Die drei Grundübel der gegenwärtigen Menschheitskultur

Rudolf Steiner: Die drei Grundübel der gegenwärtigen Menschheitskultur. Vortrag vom 17.8.1918 in Dornach, GA 183, S. 9ff. | Hervorhebungen und Zwischenüberschriften ergänzt.


Inhalt
Von angeblicher Menschenliebe und realer Gedankenfaulheit
Von Kompromisslosigkeit und Menschlichkeit
Der bloße Inhalt von Gedanken besagt gar nichts
Borniertheit, Philistrosität und Ungeschicklichkeit
Von Luzifer zu Ahriman
Wenn zwei dasselbe sagen, ist es nicht dasselbe!
Von Phrasen und echten Zukunftsimpulsen 


Von angeblicher Menschenliebe und realer Gedankenfaulheit

Daß es mir die tiefste Befriedigung gewährt, die Arbeit in Ihrer Mitte an diesem unserem Bau und um unseren Bau herum hier wiederum aufnehmen zu können, das werden Sie mir wohl ohne weiteres glauben. Es ist ja tatsächlich so, daß heute nicht nur bei tieferem Nachdenken, sondern, man darf sagen, schon bei oberflächlicherem Nachdenken demjenigen, der der ganzen Aura dieses Baues nahegetreten ist, der Gedanke aufgehen könnte, daß mit diesem Bau doch etwas verknüpft ist, was mit den bedeutungsvollsten, schwerwiegendsten Aufgaben der Menschenzukunft zusammenhängt. [...]

Es gibt schon innerhalb gerade der diesem Bau gewidmeten Arbeit etwas, was Vorbild sein könnte für dasjenige, was im allgemeinen mit dem, was sich unter uns heute Anthroposophische Gesellschaft nennt, eigentlich gewollt ist.

Aber ich habe auf der andern Seite vielfach wiederum das Gefühl, daß das Günstige, das bedeutungsvoll Gute, das man hier im Zusammenwirken von Menschenarbeit und Menschengefühl mit diesem Bau finden kann, gerade darinnen besteht, daß dieser Bau etwas ist, was gewissermaßen in seiner Objektivität das, was durch unsere Bewegung gewollt wird, loslöst von den subjektiven Interessen der einzelnen Menschen.

Über dieses jetzt eben Berührte waren ja – und sind – in allen ähnlichen Gesellschaften, auch in der Anthroposophischen Gesellschaft, gewisse merkwürdige Anschauungen vorhanden, die eigentlich nichts anderes sind als merkwürdige Illusionen. Man predigt viel von Selbstlosigkeit, von allgemeiner Menschenliebe; aber das sind oftmals bloße Masken für gewisse, nur raffinierte egoistische Interessen der einzelnen Menschen. Gewiß, die einzelnen Menschen wissen nicht, daß es sich für sie um bloße egoistische Interessen handelt, sie sind vor ihrem eigenen Bewußtsein gewissermaßen unschuldig; aber es ist doch so. [...]

Es ist ja in den Seelen der heutigen Menschen ungemein vieles ungeklärt. Wenn man wiederum da und dort sich hat unterrichten können über die Bedürfnisse, die obwalten nach unserer geistigen Bewegung, so kann man auf der einen Seite sagen: Ja, es sind doch die Seelen derjenigen, die da dürsten nach jenem spirituellen Leben, das wir meinen, der Zahl nach in starker Zunahme begriffen. Die Sehnsucht nach solchem spirituellem Leben, sie hat sich, das darf wohl gesagt werden, ungeheuer vergrößert. [...] Allerdings steht dieser Verstärkung und Verschärfung der Sehnsucht nach dem spirituellen Leben das andere gegenüber: jene furchtbare Beirrung, unter welcher der weitaus größte Teil der Menschheit leidet, jene furchtbare Beirrung, welche durch die altüberkommenen Ideen, oder man könnte besser sagen, durch die altüberkommene Ideenlosigkeit innerhalb der Menschheit bewirkt wird, die, man möchte sagen, Bequemlichkeit gegenüber jedem starken, jedem scharfen Gedanken, jene Bequemlichkeit, die einfach herrührt aus der Laxheit, aus der Trägheit, mit der das Gedankenleben seit vielen Jahrzehnten über die Erde hin geführt worden ist. Diese Laxheit, diese Trägheit beirrt die Seelen in dem vorhandenen Sehnen nach dem spirituellen Leben. [...]

Von Kompromisslosigkeit und Menschlichkeit

Ich sage das alles sicher nicht deshalb, weil ich irgendwie anstreben würde, wenn die Dinge in die Öffentlichkeit treten, wie man sagt, eine „gute Presse“ zu bekommen; denn ich würde in dem Augenblicke, wo eine „gute Presse“ auftritt, glauben: Da muß selbstverständlich irgend etwas nicht richtig sein, da muß irgend etwas Falsches auf unserer Seite geschehen sein.

Alle diese Dinge sind ja geeignet, in uns das Bewußtsein hervorzurufen, daß wir gar sehr nötig haben, mit aller Entschiedenheit auf dem Boden unserer Sache zu stehen. Denn nichts könnte uns in schlimmere Verwirrung hineinführen, als wenn wir irgendwelche Kompromisse schließen wollten mit dem, wovon die Außenwelt meint, daß es das Richtige wäre für uns. Nur in den Prinzipien unserer Sache selbst müssen wir dasjenige finden, was uns die Richtung für unser Tun angibt. [...]

Die meisten von Ihnen wissen schon, daß ich selbstverständlich überall da, wo es nicht auf etwas Prinzipielles ankommt, sondern wo es darauf ankommt, menschlich zu sein, das Menschliche in den Vordergrund zu stellen, in jeder Weise mit allen Menschen mitgehe – aber wo es an die Grenze kommt, daß auch nur im geringsten irgend etwas Prinzipielles verleugnet werden müßte, da würde ich mich nicht als biegsam erweisen. [...]

Wir müssen uns manchmal auch erinnern, insbesondere wenn wir uns wieder begrüßen, an das aus dem Willen folgende, notwendige, geradlinige Sich-Bewegen nach Maßgabe unserer spirituellen Impulse. Diese spirituellen Impulse werden ja gegen manches zu kämpfen haben. Man kann heute nicht mehr bloß sagen Vorurteil, denn die Dinge wirken zu stark, als daß man sie mit dem schwachen Wort Vorurteil belegen könnte; diese Impulse, die werden gegen mancherlei zu kämpfen haben. Immer wieder und wiederum muß ja hingewiesen werden auf die große Krankheit unserer Zeit, welche in der Zügellosigkeit gegenüber dem Gedankenleben besteht. Denn das Gedankenleben ist schon ein spirituelles Leben, wenn man es richtig erfaßt. Und weil die Menschheit so wenig sich an das Gedankenleben halten will, findet sie so wenig den Weg in spirituelle Welten hinein.

Der bloße Inhalt von Gedanken besagt gar nichts

Und ich muß schon von der verschiedensten Seite immer wieder und wieder eines berühren: Man hält heute furchtbar viel von dem bloßen Inhalt der Gedanken. Aber der Inhalt der Gedanken ist an den Gedanken das am allerwenigsten Wichtige. [...]

So wenig wie ein Weizenkorn gedeihen kann, wenn es in einen steinigen Boden oder gar in den Felsen hineingesenkt wird, so bedeuten [z.B.] all die sogenannten schönen Ideen, die in den Programmen Woodrow Wilsons vorkommen, nichts, wenn sie aus diesem Kopfe kommen. Allein dies ist etwas, was der gegenwärtigen Menschheit so unendlich schwer wird einzusehen, weil die gegenwärtige Menschheit eben der Anschauung ist: Man hält sich an den Inhalt von Programmen, an den Inhalt von Ideen. Aber der Inhalt von Programmen, der Inhalt von Ideen, der hat ebensowenig eine Bedeutung, als die Keimkraft eines Weizenkorns eine Bedeutung hat, bevor dieses Weizenkorn in einen gerade für es fruchtbaren Weizenboden gesenkt wird.

Real denken, das ist dasjenige, was der Menschheit so ungeheuer not tut. Und mit dem Unrealdenken der Gegenwart hängt etwas anderes zusammen, hängt zusammen, daß die Menschheit fast von allen Ereignissen überrascht wird. Man kann schon die Frage aufwerfen: Von was ist denn die Menschheit nicht überrascht worden in den letzten Jahren? – Von allem ist sie überrascht worden, und sie wird weiter noch viel mehr überrascht werden, als sie überrascht ist. Aber die Menschheit läßt sich ja nicht irgendwie auf dasjenige ein, was wirksam ist in der Welt. Daher ist es auch heute unmöglich, für irgendeine Sache die Menschheit zu irgendeiner Voraussicht zu bringen.

Wenn man mit bloßen Ideen arbeitet, dann kann man von allen Seiten alles durch alles begründen. Wenn man mit dem bloßen Inhalt von Ideen arbeitet, kann man wirklich alles mit allem begründen. Auch das ist etwas, was im Grunde genommen immer mehr und mehr und immer tiefer und tiefer eingesehen werden muß, was aber nicht eingesehen werden will. [...]

Borniertheit, Philistrosität und Ungeschicklichkeit

Es ist ja schon einmal die Aufgabe jener geistigen Impulse, denen unsere anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft gewidmet ist, gegen drei Grundübel in der gegenwärtigen sogenannten Menschheitskultur anzukämpfen. Sie kann gar nicht anders, als gegen diese drei Grundübel anzukämpfen. Das eine Grundübel zeigt sich auf dem Gebiete des Denkens, das andere auf dem Gebiete des Fühlens, und das dritte auf dem Gebiete des Wollens.

Auf dem Gebiete des Denkens ist es allmählich dazu gekommen, daß die Menschen nur so denken können, wie dasjenige Denken verläuft, das eng an das physische Gehirn gebunden ist. Aber dieses Denken, das eng an das physische Gehirn gebunden ist, das sich nicht erheben will in freiem Aufschwung zum Spirituellen, das ist unter allen Umständen dazu verurteilt, borniert zu werden, beschränkt zu werden. Und das bedeutungsvollste Kennzeichen, namentlich des gegenwärtigen wissenschaftlichen Denkens, ist die Borniertheit, ist die Beschränktheit. [...]

Auf dem Gebiete des Fühlens handelt es sich darum, daß die Menschheit allmählich zu einer gewissen Philistrosität gekommen ist – man kann das nicht anders nennen –, Engherzigkeit, Philistrosität, Eingeschränktheit auf gewisse engumgrenzte Kreise. Das ist ja das hauptsächlichste Kennzeichen des Philisters, daß er sich nicht für große Weltenzusammenhänge interessieren kann. [...]

Und auf dem Gebiete des Wollens, da ist es dasjenige, was so ganz besonders in der neueren Zeit im weitesten Sinne die Menschheit ergriffen hat und was ich doch nicht anders benennen kann denn als Ungeschicklichkeit. Durch das Eingeschränktsein desjenigen, was man lernt auf einem engen Kreis, kann der heutige Mensch in der Regel viel auf einem engen Kreise, und er ist ziemlich ungeschickt in bezug auf alles, was außerhalb dieses Kreises liegt. Man kann heute Männer kennenlernen, die sich keinen Hosenknopf annähen können! Ungeschicklichkeit außerhalb eines engsten Kreises, das ist dasjenige, was auf dem Gebiete des Willens insbesondere verbreitet ist.

Wer nun nicht mit den bloßen abstrakten Gedanken, sondern mit der ganzen Seele bei dem ist, was man hier Geisteswissenschaft nennt, der wird sehen, daß diese Geisteswissenschaft in die Geschicklichkeit der Hände hineingeht, daß sie den Menschen geschickter macht, daß sie ihn geeignet macht, wirklich wiederum sein Interesse auf weitere Kreise, sein Wollen über eine weitere Welt auszudehnen. Natürlich ist gerade mit Bezug auf die Ungeschicklichkeit Geisteswissenschaft noch zu schwach, aber je stärker wir sie aufnehmen, desto mehr wird sie eine Bekämpferin sein der Ungeschicklichkeit. [...]

Also das ist es, was beim heutigen Aufnehmen der Geisteswissenschaft, ich möchte sagen, als eine Trinität ihr gegenübersteht: Borniertheit auf intellektuellem Gebiete, Philistrosität, das heißt Engherzigkeit auf dem Fühlensgebiete, Ungeschicklichkeit auf dem Willensgebiete. Und die drei liebt man heute, wenn man auch sich dessen nicht voll bewußt ist. Nichts wird heute mehr geliebt in der ganzen Welt als Ungeschicklichkeit, Philistrosität und Borniertheit. Und indem man diese drei liebt, wird man nicht leicht vordringen können zu den großen Aspekten, zu denen die Menschheit vordringen muß: zu den Aspekten, die sich an die Benennungen Ahriman und Luzifer anknüpfen. Und gerade hier ist etwas Wichtiges zu begreifen in unserer Zeit, denn in unserer Zeit ist unter mannigfaltigen andern Dingen auch ein sehr wichtiger Übergang vom Luziferischen zum Ahrimanischen. [...] Die Menschheit ist nämlich in bezug auf gewisse Dinge in einem Übergang von luziferischen zu ahrimanischen Untugenden, von luziferischen Kontraimpulsen in bezug auf die Entwickelung der Menschheit zu ahrimanischen Kontraimpulsen.

Von Luzifer zu Ahriman

Durchaus luziferisch geartet waren gewisse Impulse, die man in der früheren Zeit im Erziehungswesen geltend machte. Man rechnete im Erziehungswesen – wir alle, als wir jung waren, mit Ausnahme der Jüngsten unter uns, wissen ja das sehr genau – mit dem Ehrgeiz, mit der Eitelkeit. [...]

In der Gegenwart strebt man danach, an die Stelle dieser luziferischen Impulse ahrimanische zu setzen. Sie hüllen sich heute in das niedliche Wort „Begabtenprüfungen“. Das will auf ahrimanischem Gebiete, was das Pochen auf den Ehrgeiz und die Eitelkeit schon bei dem Kinde auf luziferischem Gebiete war. Man strebt heute danach, die Begabtesten herauszufinden, diejenigen, die schon ohnedies in den Klassen am meisten können; aus denen sollen wiederum einzelne herausgezogen werden. [...]

Das eine ist sicher: Wenn diejenigen Menschen, die diese Methoden erfinden, nachdenken würden, wer die Großen sind, die sie verehren, so Helmholtz, Newton und so weiter, so müßten sie sagen, die wären bei diesen Begabtenprüfungen alle, durch die Bank, als die unbegabtesten Kerlchen angesehen worden! [...]

Was will man denn da prüfen? Den bloßen äußeren Organismus, lediglich dasjenige, was als physisches Werkzeug des Menschen in Betracht kommt, das rein Ahrimanische der Menschennatur! Werden jemals die Früchte dieser Begabtenprüfungen in der Menschheit irgend etwas bedeuten, dann werden noch greulichere Gedankengebilde heraufkommen, als diejenigen sind, die zu der gegenwärtigen Menschheitskatastrophe geführt haben. Allein, wenn man heute den Menschen spricht von dem, was vielleicht erst in hundert Jahren zu katastrophalen Ereignissen führen kann, so interessiert das ja die Menschen nicht. Aber wir leben jetzt in diesem Übergang von luziferischem Erziehungssystem zum ahrimanischen Erziehungssystem, und wir müssen zu denen gehören, die solche Sachen ins Auge zu fassen verstehen.

Wenn zwei dasselbe sagen, ist es nicht dasselbe!

Dasjenige, was wirksame Kraft für die Zukunft ist, müssen die Menschen umsetzen in Kräfte der Gegenwart. Denn das ist es, was heute von uns gefordert wird: Gefordert wird echtes, wahres, unbefangenes Sich-Gegenüberstellen dem, was konkrete, unmittelbare Wirklichkeit ist. Darinnen kann man ja sehr sonderbare Erfahrungen machen. Ich weiß nicht, ob ich hier eine Erfahrung schon erwähnt habe, die ganz interessant ist. Es gibt Schriften von Woodrow Wilson, eine Schrift über die Freiheit, eine andere Schrift heißt „Nur Literatur“, die viel bewundert worden sind, auch heute noch von vielen sehr bewundert werden. [...] Als ich diese Schriften las, machte ich eine interessante Erfahrung. In diesen Schriften finden sich einzelne Sätze, die mir ungemein bekannt schienen, und die doch ganz gewiß nicht von irgend etwas abgeschrieben waren; sie schienen mir aber doch außerordentlich bekannt. Und ich kam sehr bald darauf, daß diese Sätze, die da bei Woodrow Wilson stehen, ebensogut bei Herman Grimm stehen könnten, ja, daß mancher dieser Sätze sogar wörtlich bei Herman Grimm steht. Herman Grimm liebe ich; Woodrow Wilson, das wissen Sie ja wohl, liebe ich nicht gerade. Aber ich kann deshalb doch nicht die objektive Tatsache verschweigen, daß in bezug auf den Inhalt der Sätze man Sätze von Herman Grimm in Vorträgen, Aufsätzen einfach herübernehmen und hineinstellen könnte in Wilsons Aufsätze, und umgekehrt Sätze von Wilson in Werke von Herman Grimm herübernehmen könnte. Da sagen zwei dem einfachen, gewöhnlichen Wortlaute nach eines und dasselbe. Aber in der Gegenwart muß man lernen: Wenn zwei dasselbe sagen, ist es nicht dasselbe! Denn es liegt die interessante Tatsache vor: Herman Grimms Sätze sind persönlich erkämpft, sind errungen, Schritt für Schritt von der Seele errungen. Woodrow Wilsons ganz gleichlautende Sätze rühren von einer eigentümlichen Besessenheit her. Von einem unterbewußten Ich ist der Mann besessen, das diese Sätze herauftreibt in das bewußte Leben.

Wer solche Dinge beurteilen kann, der kommt darauf, daß es sich hier darum handelt: Weizenkorn ist Weizenkorn; aber es ist ein Unterschied, ob das Weizenkorn in diesen Boden oder in jenen Boden gesenkt wird. Es ist ein Unterschied, ob jemand eine Idee so sehr als die seinige hat, daß er sie Stück für Stück auf seinem eigenen, persönlichsten Wege erkämpft hat, oder ob jemand diese Idee dadurch hat, daß ein Unterbewußtes ihn von sich, von diesem Unterbewußten, besessen gemacht hat: da tönt alles aus einem besessenen Unterbewußten heraus, aus einem Bewußtsein, das vom Unterbewußten besessen ist. Also es kommt heute schon darauf an, zu verstehen: Auf den Inhalt der Gedanken, auf den Inhalt von Programmen kommt es nicht an, sondern auf das lebendige Leben kommt es an, das die Menschheit lebt.

Man kann materialistische Philosophie lehren, man kann bloße Gedankenphilosophie lehren, man kann bloße materialistische Naturwissenschaft lehren, man kann mit bloß materialistischer Naturwissenschaft ein ausgezeichneter europäischer Gelehrter sein, eine Zierde der Universität sein und daneben ein braver Staatsbürger: es ist ja der Typus nicht so selten, nicht wahr? Sie sind ja überall zu finden, die Zierden und Leuchten der Wissenschaft, die zu gleicher Zeit ganz tadellose, brave Staatsbürger sind! Das kann man ja ganz gut sein. Aber nehmen Sie irgendeine bestimmt geartete Idee, etwa den Kampf ums Dasein, um eine triviale Idee zu nennen, oder [...] noch mehr: Nehmen Sie das, was materialistische naturwissenschaftliche Ideen sind, nehmen Sie diese Ideen –, gewiß, sie können wachsen im Gehirn von braven Staatsbürgern; schön, aber Weizenkorn ist Weizenkorn, doch es ist ein Unterschied, ob ein Weizenkorn in weizenfruchtbarem Boden wächst oder in felsigem Boden, und es ist ein Unterschied, ob dieselbe naturwissenschaftliche Idee, die in Europa als eine Zierde der Naturwissenschaft errungen werden kann und an den Universitäten gilt, in den Gehirnen der Universitätslehrer wächst, oder ob sie wächst in dem Gehirn eines Menschen [...] Lenin [...], und dann wird dieselbe Idee zur Triebkraft von alledem,was Sie jetzt im Osten Europas aufgehen sehen.

Von Phrasen und echten Zukunftsimpulsen

[...] Man muß den Willen haben, hineinzuschauen in diejenigen Untergründe des Daseins, wo die wirklichen Impulse des Geschehens liegen. Und man muß den Mut haben, abzulehnen all das Phrasenzeug von Programmen und Ideen von Wissenschaftern, die da glauben, wenn sie dies oder jenes vertreten, so komme etwas darauf an. [...]

Das, meine lieben Freunde, ist gewissermaßen der Hintergrund, auf dem sich nun, ich möchte sagen, abhebt unser Bau. Und einzelne Menschen hier bei diesem Bau, sie arbeiten, denken an den Bau wahrhaftig recht abseits von den Ideen, die auf so vielen Territorien heute die Menschheit bewegen. Man kann sich gut denken, daß da draußen auf den andern Territorien viele Menschen sind, die da finden, daß hier Menschen leben, die sich absondern von dem, was heute die Welt bewegt und, wie die Menschen glauben, auch bewegen sollte. Man könnte sich das denken, daß die Leute vorwurfsvoll an diesen Ort hinsehen. Diejenigen, die mit ganzem Herzen und ganzer Seele bei diesem Bau sind, brauchen sich aus diesem Vorwurf nichts zu machen. Denn, möge dieser Bau vielleicht gar nicht seine Aufgabe erfüllen, möge dieser Bau gar nicht sein Ziel erreichen: was an diesem Bau aber arbeitet und was von denen aus gearbeitet wird, die an diesem Bau mit Hingabe arbeiten, das ist dasjenige, was das Allerwichtigste ist in der Gegenwart, das ist dasjenige, was die gegenwärtige Menschheit herausführen muß aus alldem, in das sie hineingekommen ist. Und wenn die Menschen draußen etwa glauben: Hier arbeiten Leute abseits von den Aufgaben der gegenwärtigen Menschheit –, so muß man diesen Leuten sagen können: Hier wird gerade gearbeitet für das Allerwichtigste, für das Allerwesentlichste in der Gegenwart, das nur die andern nicht kennen, wovon die andern noch nichts wissen. Aber davon wird es gerade abhängen, daß die Menschheit werde etwas wissen wollen von dem, was hier geschieht.

Noch einmal sei es betont: Nicht darauf kommt es an, ob dieser Bau sein Ziel erreicht – obgleich es gut wäre, wenn er sein Ziel erreichen würde –, sondern darauf kommt es an, daß aus gewissen Ideen heraus an diesem Bau gearbeitet worden ist, daß sich Menschen gefunden haben für das Arbeiten an diesem Bau. Und nicht der Inhalt dieser Ideen, sondern die Art, wie diese Ideen leben, das ist dasjenige, was die Menschheitsimpulse für die Zukunft sind, während das, woran heute viele glauben, nichts anderes ist als die zum Grabe sich neigenden, in die Auflösung übergehenden, für die Auflösung auch reifen Ideen der Vorzeit. [...]