18.10.2009

Yunus – 19, unschuldig, Einzelhaft

Ein ehemaliger Schüler der Waldorfschule Berlin-Mitte gerät in die Mühlen der Justiz – eine erschütternde Realität. | Alle Fakten nach www.yunus-rigo-prozess.de und den dort dokumentierten Presse- und Prozessberichten.


Inhalt
Einleitung
Hintergründe
Widersprüche der Anklage
Das menschliche Schicksal und Fragen an die „Staatsgewalt“
Vom Wiedergewinnen des Menschlichen
Der Fortgang


Einleitung

Der „Fall“, so wie er von der Polizei dargestellt wird, scheint klar: Zwei Jugendliche werfen am Abend des 1. Mai am Kottbusser Tor einen Molotowcocktail, wodurch eine Passantin Brandverletzungen erleidet. Polizeibeamte in Zivil sehen die Tat, verfolgen die Betroffenen und nehmen sie wenig später fest.

Seitdem sitzen Yunus (19) und sein Freund Rigo (17) in Untersuchungshaft. Nach vier Monaten begann am 1.9. die Gerichtsverhandlung. Ursprünglich war ein Urteil im Oktober erwartet, inzwischen sind 14 Prozesstage anberaumt, die bis Ende November gehen...

Doch von Anfang an gab es einen Grundwiderspruch zur Schilderung der Polizisten: Yunus und Rigo bezeugen nicht nur ihre Unschuld, sie waren durch die Festnahme auch völlig schockiert und verstört. Und darüber hinaus gibt es jede Menge Widersprüche und Ungereimtheiten in den Aussagen und im Vorgehen der Polizei und der Staatsanwaltschaft.

Hintergründe

Die Ausschreitungen am 1. Mai waren 2009 so heftig wie seit Jahren nicht. Es soll in Kreuzberg rund 700 „Randalierer“ und 6.000 Polizeibeamte im Einsatz gegeben haben. Fast 500 Beamte sollen Prellungen oder andere Verletzungen durch Flaschen und Steine erlitten haben. Gegen 289 Personen wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet. Eine Anklage wegen versuchten Mordes gab es jedoch noch nie – nun wurde sie gegen Yunus und Rigo erhoben.

Hauptzeuge der Anklage ist der Polizeibeamte Berger, dem nach dem ersten durch eine Vierergruppe geworfenen Brandsatz in etwa 15 Metern Entfernung zwei Personen auffielen, die leicht gebeugt einander gegenüberstanden, wobei er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Plötzlich habe es eine Art Feuerschein und dann eine Wurfbewegung gegeben, ein Feuerschweif sei durch die Luft geflogen und dann habe eine Frau in Flammen gestanden. Die zwei Personen seien dann in eine Menschenmenge hineingelaufen, er habe mit zwei weiteren Polizisten die Verfolgung aufgenommen. Nach dem Wurf habe er die zwei Täter „nur für Sekunden“ nicht im Blick gehabt, eine Verwechslung könne er ausschließen... Inmitten des Chaos einer abendlichen Demonstration?

Yunus und Rigo schilderten direkt nach der Festnahme unabhängig voneinander, dass sie nur einmal bei der Demonstration vorbeischauen wollten: Sie seien um 18 Uhr kurz mitgelaufen, hätten dann später am Kottbusser Tor vom Straßenrand die Krawalle beobachtet, Freunde getroffen und sich schließlich gegen 21:30 Uhr etwas zu Essen kaufen wollen, weshalb sie auf eine Polizeikette zugingen und an der Absperrung Durchlass erbaten, um zu einem nahegelegenen Geldautomaten zu kommen. Würde man so handeln, wenn man kurz zuvor einen Molotow-Cocktail geworfen hätte? Als sie nicht durchgelassen wurden, liefen sie friedlich um die Absperrung herum, wurden aber an der nächsten Absperrung von den o.g. Zivilbeamten festgenommen.

Widersprüche der Anklage

Schon zu Prozessbeginn musste Verteidigerin Ulrike Zecher darauf hinweisen, dass Oberstaatsanwalt Ralph Knispel seine Objektivitätspflicht gravierend verletzt habe – unter anderem durch Unterlassung der Untersuchung von Rigos Kleidung (trotz zweimaligen Antrages durch den Anwalt) und durch Unterschlagung entlastender Fotos von Augenzeugen!

Noch am 1. Mai übergaben Augenzeugen der Polizei Fotos der Tätergruppe, auf denen Yunus und Rigo nicht zu sehen sind. Staatsanwalt Knispel jedoch behauptet, diese hätten mit der aktuellen Anklage nichts zu tun, sondern zeigten nur die Werfer eines wenige Minuten zuvor geworfenen ersten Molotow-Cocktails, die nicht festgenommen werden konnten...

Der Hauptzeuge der Anklage (Berger) beschrieb auch detailliert, was mit der Frau geschah, deren Kleidung in Brand geraten war, musste also schon vor der Verfolgung der Täter diese mehrere Sekunden aus dem Blick verloren haben! Der einzige Anhaltspunkt war die Kleidung: weißes T-Shirt und Basecap des einen, dunkle Kleidung des anderen (dies passt auch zu den Tätern der o.g. Vierergruppe, wobei das Basecap auf dem Foto einen ganz anderen Aufdruck hat als das von Rigo).

Bis zur Verhaftung soll es mehrere Minuten gedauert haben, obwohl der Tatort nach Aussage der Beamten nur 20 Meter von der Polizeikette entfernt lag.

Das Wurfobjekt soll eine triefende Flasche gewesen sein – die Kleidung von Yunus und Rigo wurde jedoch trotz Antrag zunächst nicht untersucht! Eine kriminaltechnische Untersuchung vom 15.5. stellte keinerlei Rückstände fest. (Sie hätten für die angeklagte Tat auch einen Rucksack o.ä. bei sich haben müssen – hatten sie aber nicht!). Dennoch sprach Staatsanwalt Knispel gegenüber dem Redakteur des „Tagesspiegel“ am 1.9. von Benzinrückständen auf der Kleidung der Angeklagten!

Die bei der Festnahme beteiligten Kollegen, deren Gerichtsaussagen sich decken, hatten in ihren ersten Aussagen teilweise ganz andere Angaben gemacht! Die Anwälte werfen ihnen mit Recht vor, nachträglich Absprachen getroffen zu haben, um Unstimmigkeiten zu beseitigen.

Polizist Gromotka kann sich an Details der Kleidung schlecht erinnern, nur Kollege Berger hätte den Tathergang direkt gesehen. Dieser jedoch kann sich ebenfalls an vieles nicht mehr erinnern.

Berger sagte noch am 2.5. aus, dass etwas aus Rigos Hosentasche gefallen sei und er später von einem anderen Polizisten auf herumliegende Einweghandschuhe aufmerksam gemacht worden sei. In seinem Kurzbericht ist jedoch zu lesen, dass in Rigos Hosentasche Handschuhe gefunden worden seien! Im Juni und vor Gericht sagte er dann aus, dass er Rigo die Handschuhe nicht zuordnen könne...! (Aufgrund dieser gravierenden Widersprüche stellt die Verteidigerin sogar Strafanzeige gegen Berger).

Die Zeugen Gromotka und Berger widersprachen sich auch in Bezug auf die Angabe ihrer Standpunkte, der Verfolgungswege, des Festnahmeortes und der Umstände der Festnahme.

Der dritte bei der Festnahme beteiligte Beamte Kleiner bezeugt vor Gericht dann mutig, dass er den Wurf selbst nicht gesehen habe, sondern den Tathergang wörtlich von Berger übernahm, und dass Yunus und Rigo bei der Festnahme völlig überrascht waren und sich nicht gewehrt hätten. In seinem Bericht vom Mai hatte er noch behauptet, die Tat gesehen zu haben, und auf Veranlassung Bergers „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ notiert!

Freunde von Yunus und Rigo suchten im Internet nach Zeugen. Es meldete sich der 33-jährige Thomas J., der die Vierergruppe, beide Brandwürfe, das Gesicht des Werfers und die brennende Kleidung der Frau sah! 15 Minuten später sah er dieselbe Gruppe und erkannte eindeutig den Werfer wieder. Yunus und Rigo waren zu diesem Zeitpunkt bereits festgenommen...

Das menschliche Schicksal und Fragen an die „Staatsgewalt“

Yunus und sein Freund sitzen also unschuldig im Gefängnis – Yunus als Volljähriger in der Haftanstalt Plötzensee, lange Zeit sogar in Einzelhaft. Selbst die Wärter sagen, dass sie so jemanden sonst nie da haben... Yunus darf nur zweimal im Monat für eine halbe Stunde von höchstens drei Personen besucht werden. Telefonieren darf er nicht, Briefe brauchen acht Tage... Bei den Besuchen sind nur zur Begrüßung und zum Abschied kurze Berührungen gestattet. Am 7. Oktober hatte er seinen 19. Geburtstag...

Mit großem Engagement haben Lehrer der Waldorfschule Berlin-Mitte Yunus im Gefängnis die Vorbereitung und die Prüfung des Abiturs ermöglicht.

Bevor die Verhandlung begann, hatte Yunus schon vier Monate im Gefängnis verbracht. Schon am vierten Prozesstag hatten sich die Zeugen der Anklage in unglaubliche Widersprüche verwickelt, die sogar die Richterin verärgerten. Dennoch wurde der Antrag auf Haftentlassung wiederum abgelehnt! Und schon zweimal gab es wegen des Urlaubs von Richtern 14 Tage Verhandlungspause... Im besten Falle werden Yunus und Rigo am Ende also sechs Monate unschuldig im Gefängnis verbracht haben, im schlimmsten Falle bekommen sie eine lebenslängliche bzw. 10-jährige Haftstrafe...

Das ganze Verfahren gegen Yunus und seinen Freund wirft schwerste Fragen auf – und macht schlaglichtartig deutlich, in welche Sackgasse wir als Gesellschaft wir immer mehr geraten.

Das „Neue Deutschland“ schrieb am 2.9.2009:

„Gerichtsverhandlungen um Mai-Gewalt laufen nach einem festgelegten Ritual ab. Sagen Polizisten aus, sie hätten die Täter genau erkannt, haben andere Aussagen oder Unschuldsbeteuerungen so gut wie keinen Wert.“


Noch bedenklicher ist, was „indymedia“ über die verdeckten Ermittler der Einheit „Fahndung, Aufklärung, Observation“ (FAO) schreibt, deren Beamten auch Yunus und Rigo festgenommen haben:

„Gegen etliche Mitglieder dieser Einheit wurde wegen bandenmäßigem Drogenhandel, Urkundenfälschung, Meineid und Vorteilsnahme ermittelt. Alle Anklagen wurden allerdings wegen ‚fehlender Aussagegenehmigung‘ eingestellt.“


Nicht zuletzt ist auch die Berliner Polizei für brutales Vorgehen berüchtigt, auch wenn dies meist nicht bis in die Schlagzeilen gelangt. Jährlich gibt es rund 800 bis 1.000 Anzeigen wegen Körperverletzung. Fast alle Verfahren werden eingestellt, eine Handvoll führt zu Freisprüchen, eine Handvoll zu Verurteilungen... 1998 wurde sogar bekannt, dass ein Staatsanwalt Anzeigen gegen Polizisten nicht einmal in den Computer eintrug!

Wie sehr kann man dem Polizeiapparat und der Justiz überhaupt noch vertrauen, wie sehr muss man ihnen misstrauen? Geht es überhaupt noch irgendwo um Gerechtigkeit? Oder geht es um politischen Druck, Verhaftungen und Verurteilungen vorweisen zu müssen; um gegenseitige Deckung, ein „Nicht-allzu-genau-Nehmen“, einen Filz zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft und anderes mehr?

Und ist irgendwo noch das Menschliche im Blick? Wie kann es sein, dass zwei junge Menschen trotz gravierendster Widersprüche der Anklage und ganz offensichtlich völlig fehlendem „Gefährdungspotential“ dennoch in Haft bleiben müssen?

Vom Wiedergewinnen des Menschlichen

Rudolf Steiner beschrieb schon vor 90 Jahren, Anfang des 20. Jahrhunderts, wie das menschliche Zusammenleben durch das rein abstrakte Auffassen und Organisieren in die absolute Dekadenz und in die größten Katastrophen hineingeraten muss. Wenn der Mensch im Erleben den Mitmenschen verliert – und das ist heute immer mehr eine Realität – dann ist für die Zukunft nichts mehr zu hoffen...

Rudolf Steiner wies durch die Entfaltung der Idee der Dreigliederung immer wieder darauf hin, wie das Rechtsleben etwas sein muss, wo der Mensch wirklich gleichberechtigt neben dem Menschen steht und wo man gemeinsame „das Rechte“ finden und festlegen muss – für alle Fragen, wo jeder Einzelne gleichermaßen urteilsfähig ist. Dies geht selbstverständlich bis hinein in die Frage, was überhaupt menschenwürdiges Dasein ist: eine Frage, die heute vom Wirtschaftsleben, dessen heute auf dem Egoismus beruhenden Eigengesetzlichkeit und einer ganz vom Wirtschaftsleben dominierten Politik bestimmt wird.

Erst wenn das Rechtsleben diesem Wirtschaftsleben entzogen und wirklich zu einer eigenen Sphäre werden würde, könnte sich das wahrhaft Menschliche entfalten.

Aber Rudolf Steiner geht noch weiter: Er verweist darauf, dass es in Bezug auf die Urteilssprechung, also das Richterwesen, wiederum auf ganz individuelle Fähigkeiten ankommt. Dadurch ist dieser Bereich, der heute ganz selbstverständlich zum Rechtsleben gezählt wird, bereits ein Teil des Geisteslebens! Das bedeutet, dass so wie auf der einen Seite das Rechtsleben dem Einfluss des Wirtschaftlichen entzogen werden müsste (und sich damit wesentlich erweitern würde), auf der anderen Seite das Richterwesen dem eigentlichen Rechtsleben entzogen sein müsste.

Rudolf Steiner sagt am 26. Oktober 1919 (GA 332a, S. 94ff):

„Von dem Augenblicke an, wo es sich darum handelt, daß der einzelne zivilrechtlich, privatrechtlich oder sonst irgendwie, auch strafrechtlich, sein Recht zu suchen hat oder zu finden hat, in diesem Augenblicke geht das Recht über von dem eigentlichen Rechtsboden auf den Boden des Geisteslebens. ...
Sehen Sie, wenn es sich darum handelt, zu beurteilen, wie ein Gesetz, das gegeben ist, auf den einzelnen Menschen anzuwenden ist, da kommt die individuelle Beurteilung dieses einzelnen Menschen in Betracht; da kommt in Betracht, daß man wirklich durch seine geistigen Fähigkeiten eingehen kann auf diesen einzelnen Menschen. Die Strafrechtspflege, die Zivilrechtspflege, die kann ... nur dadurch Rechts-Tat werden, daß jeder, der zum Richter wird, wirklich auch in die Lage versetzt wird, aus den individuellen Fähigkeiten, ja den individuellen Beziehungen zu dem Menschen, über den er zu richten hat, heraus zu richten. ...

Es besteht im dreigliederigen sozialen Organismus die selbständige ... Wirtschaftsverwaltung, es besteht der demokratische Rechtsboden, ... aber auch das selbständige Geistesleben, wo vor allen Dingen das Unterrichts- und Erziehungswesen verwaltet wird ... . Diejenigen nun, die die Verwalter des Geisteslebens sind, werden zu gleicher Zeit die Richter zu stellen haben, und jeder Mensch wird das Recht und die Möglichkeit haben – sagen wir sogar bloß für Zeitdauer – sich zu bestimmen, von welchem Richter er abgeurteilt sein will, wenn er in die Lage kommt, für irgend etwas Zivil- oder Strafrechtliches abgeurteilt zu werden. Da wird aus den wirklichen individuellen Verhältnissen heraus der Mensch sich seinen Richter bestimmen. Da wird der Richter, der nicht ein juristischer Bürokrat ist, sondern der aus dem geistigen Organismus heraus bestellt wird, aus den Zusammenhängen, in die er mit seiner Umgebung in sozialer Beziehung versetzt ist, auch feststellen können, wie aus der sozialen Umgebung heraus derjenige zu beurteilen ist, über den zu richten ist. Es wird sich darum handeln, daß nicht aus staatlichen Bedürfnissen heraus die Richter bestellt werden, sondern daß die Gründe, aus denen heraus man einen Richter bestellt, ähnliche sind wie die, die man im freien Geistesleben geltend macht dafür, daß man den besten Erzieher an irgendeinen Platz hinbringt. Das Richterwerden wird etwas ähnliches sein wie das Lehrer- und Erzieherwerden.
Natürlich drängt sich dadurch die Rechtsfindung ab von der Feststellung des Rechtes, die auf demokratischem Wege erwächst. Wir sehen gerade an diesem Beispiel der Strafrechtspflege, wie aus der Demokratie dasjenige herauswächst, was individuelle Angelegenheit des Menschen ist, was auch individuellerweise beurteilt werden muß.“


Das, was Yunus und Rigo in den letzten Monaten durchmachen mussten (und was viele ihrer Freunde, Verwandten und Lehrer als Prozessbeobachter unmittelbar miterleben konnten), zeigt, wie sehr unsere Gesellschaft das Menschliche verliert. Es braucht in unserer Zeit nicht mehr einen preußischen Staat, nicht mehr eine Diktatur – mitten in der so genannten „Demokratie“ geht dieses Menschliche verloren, weil der Mensch es in seinem Erleben immer mehr verliert; weil er nicht aktiv um dieses Erleben ringt; weil auch überhaupt die Begriffe fehlen, die eine solche Welt-Anschauung real begründen könnten. Die Gedanken, mit denen man heute glaubt, die Welt erfassen und „bewältigen“ zu können, reichen nicht aus, denn gerade sie haben an den Punkt geführt, wo wir heute stehen. Wenn man das zumindest erkennen würde, könnte sich eine Sehnsucht nach einer ganz anderen Welt-Anschauung entwickeln...

Der Fortgang

Mit jedem Prozesstag wird es unverständlicher, warum kein Freispruch und nicht einmal eine Entlassung aus der Untersuchungshaft erfolgt. Immer mehr ergibt sich das Bild eines politischen Prozesses. Im November berichten auch die Medien immer umfangreicher - und weitere skandalöse Einzelheiten kommen an die Öffentlichkeit.

Auf der Webseite zum Prozess wird von folgendem Vorfall am 11. Verhandlungstag vom 17. November berichtet, der ganz klar die Befangenheit der Richter zeigt:

Die Verhandlung beginnt, die Richterin Müller verliest den Beschluss zu den Haftanträgen. Elf in gnadenlosem und  hartem Ton verfasste Seiten. Die Haftanträge werden abgelehnt, Begründungen u.a.: die entlastenden Zeugen hätten durchweg kein Gewicht, eine Beschreibung der Täter, wie blonde Haare, skandinavischer Typ,  kleine Nase etc. wären ungenau, die Aussagen der verdeckten Ermittler hingegen seien überzeugend. Und Polizeizeugen sind, trotz zugegebener Widersprüche, sowieso überzeugender. Im Saal wird es sehr unruhig. Alle weiteren Anträge werden ebenfalls abgelehnt. Das zu erwartende Strafmaß wird bekanntgegeben, daraus resultiert "naturgemäß" Fluchtgefahr.
Es entsteht ein Tumult, Yunus und Rigo verlieren, ebenso wie die Eltern alle anderen Prozessbeobachter, die Fassung.

Nun wird es spannend:
Die Anwältin Frau Zecher fragt die Richterin Müller, ob sie das 11 Seiten Papier heute Morgen zum Beratungstermin mit den Schöffen in dieser fertigen und gedruckten Form mitgebracht hat.
Die Richter antwortet wahrheitsgemäß: Ja.
Frau Zecher: Wurden die Haftanträge den Schöffen vor der Verhandlung vorgelegt?
Die Richterin: Ja.
Frau Zecher: Wann?
Die Richterin: Am Ende des letzten Verhandlungstages. (9.11.)
Die Anwälte erbitten Zeit für Beratung, Pause bis 11:30. Nach der Pause:
Die Richterin räumt ein, dass sie die Haftanträge den Schöffen erst morgens zum Beratungstermin vorgelegt hat. (ebenso wie die fertig formulierte Ablehnung der Anträge) Sie entschuldigt sich, dass ihr das entfallen ist.
(Von morgens bis mittags, das kann ja schon mal passieren, oder?)
Der Richterin mag das tatsächlich entfallen sein, dass sie die Haftanträge erst morgens den Schöffen vorgelegt hat. Was aber ist mit den Schöffen?
Warum haben die, die ja wussten, dass sie die Unterlagen nicht nach dem letzten Verhandlungstag bekommen hatten, sondern erst morgens, geschwiegen?
Damit ist nun klar, dass weder die Schöffen noch die Richterin Müller an einer Aufklärung interessiert sind. Hier ist vorbestimmt was wie bewertet werden wird. Es hat kein Beratungsgespräch gegeben, sondern ein Diktat, welches angenommen wurde. [...]

Nach der Pause verlesen die Anwälte ihre gerade verfertigten handgeschriebenen Anträge, sie lehnen im Namen ihrer Mandanten die Vorsitzende Richterin Müller, die beisitzenden Jugendrichter und die Schöffen, kurz das gesamte Gericht ab. Sie verweigern auch die weitere Fortsetzung der Beweisaufnahme, bevor diese Anträge nicht bearbeitet sind.


Am 17.11.2009 schreibt die taz:

Als Richterin Petra Müller verkündet, dass die Angeklagten in Haft bleiben müssen, verliert der 17-jährige Rigo B. die Fassung. "Na klar", ruft er der Richterin entgegen, hält sich die Hände vors Gesicht, beginnt zu weinen. Zehn Prozesstage lang hatten Rigo B. und Yunus K. still dem Vorwurf des versuchten Mordes wegen eines geworfenen Molotowcocktails gelauscht. Am Dienstag, dem 11. Prozesstag, bricht die ganze aufgeladene Spannung des Prozesses vor dem Landgericht auf.
Rigo B.s Eltern eilen zu ihrem Sohn, nehmen ihn in den Arm. "Was wollt ihr denn noch?", ruft der Vater den Richtern zu. Auch Yunus K., 19 Jahre, weint. "Skandal", schimpfen einige Zuhörer im Publikum, andere schluchzen. Die Schwester von Rigo B. erleidet einen Weinkrampf. Richterin Müller muss die Verhandlung unterbrechen. [...]
Kopfschüttelnd verfolgen die Verteidiger die Worte der Richterin - und kündigen einen erneuten Befangenheitsantrag gegen das Gericht an. Vor anderthalb Wochen hatte die Strafkammer einen ähnlichen Antrag abgelehnt. Ihre Mandanten bestritten die Tat und seien Opfer einer Verwechslung, so die Anwälte. Alles beruhe auf den beiden Polizisten, die keineswegs glaubwürdig, sondern widersprüchlich ausgesagt hätten. Objektive Beweise wie Videoaufnahmen oder Benzinspuren an der Kleidung der Angeklagten gebe es nicht. Stattdessen hätten Zeugen, die die Brandsatzwerfer gesehen hatten, Yunus K. und Rigo B. als Täter ausgeschlossen. "Im Zweifel für die Angeklagten", betont Verteidiger Ulrich von Klinggräff. "Welche Zweifel denn noch?"
Tumulte im Gerichtssaal, taz.de, 17.11.2009. 


Und das Neue Deutschland einen Tag später:

Mittlerweile mehren sich jedoch die Hinweise, dass es sich bei den Jugendlichen keineswegs um die Täter des Brandanschlages handelt. So stehen den belastenden Aussagen zweier Polizeibeamter, die sich gegenseitig sowohl bezüglich der Festnahmesituation als auch des Festnahmeortes widersprechen, eine Fülle von Indizien entgegen, die für die Unschuld der beiden Jugendlichen sprechen: An der Kleidung der Inhaftierten wurden keinerlei Spuren von brennbaren Flüssigkeiten gefunden, obwohl die eingesetzte Flasche massiv getropft haben soll. Fotoaufnahmen, die Zeugen des Vorfalls der Polizei zur Verfügung stellten, zeigen nicht die Beschuldigten, sondern vier andere Männer. Hinzu kommen Aussagen mehrerer Zeugen, die die beiden Schüler entlasten.
»Die Staatsanwaltschaft will mit Biegen und Brechen eine Verurteilung durchsetzen«, konstatierte auch Ulrich von Klinggräff, einer der Anwälte der Beschuldigten. Er sei zutiefst überzeugt, dass die beiden Jugendlichen nicht schuldig seien. Ähnlich äußerte sich seine Rechtsanwaltskollegin Christina Clemm, die die Frage aufwarf, wie die beiden Inhaftierten die Molotowcocktails überhaupt transportiert haben sollten. Schließlich hätten sie ohne Taschen und Rucksäcke an der Demonstration teilgenommen. Clemm verwies zudem auf ein Detail in Bezug auf das Vorgehen von Polizei und Justiz. So hätten Beamte die Wohnung eines der Männer durchsucht, der auf den Zeugenfotos zu sehen ist. Dabei hätten die Polizisten zwar einen Benzinkanister im Bettkasten gefunden, diesen jedoch nicht sichergestellt. [!!!]
Mittlerweile gelten die seitens des Berliner Oberstaatsanwaltes Ralph Knispel erhobenen Vorwürfe Beobachtern als konstruiert. Auch am Montag wurde der Verdacht geäußert, dass Yunus K. und Rigo B. einzig zur Abschreckung verurteilt werden sollen, da die Justiz seit Monaten einer medialen Dauerkampagne ausgesetzt sei, die ein härteres Vorgehen gegen die politische Linke [zu der die beiden Schüler gar nicht gehören! H.N.] der Stadt fordere. [...] Mitschüler, die den Prozess von Beginn an beobachten, sprachen von einer »politischen Farce«, zeigten sich »schockiert« und äußerten, »den Glauben an den Rechtsstaat verloren« zu haben. »Ich kann mich im Staat BRD nicht mehr frei fühlen, wie ich es früher einmal getan habe«, äußerte ein sichtlich bewegter Mitschüler der Inhaftierten. Der Großvater von Rigo B. sagte mit tränenerstickter Stimme, dass er erst aufgrund der breiten Solidarität mit seinem Enkel wieder Mut gefunden habe.
Benzinkanister blieb im Bett, Neues Deutschland, 18.11.2009 [bzw. hier].


Rechtsanwältin Ulrike Zecher:

„Dieser Prozess hat den Boden der Rechtsstaatlichkeit verlassen.“
Abendschau vom 23.11.2009.


Und dann - plötzlich - am 17. Dezember die Entlassung aus der U-Haft. Der Prozess wird noch weitergehen, aber Yunus und Rigo dürfen nach acht Monaten wieder zu ihren Familien! Nach massiven Solidaritätsbekundungen, nach klaren Worten von Gefängnisseelsorgern und Jura-Professoren ist der Justizskandal nun perfekt:

Was stimmte die Richter, die erst vor einem Monat eine Freilassung ablehnten, nun um? „Eigentlich gab es nichts Neues in den letzten Wochen“, sagen die Verteidiger. Das Gericht hatte zur Begründung nur drei juristisch-verschachtelte Sätze. Es gebe keine Anhaltspunkte, dass die drei Polizisten „wissentlich die Unwahrheit“ gesagt hätten. „Subjektiv“ seien sie der sicheren Überzeugung, die Angeklagten „nahezu durchgängig beobachtet zu haben“. Doch das Gericht vermag „Zweifel nicht zu überwinden, dass die Polizisten einer Personenverwechslung erlegen sind“.
Freudentränen und Jubel im Gerichtssaal, Tagesspiegel.de, 17.12.2009.


Rechtsanwältin Christina Clemm:

"So etwas kann man nie wieder gut machen."
Spiegel online, 17.12.2009.


Yunus am Tag vor dem Freispruch:

Es ist erschreckend, wie schnell und einfach man zu Unrecht im Gefängnis landen kann und ich frage mich, in wie vielen Fällen Unschuldige bestraft wurden und allein  die Aussage eines Polizisten für eine Verurteilung ausgereicht hat. [...]
Selbst einige Wärter, vor allem die, die schon lange dort arbeiteten, haben mir gesagt, dass die Verhältnisse immer schlechter werden und immer mehr Jungs resignieren, weil sie viel zu lange in ihren Zellen eingeschlossen sind. Ich selbst habe auch erlebt wie einige versucht haben, sich das Leben zu nehmen bzw. sich schwer zu verletzen, um dieser Isolation zu entgehen.
23. Prozesstag.


Acht Monate im Rückblick - eine Reportage:

1. Mai 2009, 21.45 Uhr, Kottbusser Tor. Ein Molotow-Cocktail ist geflogen. Ein Feuerstreifen in der Luft, der sich auf eine junge Frau herabsenkt. Sie brennt. Jemand wirft sich zum Löschen auf sie. Die verbrannte Haut muss später von ihrem Rücken entfernt werden. Ihr habt den geworfen, sagen die Zivilpolizisten zu Yunus und Rigo, dem Bruder seines besten Freundes. Zwei Waldorfschüler, der eine 19 Jahre alt, der andere 16, am Rande einer Demonstration, die zum Krawall geworden ist. Jetzt seid ihr dran. Und Yunus, mit diesem Pochen im Hals, wie Schläge aus seinem Innern, er denkt: Zeugen. Das Mädchen. Die anderen, von vorhin, mit denen sie da saßen, nur geschaut haben. Zeugen, denkt Yunus. Und: Wie geht das? [...]
Es geschah am 1. Mai. Zitty Berlin, 28.1.2010.