27.01.2010

Abstrakte Fragen – und immer wieder eine Antwort

Unter dem Titel „Auswertung Stigmatisierung“ sind im „Goetheanum“ vom 15.1.2010 in einem kurzen Beitrag einige Fragen formuliert, die sich für die Redaktion aus den Zuschriften nach der Debatte vom Frühjahr 2009 „herauskristallisiert“ haben („beim Aufmerksamsein für das, was sich durch sie und durch das Thema mitteilen möchte“).


Inhalt
Die Fragestellungen der „Goetheanum“-Redaktion
Die Frage nach „Hülle“, „Wesenskern“ und „Erlebensmöglichkeiten“
Wirklichkeit gewordene Antworten
Was lässt sich hellsichtig wahrnehmen...? | ...und was nicht?
Wann entsteht Autorität?
Wann kann man von Wahrheit sprechen?
Vom Verhältnis zum gegenwärtigen Christus

Die Fragestellungen der „Goetheanum“-Redaktion

Die einzelnen Fragestellungen lauteten:

- Das Verhältnis eines Geistig­-Seelischen zum Leib, zum Körper: Welche Aufgaben haben Hülle und Wesenskern? Welche Erle­bens‑ und Erkenntnismöglich­keiten bieten sich dadurch für den Menschen und andere (wo­möglich nichtinkarnierte) We­senheiten? Welchem Wandel un­terliegen dieses Verhältnis und die Erlebens‑ und Erkenntnis­möglichkeiten?

- Die Funktion hellsichtiger Wahrnehmungen: Was lässt sich hellsichtig wahrnehmen, was nicht? Wie erkennen Nichthell­sichtige den Gehalt einer mitge­teilten geistigen Wirklichkeit, welche Bedeutung haben diese Mitteilungen für nichthellsichti­ge Menschen? Wann entsteht Autorität, wann Authentizität in der Mitteilung?

- Das Wesen von Wahrheit: Wann kann man von Wahrheit sprechen? Wie verändert sich Wahrheit im Sinne von: ‚Wahr­heit gibt es nicht, sie bildet sich‘?

- Auf Grundlage dieser drei Ebenen: Wie kommen wir zu einem angemessenen Verständnis des und Verhältnis zum Christus? Welche Bedeutung hat es, vom geschichtlichen Umfeld des Mysteriums von Golgatha (bis in Details) zu berichten? Wann ist das Sprechen über des Chris­tus' Gegenwärtigkeit angemes­sen?

- Von was ist die soziale Wirkung des Sprechens über Stigmatisati­on, des Mysteriums von Golgatha sowie weiterer Mitteilungen aus den geistigen Welten Ausdruck? Vom Inhalt? Vom Mitteilenden? Von der Reife des aufnehmenden Kreises?

Die Frage nach „Hülle“, „Wesenskern“ und „Erlebensmöglichkeiten“

Welche Aufgaben haben Hülle und Wesenskern? Welche Erlebens- und Erkenntnismöglichkeiten bieten sich dadurch für den Menschen?

Dem empfindenden Menschen sagt schon die Überschrift alles: „Auswertung Stigmatisation“... Wie weit will man sich denn dem Schlagzeilen-Stil der „Presse“ noch anpassen? Aber die Frage erübrigt sich, denn die Anpassung hat eigentlich schon das Maximum erreicht. Sachlich, informativ, geistlos – in genau dieser Weise sind dann auch die Fragen gestellt: völlig abstrakt.

Man kann unmittelbar empfinden, wie der Intellekt versucht, Fragen zu ordnen und zu „verstehen“, in deren Wirklichkeit er nie vordringen kann (siehe ausführlich dazu: „Zur Erkenntnis des „anthroposophischen“ Intellekts“). Die Art, wie er diese Fragen formuliert, wie er sich diesen Inhalten nähert, kann bereits als eine Art Vergewaltigung der dahinterstehenden Wirklichkeiten empfunden werden. Ich möchte das an drei Beispielen versuchen zu beschreiben:

„Welche Aufgaben haben Hülle und Wesenskern? – Der Intellekt hat diese Worte zur Verfügung, „Hülle“ und „Wesenskern“. Aber weiß er überhaupt, was mit Wesenskern gemeint ist? Er weiß es natürlich nicht, aber er setzt die Begriffe, als ob er es wüsste. Als ob es klar wäre, was „der Wesenkern“ ist und man sich nur noch über seine „Aufgaben“ einigen müsse, um auch diese vollkommen klar zu kriegen. Der Intellekt verfügt über die Wirklichkeiten – verhält sich zumindest so, obwohl er nur mit Worten jongliert.

Darin liegt die erste Vergewaltigung: In dem Hochmut des Intellekts schon den Worten gegenüber, die er in ihrem Begriffsgehalt, in ihrer hinter ihnen stehenden Wirklichkeit überhaupt nicht erfassen kann. Der ganze Mensch ahnt manches, was dann sein Denken, sein Gefühl und seinen Willen anrührt – aber der Intellekt weist dies von sich, er will ohne Gefühl und Wille existieren, allein gelten, allein „wissen“ und „verstehen“. Er will rein sachlich wesentliche Fragen stellen – aber sobald er sie ausspricht, sind sie schon nicht mehr wesentlich...

Warum nur hat man diese furchtbare Angst davor, seine ganze Seele in die Sprache hineinzulegen? Warum ent-kernt man die Sprache und macht sie zur wesenlosen Hülle?

Die zweite Vergewaltigung des Intellekts liegt darin, dass sein Wort-Gebrauch (d.h. Missbrauch) konkret sinn-entstellend wirkt. „Welche Aufgaben hat der Wesenskern?“ Er hat keine Aufgaben! Das Wesen jedes individuellen Menschen ist einzigartig. Es ist ein von außen nicht betretbares Heiligtum. Wie kann man dann von Aufgaben sprechen? Jeder „Wesenskern“ kann das, was wir in der ungenügenden Alltagssprache als Aufgabe, Ziel, Bestimmung oder noch anders bezeichnen, nur selbst beantworten, offenbaren, verwirklichen, zum Leuchten bringen. – Das ist ein völlig anderer, ein heiliger Begriff im Vergleich zu jenem Aufgaben-Begriff, der auf etwas Helfendes, Unterstützendes hinweist, um ein Ziel zu erfüllen, eine Bestimmung zu erreichen, eine Entwicklung zu ermöglichen usw. – Die Frage „Welche Aufgaben haben...“ zeigt also im Kleinen bereits den ganzen Hochmut des Intellekts.

Man kann es empfinden, wie wenn in einem Tempel unmittelbar vor einem Gottesdienst ein ignoranter, dicker Herr sich breitbeinig in die Bank fallen lässt und laut in die Runde fragt: „Na, was steht denn hier an?“ – Oder weniger auf die Spitze getrieben: Wenn er eine kluge Brille trägt, sich gesittet setzt und fragt: „Wie kommen wir dem Christus denn nun näher?“

Dies ist schon das zweite Beispiel, die Frage: „Wie kommen wir zu einem angemessenen Verständnis des und Verhältnis zum Christus?“ Der ganze Mensch mag diese Frage auch haben, aber der Intellekt kann sie nur intellektuell stellen. Man nehme allein nur einmal die Worte! Um wirklich empfinden zu können, wie furchtbar sie sind, wende man sie auf einen Menschen an: „Wie kommen wir zu einem angemessenen Verständnis des und Verhältnis zum Redakteur?“ Die Worte und ihre Grammatik sind so abstrakt, dass jede echte Beziehung schon durch sie völlig unmöglich wird!

Aber davon einmal ganz abgesehen: Als ob diese Frage in Bezug auf den Christus durch das Denken beantwortbar wäre! Sie ist es nicht! Es sei denn, das Denken würde seine nackte, graue, alles verstehen-wollende und durch einiges Hin-und-Her-Intellektualisieren (und bei Steiner recherchieren) auch alles verstehen-zu-können-meinende, tote Wesensart überwinden können. Mit anderen Worten: Es sei denn, das Denken würde sich mit Kraft erfüllen, würde das Fühlen und das Wollen ganz in sich aufnehmen können und dann als auferstandenes, ganz anderes, lebendiges Denken die Antwort suchen.

Heute beantwortet sich der Intellekt die Fragen selber, indem er die Antwort herbei-intellektualisiert. Sie „steht“ z.B. bei Steiner, der Intellekt sieht sie ein, nimmt sie an und ist stolz darauf, sich die Frage beantwortet zu haben. Ein auferstandenes Denken würde nicht zur Antwort kommen – es würde sich in tiefer Kraft und Demut zur Antwort zu erheben suchen, indem es sich in die Frage vertieft. Es würde nicht zur Antwort kommen, die Antwort würde zu ihm kommen, es würde in ein lebendiges Erleben der Realität hineinkommen, die die Antwort ist. – Der Intellekt findet die „Antwort“, ohne den Christus zu finden. Das auferstandene Denken findet den Christus selbst als Antwort. Es findet das reale Verhältnis zum Christus.

„Welche Erlebens- und Erkenntnismöglichkeiten bieten sich dadurch für den Menschen?“ – auch das ist wieder eine furchtbar intellektuelle, abstrakte Frage. Natürlich bieten sich alle Möglichkeiten, die möglich sind! Angefangen vom Alltagserleben, in dem der Mensch scheinbar nur das Materiell-Sinnliche erlebt und scheinbar selbst nur ein sinnlich-leibliches Wesen ist (dieses Erleben wird dann durch die Genuss- und Freizeitindustrie als Selbstzweck intensiviert, gesteigert, verabsolutiert). Was nicht gewöhnliches Sinneserlebnis ist, geht ins Übersinnliche über, jedoch immer noch unter Beteiligung des Leibes – seien es Halluzinationen, Visionen, Träume, mystische Erlebnisse, „Hellwahrnehmung“ (Sehen, Hören, Riechen usw. über große Entfernungen) etc. – Dann gibt es das Erleben der Seele in den Gedanken, den Gefühlen, den Willensimpulsen, die auch wiederum von Sinnes- und Leibeswirkungen bestimmt sein können und auch in sich selbst mehr oder weniger unverwandelt sein können.

Und schließlich öffnet sich die Welt des Geistes – dort, wo man in das Wesenhafte hineinkommt, wo alles Leibliche, auch in seinen allerletzten Wirkungen, völlig zurückbleibt... Natürlich wirkt das Geistige überall, selbst in der härtesten und totesten Materie – aber die Wirklichkeit des Geistes wird man erst erkennen, wenn man durch das Tor geschritten ist, hinter dem all dies zurückbleiben muss.

Aus diesem Grund ist das reine Denken, auf das Rudolf Steiner immer wieder hinwies, das Nadelöhr zur geistigen Welt. Und deswegen sind alle Wege, die nicht zur reinen Geistes-Erkenntnis führen, von Irrtümern und Täuschungen gesäumt. Ein Visionär oder ein Mystiker hat Erlebnisse, aber er kennt ihre Ursache nicht durch und durch. Es geht um die „Gedankenklarheit“, um das erkennende Licht des Denkens – und zwar nicht erst im Moment der Vision oder Erleuchtung (deren Quelle man nicht wirklich kennt), sondern im Verlauf des ganzen Weges dorthin, eines Weges, der durch die Kraft des Erkennens selbst erst gebahnt und gebaut wird.

Es geht nicht um eine Katalogisierung der „Erlebens- und Erkenntnismöglichkeiten“ des Menschen, sondern es geht um ein Sich-Erheben in die geistige Welt auf dem Wege der Wahrheit – auf einem alle Täuschungen und Irrtumsmöglichkeiten überwindenden Wege. Es geht um ein Erkennen dieses Weges, um ein Erkennen des Wesens des Erkennens selbst. Es geht um ein Verwirklichen der Kategorie des Erkennens, wie Mieke Mosmuller schreibt – und der Weg dorthin führt über das Wesen des Denkens. Das Denken muss sich verwesentlichen, muss auferstehen...

Wirklichkeit gewordene Antworten

Die „Aufgabe der Hüllen“ auf dem Erkenntnisweg der Anthroposophie wird in wunderbarer Klarheit von Mieke Mosmuller beschrieben, deren neues Buch „Arabeske“ im „Goetheanum“ leider noch immer nicht besprochen wurde. Gerade in diesem Buch beschreibt sie die wahre Frucht der anthroposophischen Meditation auf vielen Seiten sehr, sehr deutlich und detailliert. Ich zitiere einige kurze Abschnitte (S. 155ff):

„Der anthroposophische meditative Weg ist ein Erkenntnisweg, auf dem man sich das Gewohnheits-Verhältnis zwischen den Wesensgliedern physischer Leib, ätherischer Leib, astralischer Leib und Ich abgewöhnt, Schritt für Schritt.
Der erste Schritt war ein Abgewöhnen des Verhältnisses zwischen Ich und physischem Leib, zwischen Begriff und Sinnen. [...]
Der zweite Schritt bringt den astralischen Leib mit dem ätherischen zusammen, da die Seele, die Weisheit, mit der ätherischen, der kosmischen Weisheit eins werden soll – sie muss ihre Kraft, ihre Liebe in das Licht hineinstrahlen [...] Dann muss es zu einer Vermählung kommen. Die Seele muss ihre eigene Tätigkeit ‚vergessen‘ und sich ganz den von außen herankommenden Strahlen hingeben, und der Ätherleib muss zum Spiegel werden. [...]
Die Sonne in der Schale empfängt nun die kosmischen Weisheitsstrahlen von außen. Sie fühlt sie wie mit Gnaden-Strahlen in sich hineinströmen. Trotzdem bleibt sie geistig blind, sie empfindet, fühlt ... kann aber nicht sehen.

Um sehen zu können, muss sie die am tiefsten eingewurzelte Gewohnheit überwinden. Sie muss es zustande bringen, die innere Blickrichtung umzukehren. Denn sehen kann die Sonne sich selbst nicht, auch nicht die in sie eintretenden kosmischen Wirkungen. [...] Es ist aber ein Wesen da, das sie blind hält, weil sie am gewohnten Physischen haftet. Sie möchte eine geistige Welt auf die gleiche Weise schauen, wie sie die physische sehen kann.
Sie muss sich umkehren, sie muss die geistige Welt in sich hereinstülpen und vollkommen andersherum schauen. [...] Das Physisch-Ätherische, das sie ‚hinter sich‘ hatte, wird für sie zum Spiegel. Es reflektiert, was sie selbst ist und was von außen in sie hineinstrahlt.
Dann erst wird die Seele ganz vom Körper frei, und was eins war, wird zwei, wird drei – und wieder gegliedert eins. Der Leib wird Umkreis, der Gedankenumkreis wird Zentrum. Im Umkreis wird die geistige Welt reflektiert geschaut. Dies ist eine vollständige Vereinigung von Ich und Welt, von All und Eins. Sie ist nichtdual, aber sehr, sehr wohlgeformt (wenn auch in einer anderen Weise, als wir auf Erden gewohnt sind), gestaltet, gegliedert. [...]
Der Einweihungsprozess ist nicht nur ein Erkenntnisprozess, er ist ein Geschehen, an dem der ganze Mensch teilhat, nicht nur sein Kopf; und an dem auch das ganze menschliche Leben teilhat, nicht nur die Stunden der Übung.“

Was lässt sich hellsichtig wahrnehmen...?

Was bedeutet überhaupt hellsichtig? Alles, was über die normale Sinneswahrnehmung hinausgeht? – Es kann alles wahrgenommen werden, was überhaupt wahrnehmbar ist. Auch Halluzinationen, Täuschungen, Wunschvorstellungen usw. sind ja Wahrnehmungen. Entscheidend ist, nach welcher Qualität der Wahrnehmung man strebt. Soll die Wahrnehmung frei sein von allen undurchschauten Einflüssen der eigenen Leiblichkeit? Soll sie frei sein von allen eigenen Wünschen? Und wie kann man dies erkennen?

Auch hier stellt sich also wieder die entscheidende Frage, wie man das Wesen und die Art der Wahrnehmung überhaupt erkennen kann. Sind es „Naturgeister“, die ich wahrnehme, oder spiegelt mir meine eigene Leiblichkeit oder wunschhafte Phantasie etwas vor? Deute ich das, was sie mir „mitteilen“, richtig, oder spielen auch hier wieder mein Begriffs(un)vermögen, meine eigene Gedankenwelt, meine Wunschwelt usw. mit? Und wenn ich die „Mitteilungen“ nehme: Woher weiß ich, dass sie wahr sind, woher weiß ich, dass die „Naturgeister“ mich nicht belügen möchten (oder im Auftrag höherer Wesenheiten belügen sollen)? – Oder: Was sind das für Visionen, die ich habe? Welche Rolle spielt hier mein Leib, meine Seele, täuschende Wesenheiten? Deute ich sie richtig? Was sollen sie mir geben?

Solange man die Quelle übersinnlicher Wahrnehmungen nicht kennt, kann man sie nicht beurteilen. Das Organ der felsenfesten, sicheren Urteilskraft kann sich nur aus einem Quell bilden, der durch und durch durchschaut ist – und der durch eine Stärkung seiner selbst selber zu diesem höheren Wahrnehmungsorgan wird. Dieser Quell ist das Denken. Zuerst muss es wahrhaft sich selbst verstehen – das kann es nur, wenn es so stark geworden ist, dass es sich selbst zu ergreifen und zu beleuchten, zu erkennen vermag, also sein wahres Wesen erkennt. Das ist keine abstrakte Erkenntnis, auch kein irgendwie „lebendiges“ Denk- und Ich-Erlebnis, sondern ein Erlebnis größter Kraft-Wirksamkeit, die sich immer noch weiter steigern kann. So erfasst das Denken immer mehr sein eigenes Wesen...

Um dann die geistige Welt außer sich wahrzunehmen, muss es noch kräftiger werden – und dann gleichsam trotz größter Aktivität ganz zum Schweigen kommen, warten... Dann wird schließlich der Moment kommen, wo die geistige Welt herankommen kann, es berühren wird, sich offenbaren wird.

Und dieses Denken, das zur reinsten und stärksten Kraft geworden ist, die zugleich völlig schweigen kann, dieses Denken ist dann ein reines Organ für die geistige Welt – es kann seine Wahrnehmungen „beurteilen“, weil es die Geister scheiden kann. Es weiß durch und durch, wie es zu der Wahrnehmung kommt, und es erlebt durch und durch die Wesenhaftigkeit und die Art dieser Wesenhaftigkeit. Es ist in sich so stark geworden, dass es Täuschungsmöglichkeiten, Wirkungen, Kräfte, Motive in sich und außerhalb von sich klar erleben und erkennen kann.

...und was nicht?

Die materiell-sinnliche Wahrnehmung, die wir heute haben, „verdanken“ wir dem Sünden-Fall in die Materie. Deswegen wird mit dem Auferstehungsleib diese irdisch-sinnliche Wahrnehmung nicht „vertieft“ (Riechen von Creme-Bestandteilen, Hören über Kilometer hinweg, siehe Judith von Halle), sondern überwunden. Die Vergeistigung der Leiblichkeit bis ins Physische erhebt wieder über die Materie. So wie der auferstandene Christus einen physischen Geistleib ohne Materie-Bestandteile hatte, so wird auch die auferstandene Wahrnehmung keine Materie mehr sehen, sondern (nur noch) die geistige Wirklichkeit. Und so wie wir uns in der Meditation zum Geistigen erheben und die Sinneswahrnehmung ganz und gar verschwindet, so wird erst recht da, wo sogar die Leiblichkeit im Geiste aufersteht, die Sinnes-Wahrnehmung vollkommen verschwinden und einer reinen, kraftvollen übersinnlichen Wahrnehmung weichen. Wir werden im physischen Auferstehungsleib nicht nur das „Geistig-Geistige“ erleben können, sondern sogar das Geistige der physischen Welt – aber ohne Materie, auch nicht in Form einer Zeitreise...

Wann entsteht Autorität?

Dann, wenn man etwas nicht aus eigener Kraft einsehen kann, sondern glauben muss. Wenn man etwas nicht selbst mitdenken und durchdenken kann und sich dieses Mitgedachte im Lichte des eigenen Denkens aus eigener Kraft gegenseitig stützen kann – sondern durch reine Behauptungen auf etwas anderes stützen muss. Dieses Andere liegt dann im „Vertrauen-müssen“, im Status des Sprechers, in äußeren „Beweisen“ oder Zeichen seiner „Glaubwürdigkeit“. Wenn man also in freier Weise die Wahrheit von etwas prüfen will, muss man von all diesen äußeren „Beweisen“ oder bloßen Behauptungen absehen.

Wann kann man von Wahrheit sprechen?

Wahrheit ist die Übereinstimmung einer Erkenntnis mit der wahren Wirklichkeit. Der Satz „Wahrheit gibt es nicht, sie bildet sich“ ist zunächst völlig sinnlos, weil auch er wieder ein großes Abstraktum des Intellekts ist und unmittelbar in die verschiedensten Irrtümer hineinführen kann. Natürlich gibt es Wahrheit – aber sie muss zunächst erkannt werden. Die Wirklichkeit ist in jedem Moment, wie sie ist – als erkannte Wirklichkeit wird sie zur Wahrheit für den Erkennenden. Insofern bildet sie sich. Man könnte auch umgekehrt sagen: In jedem Moment ist die Wahrheit, wie sie ist. Im Moment des Erkennens wird sie für den Erkennenden zur Wirklichkeit.

Und dies ist zugleich eine neue Wirklichkeit, denn im Moment des Erkennens entsteht ein Wesen, das vorher nicht da war: der erkennende Mensch. Die Wahrheit des Menschen liegt im Erkennen der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit des Menschen liegt im Erkennen der Wahrheit. Insofern bildet sich die Wirklichkeit des Menschen in dem Augenblick, in dem er das Wesen der Erkenntnis verwirklicht...

Im gewöhnlichen Alltagsbewusstsein hat jeder Mensch seine eigene Wahrheit – was nichts anderes heißt als: seine subjektive Sichtweise und seinen subjektiven Weltenstandpunkt. Die Wirklichkeit ist aber viel vielfältiger und „objektiver“. Die volle Wirklichkeit – und damit die Wahrheit – findet der Mensch erst, wenn er weiß, was alles die Subjektivität seines Standpunktes ausmacht, und wenn er diese Subjektivität überwinden kann. „Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbst und zur Außenwelt, so heiße ich's Wahrheit.“ (Goethe).

„Liebe macht sehend“, sagen die weisen Geister im Gegensatz zum Volksmund. Und so geht es nicht immer darum, seine „Vorlieben“ zu überwinden, sondern vielmehr darum, alles, was noch nicht dazu gehört, ebenfalls so tief wie die Liebe werden zu lassen. Ein noch sehr irdisches Beispiel wäre eine „Lieblingsfarbe“. Vielleicht offenbart sich mir das Wesen des Rot viel tiefer als die anderen Farben. Wenn ich dies aber weiß, dann werde ich nicht sagen: „Rot ist die eigentlich göttliche Farbe“, sondern: „Am Rot kann ich am ehesten lernen, was Farbe eigentlich ist – und dann werde ich auch das Wesen der anderen Farben immer mehr kennenlernen können“.

Es geht also nicht darum, im Erkennen die Persönlichkeit zu verlieren – dann würden das Erkennen und die Wahrheit immer „farblos“ bleiben. Sondern es geht darum, die Schwächen, das Dunkle der Persönlichkeit zu überwinden und zu veredeln, damit die Persönlichkeit so hell und licht wird wie das Geistige, was sie erkennen kann, wenn sie sich ihm ähnlich macht. Und indem sie sich mit all ihren Farben veredelt, strahlen diese um so heller und können auch die Wahrheit immer tiefer erkennen. Gleiches erkennt Gleiches – je farbenfroher und heller die Persönlichkeit strahlt, desto mehr Aspekte wird sie auch von der Wirklichkeit erkennen können. Und indem sie sich auf diese Weise dem geistigen Wesenskern ähnlich macht, kann dieser all das, was sie ihm an neuen Keimen entgegenträgt, zwischen Tod und neuer Geburt in sich aufnehmen...

Der Mensch nimmt auf diesem Wege immer mehr die Wahrheit in sich auf, er wird ein Zeuge der Wahrheit, mehr und mehr offenbart er von dem Licht der Welt...

Vom Verhältnis zum gegenwärtigen Christus

Wie kommen wir zu einem angemessenen Verständnis des und Verhältnis zum Christus?

Diese Frage ist, wie oben schon beschrieben, furchtbar abstrakt. Wenn wir uns mit wirklichem Verständnis dem Wesen von Wahrheit nähern, wenn wir auf diese Weise unser Denken lebendig machen; wenn wir dieses Denken stärken, uns bemühen, wirklich ringend zu erkunden, was das Wesen von Erkenntnis ist; warum wir etwas als wahr erleben; wenn wir immer mehr im Denken verweilen können und dieses nicht abstrakter und abstrakter wird, sondern realer und realer, lebendiger, stärker, empfindungsvoller, ganz und gar Wille – dann, ja dann kommen wir nicht nur zu einem „angemessenen Verständnis des Christus“, sondern dann sind wir schon mitten auf dem Weg zu Ihm.  

Der Christus ist das umfassende Logos-Wesen, das die Welt geschaffen hat, das als Mensch gewordener Gott zu Menschen sprach: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Und der Mensch ist das Geschöpf, das diese Welt und sich selbst in seinem wahren Wesen erkennen kann, das sich zur Wahrheit erheben kann und auf diesem Wege das wahrhafte Leben im Geiste finden kann. Der Mensch lebt immer schon in der Wirklichkeit des Auferstandenen, aber er kann sich zu Seiner Wirklichkeit auch erkennend erheben. Wenn der Mensch in einem wahrhaft zu Realität gewordenen Denken aufersteht, dann beginnt eine neue Schöpfung – und er findet den Christus in seiner Wirklichkeit.

Es geht nicht um einen Rückblick auf das historische Mysterium von Golgatha, ein Sich-Vertiefen und Sich-Verlieren in die geschichtlichen Details, sondern es geht um ein Sich-Erheben zu der gegenwärtigen Realität des Christus im Ätherischen. Der Christus offenbart sich heute nicht in Visionen, die einen auf eine Zeitreise zu den sinnlichen Details der Zeitenwende mitreißen, sondern er offenbart sich in gnadenvollster Gegenwärtigkeit dem Ich, das in seiner Auferstehungskraft zu seinem eigenen wahren Wesen erwacht.