Auszug aus "Himmlische Rose"

Mieke Mosmuller: Himmlische Rose. Occident, 2010 (300 S., 22,50€). | Buchbesprechung | > Bestellen 


‚Es ist schwer in unserer heutigen Zeit, zu werden, wer man ist, Beato. Das gilt für jeden, aber für uns hier sehr stark. Wir wollen etwas in die Erde hineintragen, was viele Hemmnisse und Hindernisse aufruft. Das weißt du auch. Du fühlst deine eigentliche Individualität, du fühlst, was diese könnte – und gekonnt hat –, und du kannst es nicht. Die Macht der Nüchternheit, der Verflachung, der Entgöttlichung spielt auch uns einen Streich. Und doch ... wir müssen da hindurch, Beato. Wir müssen Wege finden, durch diesen Widerstand, der zwischen den Geist und die Materie gelegt ist, trotzdem den Durchgang zu finden – zu beiden Seiten. Von Materie zu Geist, von Geist zu Materie. Dafür braucht man höhere Wesen, vor allem jenes Wesen, das in der christlichen Lehre der Erzengel Michael genannt wird. Mit ihm kann man seine Inkarnation verstärken – und die Spiritualisierung seines Denkens erreichen. Sogar Menschen, die, wie wir, in einem früheren Leben eingeweiht waren, haben – auch wenn es eine sogenannte ‚neue’ Einweihung war – mit dieser alle Geisteskraft lähmenden Macht zu tun, die nicht der Teufel ist, sondern Satan, Ahriman. Nun, das weißt du natürlich alles. Ich sage es nicht, um dich etwas zu lehren, sondern um etwas mit dir zu teilen.’

(S. 275f)

O Mensch, erkenne Dich selbst! Seine ganze Rede wurde von diesem Aufruf getragen.

Es war nicht die gewöhnliche Selbsterkenntnis, zu der er aufrief. Eigentlich bräuchte man ein ganz anderes Wort. Das Wort ‚Erkennen’ ist dabei im biblischen Sinne gemeint, es bedeutet: Befruchte Dich selbst – Du selbst.

Wie vor Jahren während des Hörens von Johannes’ Vorträgen – zum ersten Mal – mein Denken in Bewegung kam, zu weben begann, so wurde auch dieser Aufruf zur Selbstbefruchtung im selben Moment Realität. Ich ‚sah’, dass gerade dies das Rätselhafte von Philippe war: Seine Selbstbefruchtung hatte dazu geführt, dass die geistige Welt ihn befruchtete, in einem sich fortwährend erneuernden Prozess. Es ließ mich an das Bild der Jakobsleiter denken, auf der Engel auf und nieder steigen. Philippe trug seine eigene Persönlichkeit auf dieser empor, und ihm entgegen kamen die geistigen Wesen, die wirklich in ihn eindrangen, wodurch er so ganz und gar sie wurde, dass sie sprachen, wenn er sprach. Mit meinem Vermögen, diese Geschehnisse zu sehen, nahm ich wahr, wie hoch Philippe ‚klettern’ konnte und wie tief die Befruchtung in ihm wirkte. Aber zugleich wollte meine Seele dies gleichsam nachahmen, wollte auch so sein, sich auch so verhalten. Wie ein kleines Kind ging ich in der Seele, im Geiste, mit ihm mit. Er stand da, sprach wohlüberlegt, als ob er einen gewöhnlichen Vortrag hielt, aber unterdessen führte er wohlbewusst und auch selbstbewusst diesen wunderbaren Erkenntnisprozess aus, den ich soeben beschrieb. In Philippe gab es keine Trennung zwischen Ich und Welt, zwischen Ideal und Wirklichkeit. Denn seine Ideale waren die realen Gedanken hoher geistiger Wesen, deren Wirklichkeit viele Male stärker ist als die unsrige. Ich bewegte mich also mit ihm mit und verstand, warum er gesagt hatte, dass auch ich nicht weiter ging als bis zum Einsetzen meiner Talente. Indem er tat, was er tat, erlebte ich plötzlich machtvoll, was ich nicht tat. Zwar hatte ich in dem entwickelten reinen Willenswesen vielleicht einen Anfang gemacht. Aber das konnte sehr leicht ein Anfang bleiben, wenn ich nicht zu dieser Selbstbefruchtung kommen würde, die eine Befruchtung mit dem Selbst ist und die man selbst vollbringen muss. Das ist der Kern unserer Freiheit: diese Befruchtung zu vollbringen – oder nicht. Alles, was wir sonst vollbringen, ist Frucht unserer Qualitäten, Talente, Geschichte. Diese Frucht muss ‚erkannt’ werden, und so wird sie erneuert – und erst ‚Eigentum’ der Person...

(S. 280f)

Es verband sich etwas mit mir, das sich gleichsam ganz nach meiner Freiheit richtete. Wenn ich wach genug war, um es zu ‚rufen’, war es da; dachte ich nicht daran, dann war es nicht da. Es war das Licht, das alles, was sich innerlich zeigte, auferstehen ließ. Eine vollkommen selbstbewusste Erleuchtung.

Schon seit Jahren fühlte ich mich erleuchtet, ich konnte Augenblicke haben, in denen der Zusammenhang der Dinge in mir aufblitzte, in denen der Geist hinter den Sinnen in seiner vollen Glorie erschien. Das hatte ich schließlich schon als kleiner Junge gehabt, ich hatte es in der Embryologie, dem Bau des physischen Leibes, in einer anderen Form erlebt. Durch die Bekanntschaft mit Johannes war ich durch systematische Übung immer weiter in den Geist der Dinge vorgedrungen, war immer mehr mit dem Wesen meiner Persönlichkeit in Berührung gekommen – in Zusammenhang mit diesem eigentlichen Wesen gekommen, das sich nun in so völliger Freiheit mit mir vereinigte. Wenn ich in der Überlastung des täglichen Daseins aufging, hatte ich nur diese spontanen Erleuchtungen, von denen ich geglaubt hatte, dass damit ein Teil der Einweihung erreicht würde. Aber dann erwachte ich daraus, immer wieder trat das Bewusstsein ein: Es ist noch eine höhere Erleuchtung möglich, diese muss man selbst wollen. Selbstinitiation, von Moment zu Moment. Eigentlich lebt man überhaupt nicht, wenn man dieses Selbstbewusstsein nicht bewirkt – durch Selbstbefruchtung.

Alles, was man hier in den Bergen wahrnimmt, sind trotz allem noch immer inhaltlich materielle Vorstellungen. Manchmal bekommt man die Gnade, und es leuchtet der Geist darin auf. Aber es gibt noch eine andere Gnade, das ist die Gnade der Erleuchtung aus freiem Willen. Diese kann man in jedem Moment empfangen, sie ist immer da, wartet auf die eigene Freiheit. Diese grandiose Natur hier um einen herum, sie aufersteht im Geiste erst, wenn man seine Vorstellungen davon – die nicht mehr materiell sind, denn sie sind immaterielles Bild – mit seinem Geist, mit dem Zuschauer befruchtet. Nicht jenem Zuschauer, der nicht teilnimmt, den man durch östliche Einweihungen bezieht. Nein, es ist der aktive Zuschauer, ein geistiges Licht, das in alle Vorstellungen, Gefühle, Impulse hineingehen kann. Ein läuterndes Feuer ist es, wodurch jeder materielle Rest verbrannt wird – übrig bleibt das auferstandene geistige Erleben. Eine Aneinanderreihung sich stets weiter vertiefender Bilder und Bedeutungen wird das Leben. Tagsüber ist es ein Altar, in der Meditation ist es das Allerheiligste. Das Allerheiligste wird tagsüber immer mehr empfangen.

In der Winterkälte schaue ich tagsüber zum tiefblauen Himmel empor ... ich verbinde mich mit dem Blau und erfahre, dass es, je mehr ich es erreichen will, um so mehr von mir weicht. Das gewöhnliche, mit den Augen wahrgenommene Blau ist von einer tiefen Pracht, Ehrfurcht erweckend. Nehme ich diese Wahrnehmung noch einmal wahr, dann berühre ich die geistige Bedeutung des blauen Himmels – aber ich kann sie nur berühren, sie lässt sich nicht beibehalten...

Bis jetzt war ich ein Fremdling in dieser Welt, fühlte mich wie ein Fremder in den Raum versetzt, der nicht der meine ist, erlebte mich als ein Fremder in diesem rätselhaften Strom der Zeit, dem die Pflanzen gehorchen, auch wenn sie keine Uhr und keinen Kalender haben.

Seit den Heiligen Nächten war ich auf Erden heimgekommen, weil ich mein ewiges Wesen in Freiheit, bewusst, in diesen Raum, in diesen Zeitenstrom versetzen konnte, wodurch auch diese zwei Entitäten ihre geistige Essenz empfingen. Bewusst trug ich ‚sehend’ das Ewige in das Vergängliche hinein, aber damit wurde das Vergängliche in das Licht der Ewigkeit gebracht, es auferstand darin. Das war das Rätsel, das ich um Philippe wahrgenommen hatte, es war auf eine andere Weise die ‚Höhe’ von Johannes. Sie beide hatten jenes Vermögen zur Selbstbefruchtung weit entwickelt. 

(S. 285ff)