04.01.2010

Von der Notwendigkeit der wichtigsten Frage – eine Widerlegung des Harmonie-Dogma

Das Wesen der Anthroposophie kann nur erkannt werden, wenn man sich von dem „Harmonie-Dogma“ der gleichberechtigten relativen Richtigkeit der verschiedensten Auffassungen lösen kann und „Geisteskampf“ nicht mehr mit „Dogmatismus“ verwechselt.


Inhalt
Einleitung
Eine „wunderbare“ Welt – und eine noch wunderbarere Wirklichkeit
Die entscheidende Frage
Die perfekte Illusion
Ein kleines Beispiel der Selbsterkenntnis... | ... bis zur Erkenntnisfrucht
Abstraktes Aufzählen und reales Unterscheidungsvermögen | Vom Licht der wachsenden Antwort
Von dem Weg zum Wesen


Einleitung

Die nachstehenden Ausführungen schlossen sich an folgenden Kommentar eines Menschen an, den ich gefragt hatte, inwiefern und warum meine Aufsätze auf ihn denn „dogmatisch“ wirken würden:

Lieber Holger, nur eine kurze Antwort, wg. Zeit. Eine dogmatische Haltung in Deinen Texten sehe ich u.a. darin, dass Du für Dich in Anspruch nimmst (auch wenn Du es vielleicht nicht immer so direkt aussprichst) in entscheidenden wichtigen Fragen die (absolute, letztendliche) Wahrheit vertreten zu können, die Wahrheit bezüglich der "richtigen" Auffassung von Anthroposophie, der "richtigen" Auffassung von M.Mosmuller, Info3, Gronbach, usw. Letztere werden m.E. von Dir einseitig streng und nicht besonders fair beurteilt und verurteilt. Warum? Wegen ihrer "falschen" Sicht der Anthroposophie?? Diese Sicht ist aber nicht falsch, sie ist nur anders als Deine. Warum kann man diese anderen Auffassungen nicht gelten lassen, als EIN Mosaikteil in dem großen Ganzen?? Meine Güte, es hat gegeben und es gibt (zum Glück!) gerade innerhalb der Anthroposophie zahllose "umstrittene" und sehr eigenständige Denker und Autoren: Karl Ballmer, K.Swassjan, Scaligero, Kühlewind, Heide Oehms, H.Witzenmann, V.Tomberg, J.v.Halle, um nur einige wenige zu nennen; alle fühlten sich zutiefst mit Steiner verbunden, alle haben allerdings auch etwas sehr eigenes, eigenwilliges in die Anthroposophie hineingetragen. Warum muss man denn irgendjemand unbedingt "scharf zurückweisen" wollen, das hat wirklich etwas von so einem ollen mittelalterlichen Kirchenfritzen an sich.

Eine „wunderbare“ Welt – und eine noch wunderbarere Wirklichkeit

Ja, das ist es eben. Es geht um den unlösbaren Abgrund zwischen Relativismus und „absoluter“ Wahrheit.

Es ist eine wunderbare Welt, in der jeder eine relative Wahrheit, aber eine Wahrheit vertritt – die jeweils die Anthroposophie bereichert; und wo alle gemeinsam ringenden Anthroposophen letztlich doch gemeinsam eine wunderbare Harmonie bilden. Man muss nur alles als Anthroposophie anerkennen – und schon hätte man diese wunderbare Welt. Eine Welt, in der es – zumindest unter den Anthroposophen – keine Konflikte gibt. Eine Welt, in der sich all diese Anthroposophen gemeinsam um das Gute bemühen, jeder auf seine eigenwillige Art, die aber das Ganze nur immer mehr bereichert. Man braucht nur das Verständnis für den anderen – und schon kann man aus dem gemeinsamen Streben und der gemeinsamen Kraft heraus für das Gute wirken. Ist das nicht eine wunderbare Welt? Doch, sie ist es!

Aber... Es ist eine Welt, in der die Anthroposophie nicht leben darf und nicht leben kann (weil man es unmöglich macht). Anthroposophie, das ist wahrhaftes Geist-Erleben, es ist eine Verwirklichung der höchsten Erkenntnis, des Wesens der Erkenntnis, zu der der Mensch berufen ist, die wahrhafte Verbindung mit jenem höchsten göttlichen Wesen, das man den Logos, den Christus nennt, und der sich mit dem Menschen verbunden hat, indem Er der Menschensohn wurde. Der Mensch kann eine Geist-Erkenntnis erlangen, in der er sich mit der wirklichen geistigen Welt, mit den Hierarchien, mit dem Geheimnis seines eigenen Wesens, mit den tiefsten Mysterien der göttlichen Schöpfung verbinden kann. Das ist der Ausblick, wenn von Anthropo-Sophia gesprochen wird. Und das ist etwas so Wunderbares, dass jede irdische Harmonie dagegen zu einem Nichts verblasst.

Die entscheidende Frage

Um aber nach diesem wunderbaren Ziel streben zu können, muss man dieses Ziel „kennen“, muss es erreichen wollen, muss die Wege wirklich betreten wollen, die zu diesem Ziel führen.

Das ist die entscheidende Frage. Will man von diesem Ziel, von diesem Wesen der Anthroposophie, von der wunderbaren Bestimmung – oder Berufung – des Menschen überhaupt etwas wissen? Ja oder nein? – Nicht: ja, aber... Sondern: Ja? Oder nein? Gemeint ist das, was Rudolf Steiner als dieses wunderbare Ziel, als Möglichkeit, Wesen und Berufung des Menschen geschildert hat. Die ganze Anthroposophie ist in diesem Sinne eine grandiose Offenbarung und ein ungeheurer Ausblick auf dieses Ziel – und auf eine Geist-Erkenntnis, zu der jeder Mensch berufen ist! Will man davon etwas wissen – ja ... oder nein? Und wenn man davon etwas wissen will, hat man einen solchen Ernst dieses Willens, dass man die Wege betritt, die zu dieser Geist-Erkenntnis führen? Voller Eifer, Kraft, Beharrungsvermögen und nie nachlassender Willensanstrengung? Kann einem dies zumindest das immerwährende Ideal sein?

Oder eben nicht...?

Oder will man weder vom Weg, noch vom Ziel etwas wissen? Genügt einem das Wissen, dass man in diesem Leben ein paar kleine Schritte der Selbsterziehung machen kann (oder könnte); genügt einem die „Sekundärliteratur“, der intellektuelle Genuss, einen Ballmer, Swassjan oder Scaligero zu lesen; genügt einem ein Zweigabend, eine Eurythmie-Aufführung, vielleicht selbst einmal diesen oder jenen Vortrag oder Zyklus von Steiner zu lesen...? Genügt einem der Blick auf eine Bewegung, in der im besten Falle doch alle harmonisch zusammenwirken, in der es einen Ballmer, Swassjan usw. gab oder gibt, in der es Waldorfschulen, Bioläden, Demeter-Landwirte usw. gibt; genügt das Wissen, dass es irgendwie immer weitergehen wird; das Gefühl, dass auch ein Gronbach, eine Judith von Halle, ein Ken Wilber nicht die schlechtesten sind, selbst wenn man sie persönlich vielleicht nicht bevorzugt?

Es gibt diese zwei Möglichkeiten – von den Übergängen spreche ich nicht, und von den Menschen, denen Anthroposophie gar nichts bedeutet, auch nicht. Es gibt die Möglichkeit, dass man es mit der Anthroposophie und dem Hinweis auf das wahre Geheimnis des Menschen wirklich ernst meint, dass es einen unendlich und unerschöpflich begeistert, befeuert... Und es gibt die Möglichkeit, dass man es mit einem bestimmten Entwurf, einer bestimmten Vorstellung von Anthroposophie bzw. dem „für uns Normalsterbliche heute Machbaren“ etc. begnügt.

Diese zweite Möglichkeit aber, die sich nicht zum Höchsten, zur wahren Wirklichkeit der Anthroposophie aufschwingen will, ist es, die es einem leicht macht, zu jener wunderbaren Vorstellung zu kommen, dass doch jeder sein berechtigtes und wichtiges Scherflein oder Mosaikteil zum großen Ganzen zusammenträgt.

Die perfekte Illusion

Die Illusion ist perfekt – denn sie ist nicht zu durchschauen. Wenn man ebendiese Vorstellung hat, dass jeder seinen Teil zum großen Ganzen zusammenträgt, dann kann man nicht durchschauen, dass es nicht so ist. Warum nicht? Weil man diese Vorstellung liebt, weil man ihre Unwahrheit nicht durchschauen will, weil diese wunderbare Vorstellung einem wunderbarer ist als alles andere – und als Streit, Dogmatismus, Fanatismus, Rechthaberei, Absolutheitsansprüche usw. usf. allemal! Die Vorstellung der Harmonie, des „Jeder ist wichtig, jeder Beitrag ist berechtigt und bereichernd“, ist so verführerisch, dass sie mit Leichtigkeit, ja kampflos gegen alles gewinnt, was wie Dogmatismus, absolute Wahrheit usw. daherkommt. Wer sich in dieser Weise gebärdet, macht sich nur lächerlich und zeigt schon im Ansatz, dass er nicht ernst zu nehmen ist. Wer die Harmonie nicht will, ist einfach blind für die Tatsache, dass jeder mit seinem Ansatz, Beitrag etc. die Anthroposophie bereichert, die Entwicklung voranbringt, Anregungen gibt. Die Illusion ist perfekt – sie ist unüberwindlich.

Überwunden werden kann sie nur, wenn man eine Frage stellt – und wenn diese Frage einem nach und nach so wichtig wird, wie ein innig geliebter Mensch. Diese Frage lautet: Was ist Anthroposophie? Diese Frage muss einem wichtiger werden als alle bisherigen, fertigen Vorstellungen. Sie muss einem wichtiger werden als alle Sympathie für die wunderbar fertigen Vorstellungen, die man bisher von Anthroposophie hatte, wichtiger auch als alle Sympathie für die Vorstellung einer harmonisch strebenden Gemeinschaft, für Harmonie überhaupt. Nicht, dass man die Harmonie nicht mehr lieben sollte, im Gegenteil. Aber die Sehnsucht nach Harmonie darf nicht stärker sein als die Sehnsucht, das wahre Wesen der Anthroposophie kennenzulernen. Nur wenn diese Sehnsucht, dieses Streben, das Wesen der Anthroposophie immer tiefer kennenzulernen und dann auch verwirklichen zu lernen, stärker ist als alle andere Sehnsucht, wird sie allen Verführungen standhalten. Dann wird sie standhalten, wenn die Verführung der „Harmonie“ naht, die Verführung der Abstraktion, des „Heute-Machbaren“, des „Schon-längst-Erreichten“, des Dogmatismus, des Fanatismus, des Ruhm-Bringenden, und, und, und...

Es gibt unzählige Verführungen, die das wahre Wesen der Anthroposophie verdunkeln wollen, die das Interesse daran lähmen wollen, die Begeisterung dafür, die Entschlossenheit dazu. Schon ein Bruchteil dieser Verführungen reicht aus, um die Illusion perfekt zu machen – die Illusion, dass Anthroposophie etwas anderes sei, als sie wirklich ist; die Illusion, dass es auf etwas anderes ankomme, als es wirklich ankommt.

Ein kleines Beispiel der Selbsterkenntnis...

Nur eine Illusion ist die Vorstellung – die sehr schnell zum Dogma wird, wodurch sie erst recht unüberwindlich geworden ist –, dass „Streit und Rechthaberei“ bereits ein Beweis dafür sind, dass hier das Ziel bereits verfehlt wurde. Gerade „unter Anthroposophen“ streitet man doch nicht, bzw. wenn man es tut, ist man nicht besser – oft sogar schlimmer – als der Rest der Welt! Überhaupt findet man die Wahrheit, wenn es denn eine gibt, doch nur durch den ständigen Austausch, durch das Zusammentragen der Mosaiksteine, durch Zusammenarbeit usw. – All diese Vorstellungen sind schon so zum Allgemeingut des „Denkens“ geworden, dass jede Abweichung davon mit großem Staunen und Kopfschütteln zur Kenntnis genommen wird. Man kann es nur mit mittelalterlichem Dogmatismus und Inquisition etc. vergleichen – man kann gar nicht anders. Das zeigt, wie verwurzelt diese Vorstellung im heutigen Denken bereits ist, wie tiefgreifend das Denken von diesen unhinterfragten, ja kaum noch bewusst hinterfragbaren Prämissen inzwischen bestimmt wird.

Die Illusion ist perfekt – denn man hinterfragt sein eigenes Denken ja nicht. Gewöhnlicherweise überhaupt nicht, und ungewöhnlicherweise auch nur höchst selten und unvollkommen. Streit und Rechthaberei etc. wird einfach als „mittelalterlich“ o.ä. erlebt. Die Assoziation mit altertümlichen katholischen Dogmatikern, die vor einigen Jahrhunderten noch Macht besaßen, ist unmittelbar da. Und selbst wenn sie nicht unmittelbar da ist, liegt sie nahe. Und wenn sie nicht nahe liegt, liegt etwas Ähnliches nahe. Letztlich führt kein Weg daran vorbei: Harmonie ist ein Beweis dafür, dass etwas gelingt; Rechthaberei und ähnliches ist ein Beweis dafür, dass etwas nicht stimmt.

Überwunden werden kann die Illusion nur, wenn die entscheidende Frage lebt. Wenn diese Frage einem zum Licht wird, dass die Illusionen durchschaut. Wenn die Frage nach dem Wesen der Anthroposophie und das fortwährende suchende Streben einem auch die dunklen Winkel der eigenen Selbsterkenntnis auszuleuchten beginnt. Dann wird man schließlich zum Beispiel erkennen, dass nicht nur das Mittelalterliche – oder man kann auch sagen Ewig-Gestrige – etwas ist, was man zunächst einmal prüfen müsste. Woher kommt diese Assoziation? Kann ich sie bis zu ihrem Ursprung zurückverfolgen? Man wird am Faden einer solchen Frage in der Selbstbeobachtung auch erkennen, dass man den Schluss zieht: „Rechthaberei ist nun einmal mittelalterlich“. Man wird sich weiter fragen können, wie dieser Schluss entsteht. Man wird dann u.a. zu dem Aspekt kommen, dass es im Mittelalter noch um absolute Wahrheiten ging, um höchste Wahrheiten, um Glaubenskriege, um Dogmen usw. – Dann kann man schließlich auch immer mehr erleben, wie all dieses Wissen die eigene Assoziation prägt, wenn man heute auf Rechthaberei trifft.

Selbsterkenntnis wird auf diese Weise immer mehr zu einer Realität, zu einer wahrhaften Wissenschaft, zu einem Felde, auf dem immer mehr innerlich erlebt und erkannt werden kann. Schließlich wird man auch zu der Erkenntnis kommen können, dass ja schon das Phänomen, was man beurteilt – die „Rechthaberei“, das „Streiten“ usw. –, etwas ist, dem man Begriffe beilegt. Man ist es ja selbst, der irgendeinem Phänomen den Begriff „Rechthaberei“ beilegt – erst im zweiten Schritt kommt es ja dann zur Assoziation „Mittelalter“ oder auch „vergangenes Jahrhundert“. War schon diese Assoziation im Alltag vollkommen unmittelbar, „automatisch“ und in ihrem Ursprung unerkannt, gilt dies für die ursprünglich gefundenen Begriffe umso mehr. „Rechthaberei“ ist nun einmal „Rechthaberei“. Man muss es nicht gleich mit der Assoziation „Inquisition“ belegen, man kann sich damit auch zurückhalten, aber „Rechthaberei“ ist und bleibt ein unsympathisches Phänomen. Das ist das Alltagserleben. Man kann aber doch darauf aufmerksam werden, dass es sich bei dem Begriff nicht um das Phänomen handelt, sondern dass man selbst ein Phänomen erst mit diesem Begriff belegt.

Und dann kann man sich innerlich wiederum Fragen stellen: Woher kommt der Begriff? Was besagt der Begriff „Rechthaberei“ überhaupt? Wie kommt es dazu, dass ich ihn bilde? Wie bilde ich ihn überhaupt? Was geschieht überhaupt, wenn ich irgendeinen Begriff bilde? Der Begriff „Rechthaberei“, so wird man finden, enthält bereits eine Wertung. Habe ich ihn überhaupt in rechter Weise verwendet? Wie komme ich zu dieser Wertung? Hat sie mit dem Phänomen etwas zu tun? Ganz objektiv? Kann eine Wertung überhaupt objektiv sein? Und wenn sie subjektiv ist? Um was für ein Phänomen geht es überhaupt? Kann ich das Phänomen mit einem Begriff verbinden, der keine Wertung enthält?

... bis zur Erkenntnisfrucht

Die Selbsterkenntnis kann an einem einzigen Beispiel bereits so ausführlich sein, so zahlreiche Fragen aufwerfen, dass man Tage, ja Wochen oder länger brauchen kann, um sie halbwegs zu erschöpfen. Was ich hier an einem wirklich kleinen Beispiel zeigen wollte, ist, dass die ganze Urteils- und Verurteilungs-Kette, die von einer Beobachtung zu dem schlichten Wort „ewig-gestrig“ führt, viele vollkommen undurchschaute Stationen hat, und dass relativ am Anfang dieses ganzen Prozesses ein Begriff wie „Rechthaberei“ liegt. Dieser enthält bereits eine Wertung. Man kann während dieses ganzen Prozesses glauben, man denke, handle und urteile ganz objektiv. Man kann vielleicht sogar die Assoziation „Mittelalter/Inquisition“ für objektiv halten, fast immer aber wird man den anfänglichen Begriff „Rechthaberei“ für objektiv halten – wenn man überhaupt darüber nachdenkt! „Ist es nicht so – der Mann ist doch von vorne bis hinten ein Rechthaber!?“

Man wird also nicht erkennen, dass der Begriff bereits die eigene Wertung enthält. Man wird glauben, dass man einen Schluss zieht: Rechthaber, also mittelalterlich. Tatsächlich aber liegt das Urteil schon in dem allerersten Begriff! Die anschließende Assoziation ist unvermeidbar bzw. nebensächlich, sie ist nur eine Steigerung in der Bildhaftigkeit oder in der Ausdrücklichkeit der Wertung. Die Wertung selbst war schon ganz am Anfang vollzogen – schon in der Phase, wo der Begriff für das Phänomen gesucht und gefunden wurde. Schon dieser allererste Begriff war nicht rein, nicht einfach nur beschreibend, sondern von vornherein wertend.

Kann man also am Ende vielleicht noch zweifeln, ob man mit der Bezeichnung „mittelalterlich“ ganz in der Sphäre der Objektivität geblieben ist oder dem Phänomen (bzw. dem betreffenden Menschen) vielleicht doch ein wenig Unrecht getan hat – an dem Begriff „Rechthaberei“ wird man ganz sicher nicht zweifeln. Er ist eben erst recht unmittelbar da. Wenn man überhaupt darüber nachdenkt, was natürlich fast nie geschieht, wird allein schon die Unmittelbarkeit, mit der der Begriff da ist, einem Gewähr genug sein, dass er das Phänomen auch wahrheitsgemäß, objektiv beschreibt. Dass man von vornherein wertet, dass es vielleicht auch einen wertfreien Begriff geben könnte – und dass vielleicht auch dieser noch nicht der richtige sein könnte! –, das alles kann nur bei der gründlichsten Selbstbeobachtung ins Feld des Bewusstseins geraten.

Am Ende dieses Exkurses über ein kleines Beispiel des alltäglichen „Denkens“ und Urteilens hoffe ich, dass die Aufmerksamkeit nun soweit geschärft ist, dass man erkennen kann, dass „Rechthaberei“ kein Beweis dafür ist, dass der Betreffende Unrecht hat, zumindest moralisch, sondern dass der Begriff bereits falsch ist, weil es darum geht, dem wahren Sachverhalt überhaupt erst auf die Spur zu kommen!

Und die wichtigste Frage muss lebendig bleiben, immer mehr lebendig werden. Was ist Anthroposophie?

Abstraktes Aufzählen und reales Unterscheidungsvermögen

Wenn diese Frage, die Sehnsucht nach einer Antwort, nach der Anthroposophie selbst, wirklich so stark ist wie die starke Liebe zu einem anderen Menschen – dann lichtet sich immer mehr der Nebel, dann lichten sich Illusionen, verschwinden wie die Dunkelheit der Nacht, wie der Nebel am Morgen in ein Nichts.

Denn die Sehnsucht, die Frage selbst, bringt immer mehr die Antwort hervor – die Antwort schenkt sich nur an die tief ehrliche Frage, an die tief ehrliche Sehnsucht. Und die Antwort wächst, reift, wird tiefer und größer. Und je mehr die Antwort ins Licht des Bewusstseins tritt, je tiefer und größer sie wird, desto klarer wird auch eine andere Erkenntnis sein: Wenn man diese Anthroposophie wahrhaft liebt und ihre wahre Bedeutung erkennt, dann ist es etwas Selbstverständliches, dass man ihren Verfälschungen entgegentritt – ganz ebenso, wie man es tun würde, wenn ein innig geliebter Mensch falsch geschildert, vielleicht sogar verletzt oder gar physisch angegriffen wird.

Indem man den Verfälschungen der immer mehr in ihrem Wesen erkannten Anthroposophie entgegentritt, tut man dies sowohl um der Anthroposophie selbst willen, als auch um all der Menschen willen, die dieses Wesen der Anthroposophie in seiner wahren Wirklichkeit erkennen dürfen sollen – und das ist jeder Mensch. Das Geheimnis der Anthroposophie umfasst das wahre Wesen des Menschen, der Welt, ihrer Verbindung – was könnte wichtiger sein als dieses Geheimnis – und was ist gefährlicher als seine zahllosen Verfälschungen?

Man kann Ballmer, Swassjan, Scaligero ... Judith von Halle nicht in eine Reihe stellen. Wenn es einem um Anthroposophie geht, muss die wichtigste Frage – die nach der Anthroposophie selbst – in einem lebendig sein, und dann muss man jede einzelne Sekundärliteratur einzeln prüfen. Die in einem selbst immer mehr wachsende Antwort auf die wichtigste Frage wirft dann auch Licht auf das, was andere Menschen als „Anthroposophie“ beschreiben oder was sie unter ihrem Namen schreiben. Man wird dann immer mehr jeden einzelnen Absatz, jeden Satz, jedes Wort innerlich miterleben und prüfen können – nicht nur das „Was“, sondern auch das „Wie“ –, wird innere Erlebnisse haben, wird eine ganz neue Urteilsfähigkeit gewinnen. Man wird bei diesem und jenem dessen innere Fragen wahrnehmen, das innere Ringen, die Grenzen dieses Ringens, seinen Ernst, die Richtung seiner Hinweise oder Ausführungen...

Und man wird feststellen, dass jeder Einzelne sehr verschieden ist, man wird aber auch immer mehr die Art der Verschiedenheit erleben – und man wird vor allem auch immer mehr erleben, wo es Unklarheiten, Abweichungen, mögliche oder ganz offenbare Widersprüche zu dem gibt, was man selbst mittlerweile als Wesen der Anthroposophie klar erkannt hat, fast sicher vermutet, deutlich empfindet oder vage erahnt. All das, worin man selbst sich nicht ganz und gar sicher ist – und vielleicht selbst dies – wird man immer wieder prüfen, innerlich befragen, ruhen lassen, nochmals empfinden und untersuchen, immer wieder...

Vom Licht der wachsenden Antwort

Und so wird die lebendige Frage nach dem Wesen der Anthroposophie immer mehr zu einer Antwort – nicht ein „Wissen“, nicht ein System, eine fertige Ansammlung von Fakten oder Vorstellungen, keine Dogmatik, sondern eine lebendige, immer wieder neu, tiefer und klarer erlebte Antwort. Dann aber offenbart sich auch das Verhältnis alles anderen zu dieser Antwort in ihrem Licht. Und man erkennt immer mehr in der eigenen lebendigen Anschauung, wie die einzeln strebenden Menschen bzw. ihre Äußerungen und Schilderungen zur Anthroposophie selbst stehen – welche Aspekte sie beschreiben, in welcher Tiefe, wo es ins Vage abgleitet, in eigene Vermutungen, wie diese gestützt werden oder auch nicht, wo es fragwürdige Äußerungen gibt, wo klare Unrichtigkeiten oder – in größerem Umfang verstanden – Unwahrheiten, wo krasse Entstellungen. Auch hier sind dem forschenden Prüfen keine Grenzen gesetzt, vieles wird man auch zunächst offen lassen müssen, aber selbst dann wird die Art, das „Wie“ der Darstellungen einem sehr viel sagen können, auch und gerade über die allgemeine Ernsthaftigkeit, Vertrauenswürdigkeit usw.

Man kann also keine „Reihe von Anthroposophen“ nennen, man kann nicht von „Mosaiksteinen für das große Ganze“ sprechen, man muss jedes Mal wieder einzeln prüfen. Es ist nicht möglich, zu sagen, dass Ballmer, Swassjan, Scaligero ... Judith von Halle alle in ihrer Weise Recht haben, auf Verschiedenes hinweisen usw. – sondern man muss prüfen, was der Einzelne überhaupt sagt, welche Qualität, welchen Wahrheitsgehalt es hat und vor allem, inwiefern es überhaupt etwas mit Anthroposophie zu tun hat, und wenn ja, inwiefern es einen in Bezug auf die eigene wichtigste Frage weiterbringt.

Auf diesem Wege wird man auf objektive Weise und in lebendiger Anschauung finden, dass es  Darstellungen gibt, die in Inhalt und/oder Art und/oder Methode der Anthroposophie widersprechen. Und man wird es detailliert und immer mehr bis ins Einzelne begründen können, indem man sein eigenes Erleben, sein eigenes Mitdenken mit diesen Darstellungen befragt. Ich habe auf meiner Webseite sehr vieles zu den Darstellungen von Sebastian Gronbach und Judith von Halle gesagt. All dies ist nicht aus einem abstrakten oder dogmatischen Verständnis von Anthroposophie heraus gesagt, sondern aus einem konkreten Erleben heraus – und man kann jeden einzelnen meiner Sätze, Begründungen, Hinweise, Urteile usw. wiederum selbst prüfen.

Gerade weil die Anthroposophie kein starres System aus unendlich vielen Mosaiksteinen, kein beliebiges Sammelbecken aus beliebigen Wahrheiten ist, sondern im Gegenteil eine lebendige Wahrheit, etwas höchst Konkretes, wenn auch höchst Umfassendes, und gerade weil sie auch ein wohl beschriebener Erkenntnisweg ist (und nicht etwa alle Wege zur Geist-Erkenntnis führen) – gerade deswegen gibt es auch Ausführungen und Darstellungen, die dem Wesen der Anthroposophie widersprechen.

Solange dies nicht deutlich ist, lebt die wichtigste Frage noch nicht stark genug in einem – und so lange ist die Illusion von „Harmonie und Toleranz“ unüberwindlich.

Von dem Weg zum Wesen

Wenn man aber nach dem Weg sucht, der einen immer tiefer in das Wesen der Anthroposophie hineinführen kann, sollte man vor allem die Frage selbst nach diesem Wesen in sich pflegen und immer mehr vertiefen. Dann verbindet sich diese Frage immer mehr mit dem notwendigen Ernst, mit Wahrhaftigkeit und Ehrfurcht, die selbst zu inneren Kräften werden, welche einen auf dem Weg weiterführen. Man wird dann die richtigen Werke Rudolf Steiners finden, die man immer tiefer auf sich wirken zu lassen vermag.

Und sehr wertvolle Werke auf dem Wege einer Vertiefung der zentralen Frage und ihrer Antwort sind auch die Bücher von Mieke Mosmuller – u.a. „Der Heilige Gral“, „Arabeske“, „Der lebendige Rudolf Steiner“ oder auch (und in mancher Hinsicht ganz besonders) ihre Romane wie „Inferno“ oder „Mutter eines Königs“. In den ersten beiden Büchern beschreibt sie den mit dem verwirklichten reinen Denken beginnenden anthroposophischen Schulungs- und Erkenntnisweg aus eigener Anschauung in einer Deutlichkeit und Konkretheit, wie sie so selbst bei Rudolf Steiner nicht zu finden ist. Und so schenken einem gerade die Bücher dieser Niederländerin unendlich vieles für ein wirkliches Verständnis des Wesens Anthroposophia.