26.09.2009

Ein Vakuum namens „Politik“

Den gegenwärtigen Zustand unserer „Demokratie“ genannten Gesellschaft kennzeichnen schlaglichtartig einige Artikel der Wochenzeitung „der Freitag“ vom 24.9.2009:

 

Die Wahl der Wahl
Pessimistische Bemerkungen über die so genannte Alternativlosigkeit in der Abschlussphase des Bundestagswahlkampfes und die Richtungslosigkeit der Postdemokratie (von Georg Seeßlen | >> Volltext)

[...] Wir leben in einer Gesellschaftsform, die die Demokratie mit sich herumschleppt wie einen kranken Verwandten. Was wir dagegen zur Genüge haben, das ist eine Herrschaftsform, die Colin Crouch „Postdemokratie“ genannt hat: ein prekärer Zustand zwischen der Herrschaft des Volkes und der Herrschaft der Konzerne (die sich den Umstand zunutze machen, dass der Staat seine Bürger nicht mehr schützen will) [...]
Die Postdemokratie zeichnet sich dadurch aus, dass demokratische und nicht-demokratische Impulse einander durchdringen und dass dieser Prozess der inneren Zersetzung sich nicht in Form von großen Skandalen, Staatsstreichen oder Systemwechseln vollzieht, sondern in Form der schleichenden Erosion, der Gewöhnung, der „Alternativlosigkeit“.
Man kann, so scheint es, einfach nichts dagegen machen: gegen die Anfälligkeit für direkte und mehr noch indirekte Korruption; [...] gegen den Sieg des Systemischen über das Moralische (Eigenart aller Fundamentalismen, so auch des kapitalistischen Fundamentalismus, des so genannten Neoliberalismus: Das System zu erhalten ist das einzig bedeutende Ziel, die Elemente – in diesem Fall: Menschen, Ideen und Projekte, sind demgegenüber völlig gleichgültig); gegen politische Entscheidungen, die aus Sachzwängen und Machtspielen entstehen [...]; gegen die Auflösung der ideellen und politischen Konkurrenzen der Parteien in innerparteiliche Machtspiele und mediale Popularitätstests. Und so weiter. [...]

Im Neoliberalismus haben sich die Verhältnisse von Abhängigkeit und Unabhängigkeit ebenso verändert wie die Bedingungen einer politischen Kontrolle der Ökonomie und einer demokratischen Kontrolle der Politik. [...] Der Jugendliche U-Bahnschläger, für den es keine Hemmung gibt, einen anderen Menschen totzuprügeln, gleicht darin einem Millionen-Bankmanager, der nichts dabei findet, sein Unternehmen von der Allgemeinheit refinanzieren zu lassen und sich dabei erneut die eigenen Taschen mit „Boni“ vollzustopfen – beide müssen sich von niemandem wirklich abhängig fühlen. Für beide gibt es keine wechselseitige soziale Beziehung mehr, die eine Balance zwischen eigenen Interessen und denen von Mitmenschen oder denen des demokratischen Systems verlangen würde. [...]
In der Mitte ist gegenseitige und hierarchische Abhängigkeit bereits wiederum so ausgeprägt, dass allerorten die Grenzen zwischen der demokratischen und der sklavenhalterischen oder der mafiösen Abhängigkeit überschritten werden. Das Gesetz der Abhängigkeit erlaubt es Menschen in der Mitte nicht nur nicht mehr, ihre Möglichkeiten zu entfalten. Es erlaubt ihnen nicht einmal mehr, ein Bewusstsein, eine Sprache für ihre Gefängnis-Situation zu haben. [...]
Zwar wurde das Mitmachen schon immer belohnt und das Wahrheit-Sagen schon immer bestraft, aber erst in der Neuverteilung der Abhängigkeit werden Blindheit und Dummheit zum Maß der Dinge. Oben und unten haben die Menschen sich so von den Abhängigkeiten gelöst, dass sie zur Demokratie nicht mehr fähig sind, und in der Mitte sind die Menschen so sehr in Abhängigkeiten verstrickt, dass sie zur Demokratie nicht mehr fähig sind. Es sind die Rituale des Medienpopulismus, die dies – postdemokratisch – noch zusammen halten. [...]

Das Projekt einer demokratischen Gesellschaft ist kurz davor zu scheitern. Nirgendwo als in Zeiten „wichtiger“ Wahlen wird uns so sehr bewusst, wie mittendrin wir in diesem Scheitern sind. Verblüffend ist nicht, wovon in diesem Wahlkampf die Rede ist, verblüffend ist, worüber Parteien, Staat und Gesellschaft übereingekommen sind, nicht zu reden. Wir scheinen uns damit abgefunden zu haben, dass wir „Demokratie spielen“ müssen, damit niemand die Erosion des Systems bemerkt, wir selber am wenigsten. [...]
So entstehen die Paradoxien auf dem Weg zur Postdemokratie: Eine Demokratie, die, um sich selbst zu erhalten, Freiheiten ihrer Bürger abbauen will. Eine Gesellschaft, deren Mitglieder sich die Freiheit nehmen, auf Demokratie zu pfeifen. [...]

 

Die Mystik der Macht
Noch nie gab es einen deutschen Politiker, dem es so wie Bundeskanzlerin Angela Merkel im Wahlkampf einzig und allein um den Erhalt politischer Macht ging (von Jakob Augstein | >> Volltext)

[...] Nur wer ohne Eigenschaft ist, kann alle haben. Nach diesem Prinzip hat die Kanzlerin regiert und danach führt sie ihren Wahlkampf. Niemand weiß, wofür sie steht. Niemand weiß, was sie will. Außer, an der Macht zu bleiben. [...] Angela Merkel – ist. Mehr nicht. Gäbe es sie nicht, würde man sie nicht für möglich halten. Sie ist die reine Substanz der Macht. Eine beinahe surreale Erscheinung. Ihr eigenes Gespenst. Ohne Attribute, ohne Prädikate. [...] Sie bekämpft niemanden, weil man sich damit nur noch mehr Feinde schafft. Sie will nichts, weil jedes Wollen auch Verzicht bedeutet. [...]
Man wünscht sich, dass sie ein Geheimnis haben möge. Weil man nicht für möglich halten will, dass sie so ist, wie sie scheint. Die jüngste Videobotschaft, die ihr Stab ins Netz gestellt hat, vor dem Gipfel der Industriestaaten in Pittsburgh, ist in Form und Inhalt wirklich niederschmetternd. Die Bundeskanzlerin spricht zu ihrer Nation mit Gestus, Stimme und Wortwahl der Diensthabenden in einem Heim für betreutes Wohnen. Es fällt schwer, sich etwas weniger Inspirierendes als die Frau vorzustellen, und es ist darum fast unmöglich, sich zu merken, was sie gesagt hat. [...]


Aber auch in der SPD sieht es nicht besser aus, wie der Beitrag eines natürlich anonym bleibenden Mitarbeiters der SPD-Wahlkampfzentrale zeigt:

No we can‘t
Wie die SPD im Netz Wähler gewinnen wollte und kläglich scheiterte. Ein anonymer Insider berichtet aus der Mitte der sozialdemokratischen Wahlkampfmaschine (>> Volltext)

[...] Im Willy-Brandt-Haus kommt kaum einer offen auf den anderen zu, jede Geste wirkt kontrolliert. Man gewöhnt sich daran, vergisst zwangsweise jeden Morgen von Neuem, wie die Menschen da draußen, außerhalb der hauptberuflichen Politik, miteinander umgehen können: offen, freundlich, vertrauensvoll. Meine Kinder erinnern mich abends daran, wenn ich nach Hause komme, und wenn wir dann gemeinsam über irgendeinen Unsinn lachen, werde ich unvermittelt darüber traurig, dass die Nordkurve kein Treibhaus für gute Ideen, sondern für ungute Charaktereigenschaften ist. Eine Glasglocke, die die Wirklichkeit fernhält, zusätzlich gesichert mit einer dicken Eisschicht. [...]