Auszüge aus "Arabeske. Das Integral Ken Wilbers"

Mieke Mosmuller: Arabeske. Das Integral Ken Wilbers. Occident, 2009 (256 S., 19,50€). | Zwischenüberschriften und Hervorhebungen H.N. | >> Buchbesprechung. | >> Bestellen.

"Holons" - eine Abstraktion (S. 22ff)

Alles hängt mit allem zusammen, nichts existiert für sich. Ein Mensch ist ein Holon, aus Holons erwachsen, sich zukünftigen höheren Holons opfernd: Seine Taten werden Grundlagen dieser neuen Holons, verlieren jedoch in ge­wissem Sinn ihre Bedeutung. Die Anthroposophie zum Beispiel war Äußerung ihrer Zeit, ist u.a. grundlegend für die heutige Spiritualität, hat aber keine aktuelle Bedeu­tung mehr, ist durch das neue emergierende transperso­nale, ko-evolvierende Holon verschlungen und verdaut worden.

Können wir uns das energisch vorstellen und anschauen? Und können wir die Anschauung erleben?

Dann empfinden wir die Wahrheit, jeder in seiner ei­genen Art. Nur ohne Erleben, in der verstandesmäßigen Anschauung können wir diese Holon-Gedanken für eine wirkliche Idee halten. Sobald wir erlebend anschauen, ver­fällt die Idee zum ‚Idol‘: eine Konstruktion von Gedanken in Gedanken in Gedanken, immer werdend, entwerdend, stützend, lockernd: abstrakt.  [...]

Die Frage, die wir uns also stellen, ist: Kann mein Wesen eine Eigenschaft sein, ein Kennzeichen eines Anderen, wie das Rot Eigenschaft einer Rose ist? Oder existiere ich für mich, an sich, und zeige mich in meinen Eigenschaften? Bin ich Eigenschaft eines anderen Ich oder der Gesell­schaft, des Kosmos usw.?

Und die zweite Frage lautet: Kann mein Wesen Teil eines Anderen sein? Empfinde ich es als individuell, unteilbar und selbstständig? Ist es vorstellbar, dass mein Ich unbe­merkt Kontext in Kontext, Holon in Holon ist? Mitglied ist etwas anderes als Teil. Ein Mitglied existiert für sich, fügt sich einer Gemeinschaft ein, in der es – wenn es nicht assimiliert wird – noch immer ‚selbst-ständig‘ bleibt. Mit­glieder sind unsere Iche immer. Aber Teil? Teil kann man nur von etwas sein, was dem Wesen nach gleich ist, nur größer. Eine Körperzelle ist Teil des Körpers, trägt genau dieselbe DNA-Signatur wie alle anderen Zellen desselben Körpers. Ist mein Ich in ähnlicher Art Teil eines Wesens, das dieselben Wesenszüge trägt, nur umfassender ist?

Diese Fragen muss man sich stellen – und die Antwort im anschauenden Erleben lesen. Sie steht da, kann von jedem menschlichen Ich gelesen werden, ich brauche sie nicht vorzulesen.

Gilt für das innere Ich-Erleben der Satz: Alles hängt mit allem zusammen, nichts existiert für sich? Und: Das Ich ist zugleich Superholon und Subholon? Bin ich in meinem Ich Mitglied oder ein bloßer Teil des Ganzen?

Die Antwort muss der Mensch sich selbst geben. Sie sagt aus, ob man Ken Wilbers Vision teilen kann – oder nicht.

Nicht Integral, sondern Differential (S. 35ff)

In Wilbers Vision finden wir das Soziale im Quadranten ‚Es Plural‘ (sie). Dort werden die heutigen soziologischen Ansichten aufgezählt. Jürgen Habermas ist für diese ein wichtiger Soziologe, seine Sicht auf das Soziale kann in drei Worten zusammengefasst werden: Kollektiv, kom­munikativ, Diskurs. Kennzeichnend für die Soziologen ist, dass sie die Gemeinschaft von außen beschreiben, als wären sie selbst kein Teil von ihr. Sie nehmen einen ob­jektiven wissenschaftlichen Standpunkt ein, nehmen ge­schichtlich und aktuell wahr und suchen die zusammen­fassenden, ordnenden Begriffe dazu. So wird die heutige soziale Gemeinschaft aufgefasst als eine kommunikative, die sich allmählich globalisiert, was durch die Möglichkei­ten der Kommunikation im Internet noch beschleunigt wird. Das Ich mit seinen Intentionen gehört einem ande­ren Quadranten an; wenn es sich so weit entwickelt, dass es sich zur Schau-Logik erhebt, wird es fähig, den Ansprü­chen von Kollektiv, Kommunikation und Diskurs (oder normativer Richtigkeit, Wahrhaftigkeit bzw. Authentizität und Wahrheit) gerecht zu werden. Eine absolute Toleranz entsteht, die nur noch eines nicht toleriert: die Intoleranz. [...]

Das soziale Kreuz, das das Symbol der Erde bildet, fordert jedoch eine ganz andere Entwicklung. Man bildet nicht gleichsam das Integral, man taucht in die Persön­lichkeit unter, in seine eigene, in die anderer. Das Kreuz auf dem Hügel ruft jede Persönlichkeit auf, selbst auszu­machen, was sie als wahr, wahrhaftig, gut erkennen kann. Nicht der Diskurs entscheidet, nicht das Integral, sondern das Differential. Es kommt auf das Untertauchen an, nicht auf das schnelle Erfassen und Integrieren...

Jede Persönlichkeit sollte sich nicht aus sich selbst her­auslösen, sondern sich selbst durch und durch objektiv (als Objekt) erkennen und entdecken, dass in der Selbst­erkenntnis die Erkenntnis der Welt verborgen liegt. Nicht integral, sondern im Sonderfall der Einzigartigkeit der Persönlichkeit. Man muss sich die Mühe machen, nicht nur nach den Übereinstimmungen zu suchen und zu lau­schen, sondern die Unterschiede kennenzulernen und zu ertragen – indem man sie auf dem Felde der Erkenntnis zur Wahrheit gestaltet, auf dem Felde der Gesellschaft zur Güte und auf dem Gebiet der höheren Selbstdarstellung zur Schönheit ausbildet.

Einfach wird das Leben so nicht, es tut sich eine Welt von Unterschieden auf. In dieser jedoch trägt man das soziale Kreuz, nicht in einer Welt der Einheit, die lebensfremd ist. Ein Kollektiv gibt es nicht, wenn der Mensch sich selbst und den Anderen in seiner Einzigartigkeit erlebt. Brüder sind wir, unterschieden, aber vereint durch vielseitige Lie­be. Kommunikation gibt es selbstverständlich, aber sie soll wirklich auf wechselseitiger Andacht beruhen, auf Interes­se an dem vollkommenen Anderssein der Anderen. Hier ist die Toleranz zu Hause, hier gehört sie hin. Auf dem Gebiet der Wahrheit jedoch waltet der Heilige Geist, dort kommt Toleranz gegenüber einer sicheren Unwahrheit der Sünde gegen den Heiligen Geist gleich. Ein Diskurs im Sinne von Wilber und Habermas kann es dort nicht ge­ben, weil Tatsachen sich nicht nach Willkür ändern lassen.

Die Wahrheit wird nie eine Ideologie sein, sie braucht allein die Überzeugungskraft der in ihr selbst waltenden Logik. Nur Vorurteile und Meinungssysteme verdunkeln die Wahrheit. Durch Klarheit setzt sie sich durch. Das Wunderbare der Wahrheit ist, dass jeder Mensch sie selbst einsehen kann, dass er keine Dogmen braucht. Aber für die Wahrheit darf und muss der Mensch kämpfen, er muss mit Hilfe der Rationalität kämpfen, mit der Vernunft der Mitmenschen rechnen dürfen. Wilber sieht einen sol­chen Kampf um die Wahrheit als überholtes Stadium des magisch-mythischen Bewusstseins an. Seine Vision ist weitgehend eingebürgert, und deshalb wird der heutige Kampf für die Wahrheit als schlecht, überholt usw. an­gesehen, auch durch Menschen, die sich überhaupt nicht klar machen, dass sie diesem Paradigma hörig sind.

Konstruierte Spiritualität ... oder exakte Geisteswissenschaft (S. 47ff)

Verstand und Vernunft integrieren. Sie suchen immer Relationen, Kausalitäten, Zusammenhänge. Sie erstre­ben den umfassenden Überblick, sie suchen eine immer höhere Warte, vielleicht ist sogar der Satellit noch nicht hoch genug, denn sie wollen das Ganze einfach vollkom­men in Einheit überblicken. Zwar sehen sie die Teile, sie wollen sie jedoch sinnvoll miteinander verbinden. Es ist ja die Frucht der rationalen Epoche, dass der Mensch die kommunikative Epoche betreten kann, in welcher er glo­bal wird, erdenweit, weltweit. Die Wissenschaft liefert die Tatsachen über ‚beinahe alles‘, die Gemeinschaft der Men­schen ist global statt national, die Schau-Logik weitet sich zum Transpersonalen, der Zentaur nähert sich dem Gott.

Wie spirituell dieses Integral aber auch anmutet, es ist ein mit dem Verstand und der Vernunft konstruiertes. Wilber hat seine Weltanschauung aus dem ganzen Umfang der wissenschaftlichen (Oben Rechts), soziologischen (Un­ten Rechts), kulturellen (Unten Links) und spirituellen, intentionalen (Oben Links) Daten integral konstruiert. Er stellt fest, dass alle Richtungen, alle Perspektiven im­mer doch wieder Perspektive in Perspektive in Perspektive sind, die kontextual bestimmt sind, also nie verabsolutiert werden dürfen. Auch der Erleuchtete schaut kontextual, und er erhebt sich darüber erst, wenn er sich seines Kon­textes bewusst wird.

Und Ken Wilber selbst? Er bemerkt nicht, dass auch er in seinem amerikanischen Kontext gefangen ist. Er meint, zum Einen aufsteigen zu können, um von dort wieder zum Vielen absteigen zu können. Er bemerkt aber nicht, dass er integrierend in der Rationalität gefangen ist, dass er alles, was er berührt, ‚rational verzaubert‘, in die Erstar­rung bringt. Er nimmt aus allem das, was er verwenden kann, und sieht nicht, dass das, was er nicht verwenden kann, gerade dasjenige ist, was er bräuchte, um wirklich von sich loszukommen. Der drastischste Beweis dafür ist sein vollständiges Negieren von Rudolf Steiner und sei­ner Anthroposophie. Diese existiert für ihn einfach nicht. Sie würde ihn überfordern, denn er weiß mit wirklicher Überrationalität, Überlogik nichts anderes anzufangen, als sie in das überholte magisch-mythische Zeitalter zu­rückzuverweisen. Mit der Anthroposophie könnte er dies nicht so leicht machen, also übersieht er sie. Und eigent­lich auch zu Recht, denn die Anthroposophie entsteht im Differential.

In der Anthroposophie wird die Einheit nicht integral gesucht, sondern durch disziplinierte Konzentration. Die Seele, die sich weiten will, muss lernen, sich zusammenzu­halten, klein zu werden, immer kleiner, so klein, dass sie sich der Null nähert – dies aber nicht wird, denn durch das Nadelöhr des Differentials stülpt sie sich völlig um. Sie zieht sich in einen Beinahe-Punkt zusammen und stülpt sich darin um, indem sie die differenzierte geistige Welt findet. Was sie finden kann, werde ich in einem späteren Kapitel an einem Beispiel schildern.

Im Differential liegt die Garantie für eine exakte Hell­sichtigkeit, die die geistige Welt nicht integral als eine nichtduale Leere findet, sondern bis in die kleinsten Wirkungen, Offenbarungen und Wesen differenziert er­forschen kann. Ken Wilber ist ein ‚Hell-Blinder‘, weil er den Verstand unverwandelt lässt – und dies nicht einmal erlebt.