04.01.2010

Von der Kraft der Wahrheit und der Kraftlosigkeit des heutigen Denkens

oder: Der Scheingegensatz zwischen Toleranz und Geisteskampf


Wie steht es um das Verhältnis von „Toleranz“ und „Geisteskampf“? Beides ist etwas, worauf Steiner immer wieder aufmerksam gemacht hat...

Auf meine Gedanken zur „Widerlegung des Harmonie-Dogma“ antwortete Barbara mir mit dem Hinweis auf zwei Zitate Rudolf Steiners (Hervorhebungen von mir):

Nochmal ein Text zur Wahrheit:
"Die Wahrheit wird dasjenige sein, was die höchsten Impulse für die Menschheitsentwicklung abgeben wird, und näher soll mir die Wahrheit stehen, als ich mir selber. Verhalte ich mich so zur Wahrheit, und irre ich hier in dieser Inkarnation, so wird die Wahrheit die Kraft haben, mich zu sich zu ziehen in der nächsten Inkarnation. Wenn ich ehrlich irre in dieser Inkarnation, wird sich dieser Irrtum ausgleichen in der nächsten. Besser ist es, ehrlich zu irren, als unehrlich Dogmen anzuhängen. Und das Wort wird vor uns aufleuchten: Nicht durch unser Wollen, wohl aber durch die göttlichen Kraft der Wahrheit selbst wird diese Wahrheit siegen"
Rudolf Steiner GA 127, Seite 181

Zu dieser Stunde ganz einfach noch ein Steiner -Text, der mir in all dem angesprochenen wichtig erscheint.
"Wenn mir jemand zum Beispiel etwas sagt und ich habe darauf zu erwidern, so muss ich bemüht sein, des anderen Meinung, Gefühl, ja Vorurteil mehr zu beachten, als was ich im Augenblick selbst zu der in Rede stehenden Sache zu sagen habe. Hiermit ist eine feine Taktausbildung angedeutet, welcher sich der Geheimschüler sorgfältig zu widmen hat. Er muss sich ein Urteil darüber aneignen, wie weit es für den anderen Bedeutung hat, wenn er der seinigen die eigene Meinung entgegenhält. Nicht zurückhalten soll man deshalb mit seiner Meinung. Davon kann nicht im entferntesten Sinne die Rede sein. Aber man soll so genau als nur irgend möglich auf den anderen hinhören und aus dem, was man gehört hat, die Gestalt seiner eigenen Erwiderung formen. Immer wieder steigt in einem solchen Falle in dem Geheimschüler ein Gedanke auf; und er ist auf dem rechten Wege, wenn dieser Gedanke so in ihm lebt, dass er Charakteranlage geworden ist. Dies ist der Gedanke: "Nicht darauf kommt es an, dass ich etwas anderes meine als der andere, sondern darauf, dass der andere das Richtige aus Eigenem finden wird, wenn ich etwas dazu beitrage". Durch solche und ähnliche Gedanken überströmt den Charakter und die Handlungsweise des Geheimschülers das Gepräge der Milde, die ein Hauptmittel aller Geheimschulung ist. Härte verscheucht um dich herum die Seelengebilde, die dein seelisches Auge erwecken sollen; Milde schafft dir Hindernisse weg und öffnet deine Organe. Und mit der Milde wird sich alsbald ein anderer Zug in der Seele ausbilden: das ruhige Achten auf alle Feinheiten des seelischen Lebens in der Umgebung bei völliger Schweigsamkeit der eigenen Seelenregungen."
Rudolf Steiner GA 10, Kapitel: "Praktische Gesichtspunkte"
Diese Regel lässt sich auch weitgehend beim Schreiben berücksichtigen.


Liebe Barbara,

ja, genau. Man wird die Wahrheit von etwas Gesagtem nur finden können, wenn man die eigene Meinung völlig schweigen lassen kann und sich zunächst ganz mit dem Gedanken des Anderen vereinigen kann. In der von Dir zitierten „Geheimwissenschaft“ heißt es schon vorher auf S. 50:

„Es kommt darauf an, daß dabei nicht nur alles verstandesmäßige Urteilen schweige, sondern auch alle Gefühle des Mißfallens, der Ablehnung oder auch Zustimmung. Insbesondere muß sich der Schüler stets sorgfältig beobachten, ob nicht solche Gefühle, wenn auch nicht an der Oberfläche, so doch im intimsten Innern seiner Seele vorhanden seien. [...] Wenn er sich so übt, kritiklos zuzuhören, auch dann, wenn die völlig entgegengesetzte Meinung vorgebracht wird, wenn das „Verkehrteste“ sich vor ihm abspielt, dann lernt er nach und nach mit dem Wesen eines anderen vollständig zu verschmelzen, ganz in dasselbe aufzugehen. Er hört dann durch die Worte hindurch in des anderen Seele hinein. Durch anhaltende Übung solcher Art wird erst der Ton das rechte Mittel, um Seele, und Geist wahrzunehmen.“


Wenn man die Bücher von Mieke Mosmuller liest, wird man erleben können, dass Sie eine Meisterin dieses selbstlosen Zuhörens, Mitdenkens und Mitlebens ist. Gerade an ihrem letzten Buch „Arabeske“ (zu Ken Wilber) wird das tief beeindruckend deutlich. Sie beschreibt dort ausführlich die Wilbersche Meditation, das Wesen von Wilbers Spiritualität, Quadranten-System usw. – weil sie es so intensiv und tief wie möglich mitgedacht hat, weil sie die Meditation so intensiv wie möglich – schockierend intensiv! – selbst durchgeführt hat. Und dann beschreibt sie, was sie dabei (in dieser selbstlosen, innerlich schweigenden Hingabe) erlebt hat. Überzeuge dich selbst und lies es einmal in Ruhe.

Mir geht es nicht um die Bekämpfung von Sebastian Gronbach oder irgendeinem anderen Menschen – nicht im geringsten. Sondern eben darum, dass „der andere das Richtige aus Eigenem finden wird, wenn ich etwas dazu beitrage“. Ich meine damit jeden anderen – ich will nicht Gronbach selbst von etwas anderem überzeugen, als was er vertritt, und ich glaube auch nicht, dass das möglich wäre. Mir geht es darum, dass immer mehr die Urteilsfähigkeit an sich gefunden werden kann – dass man immer wieder neu überhaupt aufmerksam wird auf die Kraft der Wahrheit, die „dasjenige sein [wird], was die höchsten Impulse für die Menschheitsentwicklung abgeben wird...“ Unmittelbar vor Deinem Zitat aus GA 127 sagt Rudolf Steiner:

„Wenn wir innerhalb unserer Bewegung Pfleger jenes Lichtes sein wollen, das in die Menschheitsevolution einströmen soll, so müssen wir Wächter werden gegenüber alledem, was an Irrtümern sich gleichzeitig mit diesem Licht einschleichen kann.“


Und hinzufügen möchte ich noch zwei andere Zitate:

„Viele Leute sagen: Ja, in bezug auf das Aussprechen von Meinungen muß im weitesten Sinne Freiheit herrschen. – Gewiß, jeder mag seine Meinung haben; niemand kann mehr auf diesem Standpunkte stehen als ich. Es ist einfach selbstverständlich, daß jeder seine Meinung haben soll und sie auch frei aussprechen soll. Aber niemand sollte, ohne daß er auch in maßgebender Weise das Echo davon hört, eine Unwahrheit sagen dürfen in der Welt. [...] Wir haben sehr viele gute Freunde, aber der Enthusiasmus, für die Wahrheit in der Weise einzutreten, daß man wirklich auch die Unwahrheit in der richtigen Weise behandelt, der ist eben [...] noch nicht sehr groß geworden. Und mehr als man meint, hängen doch die Schwierigkeiten alle mit diesen Dingen zusammen.“ (22.4.1923, GA 306, S. 196).

Die Grundbedingung des esoterischen Lebens ist Wahrhaftigkeit, Fleiß und Ausdauer. Deshalb müssen wir wahr sein in jedem Augenblick unseres Lebens. Und dazu gehört auch, daß wir nicht die Wahrheit unterdrücken, indem wir nichts dagegen sagen wollen, wenn eine Persönlichkeit einen Irrtum begeht, nur weil es gerade diese Persönlichkeit ist. Zu etwas, was wir als Irrtum erkennen können, erkennen müssen, dürfen wir nicht schweigen.
(20.9.1912, GA 266b, S. 427, Gedächtnisnotiz einer Esoterischen Stunde).

Viele weitere Zitate zur Frage von Wahrheit und Urteilsfähigkeit finden sich hier.

Man kann die Frage von Toleranz und Wahrheitsliebe nicht gegeneinander ausspielen, man wird zu keiner „Lösung“ kommen. Mir geht es nicht um die Bekämpfung irgendeiner anderen Meinung und schon gar nicht irgendeines anderen Menschen – das will ich nicht. Mir geht es aber um das Erhellen von Irrtümern und Hindernissen auf dem Wege eines vollen, immer tiefer erlebten Verständnisses des Wesens der Anthroposophie. „Mit großen Weisheitsgaben, welche in die menschliche Evolution einfließen sollen, ist notwendigerweise verbunden, daß das menschliche Herz in solchen Zeiten sehr leicht dem Irrtum ausgesetzt sein kann.“ sagt Rudolf Steiner in GA 127 noch etwas weiter vorne. Und heute schwindet immer mehr die Kraft, wirklich klare, starke Gedanken zu bilden:

„Allerdings steht dieser Verstärkung und Verschärfung der Sehnsucht nach dem spirituellen Leben das andere gegenüber: jene furchtbare Beirrung, unter welcher der weitaus größte Teil der Menschheit leidet, [...] die, man möchte sagen, Bequemlichkeit gegenüber jedem starken, jedem scharfen Gedanken [...]. Und weil die Menschheit so wenig sich an das Gedankenleben halten will, findet sie so wenig den Weg in spirituelle Welten hinein.“ (GA 183).


Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, der auf dem Pfad des reinen Denkens, der Kraft des Denkens selbst, die erst durch Übung und Verstärkung ihr wahres Geheimnis offenbart, bis zur Erkenntnis des Tiefsten und Höchsten und Kleinsten führen kann. Und diese Erkenntnis ist dann unmittelbares Leben, dieser Weg ist reine Verwandlungskraft, Zukunftskraft.

Um die Erkenntnis dieses Weges geht es, um die Frage: Was ist Anthroposophie? Das ist die wichtigste Frage – das Wichtigste ist die Frage...

Nachtrag

Barbara ergänzte Ihren Hinweis:

Lieber Holger, mir kam es bei dem zweiten Zitat weniger auf das Urteil an, sondern auf Tatsache, dass sich nach Steiner durch die Ausbildung des "richtigen" Urteils Taktgefühl und Milde sich in der Seele des Urteilenden ausbilden, nicht Härte oder Schärfe. Aber bei vielen Menschen ist die Milde eine Tugend, die sie erst im Senioren-Alter erreichen können, wenn sie Abstand zu Tagesgeschäften entwickeln und diese nicht mehr so dringlich sind.


Liebe Barbara, es kommt immer auf den Zusammenhang an. Rudolf Steiner war sicher die Milde selbst, wie man aus unzähligen Berichten von Menschen, die ihn erlebt haben, auch immer wieder nacherleben kann. Und dennoch wissen wir, dass er vielem auch scharf entgegen getreten ist, wenn er die Notwendigkeit sah – und dass er diese Notwendigkeit selbst auch mehrfach ansprach. Darauf kam es mir bei den Zitaten, die ich dann anfügte, an. – Und damals ging es überhaupt nicht um jene Entstellungen, die heute stattfinden. Damals ging es um Schlendrian, um die immer wieder einreißende Bequemlichkeit, um falsche Toleranz, um „kurulische Stühle“, um Schwere und fehlende Begeisterung. Wenn man sich vorstellen sollte, dass damals Gronbach oder Judith von Halle unter dem Namen der Anthroposophie aufgetreten wären ... es ist einfach nicht vorstellbar, es wäre eine Unmöglichkeit gewesen.