01.12.2009

Das Fest der Liebe – und der Geburt

veröffentlicht in der "Mittenmang", Schulzeitung der Waldorfschule Berlin-Mitte, Weihnachten 2009.

„Ich meine, es müßte einmal ein sehr großer Schmerz über die Menschen kommen, wenn sie erkennen, daß sie sich nicht geliebt haben, wie sie sich hätten lieben können.“
Christian Morgenstern [1]


Nun ist der tiefe Gehalt solcher Worte, die von der Liebe sprechen, natürlich zunächst gar nicht real zu erfassen, sondern immer nur zu erahnen. Zu dieser Ahnung kann man auf ganz verschiedene Weise ein Verhältnis entwickeln:

Zunächst kann diese Ahnung eine reale Sehnsucht erwecken. Man fühlt sich bis in den tiefen Willen hinein berührt... Doch wie stark – und wie lange?

Wenn die Ahnung zu schwach wird, dann wird sie allmählich selbst zum Ersatz für das Eigentliche – sie wird zur Sentimentalität. Wenn die Ahnung noch schwächer und die Tendenz zum Selbstbetrug noch stärker wird, entsteht die Unwahrhaftigkeit, die Scheinheiligkeit: Man feiert „Weihnachten“, gibt Geschenke, Almosen, redet sich selbst alles Mögliche ein – und ist doch (spätestens) am nächsten Tag wieder ganz der Alte.

Wenn die Ahnung aber real genug ist (und bleibt), dann empfindet man: Zu dem Erahnten kann man nur dann in ein Verhältnis kommen, wenn alles neu wird. Wie sollte es auch anders sein, wenn doch das, was man da erahnt, selber das ganz Neue ist? Etwas, das „nicht von dieser Welt“ ist...

Die Geburt von Bethlehem – mit ihr beginnt etwas ganz Neues. Dieses Neue ist so welterschütternd, dass Herodes alle Kinder ermorden ließ, um es zu verhindern – aber er dachte noch in den alten Kategorien.

„Siehe, ich mache alles neu!“, spricht der Christus in der Johannes-Offenbarung (21,5).

Das heißt nicht, dass der Mensch dabei passiv bleiben kann – im Gegenteil. Denn das Alte ist noch immer da, behauptet seine Macht, ja wird immer noch stärker, entwickelt jeden erdenklichen Widerstand gegen das Neue. Es ist sozusagen der Kampf des „alten Adam“ gegen den „neuen Adam“. Jeder Mensch steht ja mitten in diesem Kampf darinnen. Aber der erste Schritt ist eben, eine Ahnung davon zu gewinnen, dass das Neue überhaupt eine Realität ist, der man sich nähern kann.

Erinnern wir uns einmal an die eigenen Urbilder, die wir mit der Zeit des Advent und dann der Weihnacht verbinden. Vergessen wir dabei einmal die auch sehr eindringlichen Bilder des Weihnachtstrubels, der Geschenkefülle, und spüren wir den Urbildern nach, die am tiefsten erahnen lassen, was das Wesen der Weihnachtszeit ist.

Vielleicht sind es die Kerzen, die in der tiefen morgendlichen Ruhe und Dunkelheit ihr stilles Licht scheinen lassen. Vielleicht ist es der erste Schnee, das Erlebnis des ganz in reines Weiß gehüllten Winterwaldes. Wiederum tiefe Stille, kein Laut außer dem gedämpften Stapfen der eigenen Schritte; dann und wann rieselt von einem Ast etwas Schnee und zersprüht in der Morgensonne gleichsam in reines Licht...

Was kann man denn in solchen Augenblicken empfinden, wenn man sie nicht nur „naturalistisch“ nimmt, sondern in ihrem ganzen Sein?

Man empfindet stillen Frieden, Erwartung, Hingabe, ja vielleicht auch Freude, nach Weihnachten auch Erfüllung...

Diese Gefühle, die sehr tief sein können, weisen wiederum nur hin auf das, was in seiner vollen Realität erst im Nicht-Sinnlichen erfahren werden kann. Diese Realität kann wirklich – wiederum nur anfänglich und nur für Augenblicke – ein erschütterndes Erlebnis werden, wenn man diese tiefe Hingabe in sich real werden lässt, wenn man vor dem Weihnachtsbaum jene wunderbaren Lieder singt wie etwa „Ich steh‘ an Deiner Krippen hier...“ oder „Es träumet einer Frauen...“.

Es stellt sich hier eine entscheidende Frage: Ist man in seiner ganzen Seele zu dieser Hingabe fähig oder nicht? In diesem Sinne gilt in seinem ganzen Gewicht das Christus-Wort: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder...“. Und auch ein anderes Wort kann man unter anderem in dieser Weise hören: „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt.“ – Wir alle sind heute „reich“ an abstrakten Gedankenformen. Unser Denken ist so abstrakt und zugleich damit so hochmütig und schein-vernünftig geworden, dass es nicht nur selbst völlig erstorben ist, sondern auch immer mehr unser ganzes Fühlen, Empfinden und Erleben abgetötet hat.

Mit einem Gefühl aber, das der Hingabe gar nicht mehr fähig ist, kann das Wunder der Weihnacht nicht erfasst werden...

Es geht aber auch nicht darum, das Denken auszuschalten. Rudolf Steiner, der große christliche Eingeweihte, hat immer wieder darauf hingewiesen, wie wesentlich das Denken für den Einweihungsweg ist – aber es muss verwandelt werden, durch und durch.

Das erfordert von einem stärkste Aktivität. Aber genau hier, im Denken, liegt der Ansatzpunkt für die Verwandlung des ganzen Menschen – und für eine Erfahrung des Christuswesens heute. Eine wunderbare Beschreibung dieses Weges und seiner Frucht findet sich in dem Buch „Der Heilige Gral“ von Mieke Mosmuller (Occident, 2007). Die ganze Anthroposophie ist in Wirklichkeit ein Weg zur Auferstehung des Denkens.

Das aber ist bereits ein Ostermysterium. Zu Weihnachten kann es geahnt werden. Zu Weihnachten kann in einem selbst das Geheimnis der Geburt real werden, der erste Keim eines Neuen zum Leben erwachen – eines Neuen, das sich dann immer mehr entfalten will...

Anmerkung


[1] Dass dieser Dichter, ein enger Schüler Rudolf Steiners, bei weitem nicht nur Kinderverse, sondern viele wunderbare Gedichte und Gedanken verfasst hat, ist leider viel zu wenig bekannt. Wer ihn wirklich kennenlernen will, dem seien seine gesammelten Werke in der sehr preiswerten Taschenbuch-Ausgabe von Piper empfohlen.