Kritik bei weitem überwiegen, zu „übersehen“. Man regt sich dermaßen über die Kritik auf, dass diese wie unter einem riesigen Vergrößerungsglas erscheint – und dann wirft man der Autorin vor, man könne immer nur „beim Positiven ansetzen“. Die Technik ist also: Das Positive wegwischen, die Kritik aufblasen – und schon ist das Buch unmöglich gemacht...

Ist es den Gegnern des Buches schlichtweg unmöglich, beim Positiven anzusetzen?

Nochmals: „Eine Klasse voller Engel“ entfaltet in einer wunderbaren Weise das Ideal der Waldorfpädagogik – und dieses Ideal ist das Positive an sich, es müsste eigentlich eine reine, tiefe Begeisterung auslösen. Wenn man sich dafür begeistern würde, wäre das „Ansetzen beim Positiven“ von selbst da – und dann wäre es auch ganz unwesentlich, wie unvollkommen das eigene Streben ist. Wenn es nur ein Streben ist...

Man kann und wird Verständnis für alle Schwächen und Unvollkommenheiten haben, wenn nur deutlich wäre, dass man – jeder auf seine Art – nach demselben Ideal strebt. Und zum Ideal, zum Wesen der Waldorfpädagogik gehört untrennbar die fortwährende innere Vertiefung und Selbsterziehung des Erziehers und die Entwicklung einer von Ehrfurcht durchdrungenen lebendigen Menschenerkenntnis. Wenn man sich darüber einig wäre, würde sich alles andere finden – denn dann wäre die Krankheit innerlich schon überwunden. Die Reaktionen gegen das Buch „Eine Klasse voller Engel“ zeigen jedoch, dass es nicht so ist.

Schlussbetrachtung: Vom Wesen des Ideals

Der grundlegende Dissens zwischen dem Buch und seinen Gegnern liegt also in der Bedeutung des Ideals. Die Kritik des Buches ist nicht das Problem, sie zeigt nur den Abstand der heutigen Realität vom Ideal. Das Problem bzw. die entscheidende Frage ist: Von welchem Ideal ist überhaupt die Rede – und wie wird das Ideal erlebt?

Das wunderbare Ideal der Waldorfpädagogik, das Mieke Mosmuller beschreibt, ist die lebendige Erkenntnis des werdenden Menschenwesens. Dieses Ideal ist weder abstrakt, noch weltfremd. Und es ist genau auf dem Wege zu verwirklichen, den die Autorin als völlig erneuerte Lehrerbildung angibt. Die detaillierten Hinweise für die einzelnen Ausbildungsjahre sind gewissermaßen die durch moralische Phantasie gewiesenen Wege, auf denen das Ideal zur vollumfänglichen Realität wird.

Die Welt dieses Ideals und die reale Welt sind nicht zwei verschiedene. Im menschlichen Ich wird das Ideal erfasst – und im Ich kann es sich auch mehr und mehr entfalten und verwirklichen. Die lebendige Erkenntnis des Kindeswesens und die damit einhergehenden Fähigkeiten, die die werdenden Waldorflehrer in einer solchen Ausbildung entwickeln würden, sind das entfaltete, real gewordene Ideal der Waldorfpädagogik.

Dieses Ideal – und damit das reale Wesen des Kindes – ist nur erreichbar durch die energische Ausbildung der Ehrfurcht, des guten Willens und einer darauf aufbauenden allmählichen Entwicklung der lebendigen Erkenntnisfähigkeit in Bezug auf die Wesensglieder des Menschen.

Dazu ruft das Buch „Eine Klasse voller Engel“ auf – und dazu weist es die Wege.

Mieke Mosmullers Buch braucht keine schnellen Leser. Es braucht beim Lesen die rechte Gesinnung – Unvoreingenommenheit, Wahrhaftigkeit, eine Liebe zum lebendigen Geist, zur Anthroposophie, Liebe zum Wesen des Kindes und des Menschen. Wenn man diese Gesinnung in sich aufrufen und wirklich lebendig machen kann, wenn man alle Vorurteile und alles „Gewusste“ einmal beiseite lassen kann und dann wirklich liest, erlebend liest – dann entdeckt man Seite für Seite ein Buch, das zum Wesen des Kindes hinführen will und auch wirklich hinführt.

Die Autorin ist nicht nur Mutter und Ärztin, sie ist 25 Jahre lang energisch den Schulungs- und Erkenntnisweg gegangen, den Rudolf Steiner gegeben hat. Man kann die großartige Bedeutung dieses Buches erkennen, ohne das zu wissen. Wer die wahre Bedeutung dieses Buches jedoch leugnet und beiseite wischt, dem wäre zu wünschen, dass er irgendwann erkennt, was er da tut...

Dem Kinde und werdenden Menschen als geistiger Individualität wird man als Erzieher erst wahrhaft gerecht werden, wenn man vor allem seine Seelen- und Erkenntnisfähigkeiten schult.

Das Ideal der Waldorfpädagogik ist aus der realen Anschauung des Kindeswesens geschöpft. Wer das Geistige als grandiose Realität ernst nimmt, wer das einzelne Kind wirklich als göttliches Rätsel sehen kann, der findet in „Eine Klasse voller Engel“ jenen Blick, jene Gesinnung, jenen Weg, die diesem Rätsel, dieser Realität wirklich begegnen können.

Er findet die Auferstehung einer wahrhaft spirituellen, christlich-michaelischen Erziehungskunst.