11.01.2011

„Die Moral kommt dann schon“? Selbsterziehung nach Bodo von Plato (1995)

Antwort auf: Bodo von Plato: Von der Selbsterziehung. In: Konturen, Band 6, Menon-Verlag, Heidelberg 1995.


Inhalt
Positivität – nicht immer positiv
Beginn mit einer falschen Alternative
Das Phasenmodell des werdenden Menschen
Wie ist es möglich?
Vom Wesen moralischer Selbsterziehung


Positivität – nicht immer positiv

Bei einem Blick auf Michael Eggerts Webseite stieß ich nun auf einen Aufsatz zur Selbsterziehung von Bodo von Plato, erschienen in „Konturen“, Band 6 (Menon-Verlag des Hardenberg-Institut von Karl-Martin Dietz in Heidelberg). Ich weiß nicht, warum Michael Eggert diesen Aufsatz erst vor drei Wochen besprochen hat, stammt er doch schon aus dem Jahr 1995. Wie auch immer – für mich macht auch dieser Text wieder klar, was das Problem der heutigen anthroposophischen Bewegung (und wahrscheinlich vor allem vieler führender Persönlichkeiten) ist: die ungeheure Gefangenschaft im Intellekt.

Nachdem ich mich in den letzten beiden Tagen auf dem Eggert-Blog ganz und gar in eine ausführliche Diskussion begeben habe, wird man zumindest dort vielleicht meine Motive ein wenig besser verstehen, wenn ich mich auch mit diesem Aufsatz wiederum auseinandersetze. Michael Eggert fand den Text positiv, ich finde ihn erschreckend. Die folgenden Ausführungen sind nicht gegen den Menschen Bodo von Plato gerichtet. Aber als Dornacher Vorstand hätte er die allergrößte Verantwortung, eine wahrhaft lebendige Anthroposophie zu vertreten – statt das Lebendige gerade zu töten und unter ungeheuren Gesteinsmassen des Intellektes zu begraben. 

Wenn man mit seinem Text wirklich etwas anfangen kann, dann sitzt man selbst noch durch und durch im Intellekt. Statt sich als Leser jetzt durch solche Bemerkungen eventuell angegriffen zu fühlen, praktiziere man doch einmal Selbsterziehung im Sinne einer ehrlichen Selbstbeobachtung und stelle sich die ernste Frage (und beantworte sie ehrlich): Gibt mir der Text wirklich irgendetwas in den tieferen Schichten meiner Seele? – Ich kann es mir nicht vorstellen. Die Seele hat ja Mühe, den Sinn des Textes aus den intellektuellen Klauen zu befreien! Nicht der Text schenkt der Seele etwas, sondern die Seele muss eine Rettungsaktion vollziehen, damit der eigentliche Sinn überhaupt wieder aufscheinen kann! Wer das in der eigenen Seele nicht beobachten kann, der betreibt keine seelische Beobachtung – oder er hat seine Seele so sehr mit dem Frontalhirn verbunden, dass es ihm einfach nicht mehr auffallen kann.

Ich weiß, dass diese Sätze hart klingen, aber sie sollen auch aufrütteln. Es geht um Grundsätzliches. Wenn man aus einem zentralen Element der Anthroposophie – der Selbsterziehung – so einen Text macht, dann gibt man den Menschen Steine statt Brot. Eine ganze Wagenladung voller Wackersteine... Man stelle sich eine wirklich suchende Seele vor, einen Menschen, der die Anthroposophie sucht. Nun stößt eine solche suchende Seele auf einen solchen Text. Wie kann sie etwas anderes tun, als sich schaudernd abzuwenden!? In einem Kommentar auf dem Eggert-Blog wird die Frage gestellt: „Besteht eine Angst(Vorstellung), nicht akademisch genug zu sein?“ – Diese Frage trifft zentral das Problem. Es gibt keine akademische oder intellektuelle Anthroposophie – der Intellekt ist ihr Grab.

Und auch wenn Michael Eggert hundertmal sagt, er wolle sich seine „Dialogfähigkeit“ bewahren, kann ich es einfach nicht verstehen, dass er darauf nur handzahm erwidert: „Manchmal besteht offenbar wirklich die Neigung, sich kryptisch auszudrücken.“ (das verkennt eben völlig das Problem bzw. die schon eingetretene Katastrophe!) und von Plato sogar noch zugute hält, „dass er sich um eigene sprachliche Ausdrucksweise bemüht und diese nicht einfach nur bei Steiner entlehnt.“ Was für ein Verdienst! Ob Eggert das auch mir einmal zugute halten wird, dass ich eine eigene Sprache habe!? Welche Kriterien gibt es überhaupt noch für die Frage, ob ein Text der Anthroposophie auch nur ansatzweise gerecht wird? Anthroposophie ist kein Wissen, sie soll und kann nur Leben sein – bei von Plato wird daraus eine akademische Abhandlung über „die Phasen der Selbsterziehung und ihren Wert als systemimmanente Methode“ oder so etwas!

Man kann natürlich an allem immer das Positive entdecken – aber trotz Positivitätsübung muss das nicht immer anthroposophisch sein. In Erkenntnisfragen ist es dies nicht! Sonst entdeckt man sogar noch am Grab der Anthroposophie das Positive: Was für ein schöner akademisch glatt lackierter Sargdeckel! Welch fein verschnörkelte Verklausulierung hier am Griff...!

Beginn mit einer falschen Alternative

Bodo von Plato beginnt schon mit einer falschen Alternative. Nach bester „Wir-haben-ja-die-Philosophie-der-Freiheit“-Manier entfaltet er zunächst genüsslich (wenn man davon bei dem akademischen Stil überhaupt sprechen kann) die altmodische Verfehltheit einer moralischen Selbsterziehung nach vorgegebenen Vorstellungen „guter Eigenschaften“. Mit jedem Satz übertrifft er sich erneut, was die sachlich-herablassende Analyse des Verhaltens betrifft:

Diese moralische Selbsterziehung „verläuft weitgehend habituell und ist tief in der gesellschaftlichen Tradition verankert. ... Selbsterkenntnis dient in diesem Fall dazu, vorhandene Eigenschaften zu erkennen und sie nach guten und schlechten zu sortieren ... Ziel ist die Verwirklichung des übernommenen oder selbst entworfenen Idealbildes des Menschen. ... Sie unterwirft den individuellen Menschen allgemeinen, d.h. abstrakten Idealen mit der Tendenz, ihn auf seine Eigenschaftlichkeit zu reduzieren. ... Dieser Vorstellungscharakter und der daraus hervorgehende moralische Maßstab vermitteln einen gewissen Halt, Orientierung und immer gültige Bewertungsgrundlagen in einer als gegeben erlebten Wirklichkeit.“ ... und so weiter.


Die Selbsterziehung des werdenden Menschen dagegen setzt an den sechs Nebenübungen an, sie richtet sich auf ein Bewusstwerden und ein Verwandeln der Seelenkräfte Denken, Fühlen und Wollen. Soweit so gut, aber auch hier geht es mit der intellektuellen Analyse weiter:

„Kurz: An die Stelle eines zunächst aktiv-egozentrischen Selbsterlebens, das sich aus der Zuschauerperspektive der gewordenen Welt gegenüberstellt, tritt ein rezeptiv-individuelles Welterleben, in dem sich das eigene Selbst als Tätigkeits- und Gestaltungskraft entdeckt und bildet.“


Und dann beschreibt von Plato nochmals in allgemeiner Form sechs Stufen die einen „paradigmatischen Charakter“ haben und sich auf den Umgang z.B. mit einem innerlich beobachteten und zu verändernden Phänomen beziehen – und einen Zusammenhang mit der Konzentrations-, Initiativ, Gleichmuts-, Positivitäts-, Unbefangenheits- und Harmonisierungsübung erkennen lassen. Und schließlich kommt er zu Sätzen wie:

„In dem Phänomen – d.h. in mir selbst – kann nunmehr die Entwicklungsrichtung aufscheinen, in die ich – d.h. das Phänomen – mich im Einklang mit meinem eigenen Werden wandeln will und das Gewordene nach den ihm innewohnenden Kräften über sich hinaus zu führen vermag. [...] Auftauchen, Herannahenlassen, Umfassen, Ergebenheit, Einklang und Realisierung der Wandlung deuten auf mögliche Stufen eines Weges im Umgang mit einem Phänomen.“


Sind das nicht grandiose Höhepunkte eines tiefen anthroposophischen Erkenntnisstrebens!? Oh Schrecken. Wir denken noch einmal an die suchende Seele... Nein, es sind Tiefpunkte eines ganz oben im Vorderhirn ablaufenden intellektuellen Erkenntnis-Sterbens. Die Anthroposophie ist gestorben, sie wird begraben und zugenagelt. Und wahlweise vorher noch mit salbungsvollen Termini einbalsamiert...

Das Phasenmodell des werdenden Menschen

Es ist bereits absolut fragwürdig, wie Bodo von Plato einen wahrhaft künstlichen Gegensatz zwischen „moralischer Selbsterziehung“ und „Selbsterziehung des werdenden Menschen“ aufbaut.

Über den zweiten Weg der Nebenübungen schreibt er:

„Wird auch der ‚bessere Mensch’ durch diese Übungen gefördert, so geht es doch nicht in erster Linie um die Realisierung moralischer Normen [...] In dieser Gesinnung, die Selbsterkenntnis nicht mehr von Selbstverwandlung trennt, wird Moralität von einem allgemeinverbindlichen, vorstellungsgeprägten Maßstab zu innerer, individueller Erkenntnisaktivität. [...] Wenn auch diese Selbsterziehungsgesinnung zunächst nicht auf eine unmittelbare Behandlung vorhandener Schwächen oder seelischer Defizite abzielt, so kann sie dennoch zu einem bestimmten Umgang mit ihnen anregen.“


Und dann kommt er zu seinem Phasenmodell: Auftauchen des Phänomens, Beobachtung der Umstände; freie Hinwendung, bewusstes Sich-Aussetzen; Umgreifen mit dem Gefühl, das Phänomen lieben lernen; Akzeptanz und Ergebenheit, das Gegebene nicht anders wünschen; Einklang oder Identifikation mit dem Phänomen; Realisierung der Wandlung.

Es bleibt sehr schleierhaft, was dieses Phasenmodell soll. Von Plato hat es aus den Nebenübungen hergeleitet, auch wenn er nur von einem „Zusammenhang mit diesen“ spricht. Als Phasenmodell wird es aber durchaus unpassend! In der Übung der Positivität kann man wirklich von Liebe sprechen. Aber bei einer Eigenschaft, die man verwandeln möchte, von einem „lieben lernen“ zu sprechen, ist etwas fehl am Platze. Als ob es gar nicht die (unliebe) Eigenschaft meiner Seele wäre? Genau hier spricht die merkwürdige Distanz der „Anthroposophen“, die sich in so vielem äußert! Sie meinen, sie würden damit von sich loskommen, aber in Wirklichkeit werden sie nur distanziert-gefühllos, ohne es zu merken, sogar sich selbst gegenüber, während sie in anderer Weise keineswegs von sich loskommen! Eine Eigenschaft meiner Seele, die ich verwandeln möchte, kann ich allenfalls in ehrlichster Selbsterkenntnis anschauen. Lieben kann ich sie nicht, sondern lieben muss ich das, was nach meinem Willen an ihre Stelle treten soll.

„Ergebenheit“ ist dann genauso unsinnig. Natürlich muss ich das Gegebene anders wollen, sonst könnte ich es nicht verwandeln! Von Plato verkehrt den Begriff der Ergebung, der sich auf das von außen herankommende Schicksal bezieht (wie es auch das von ihm selbst angeführte Zitat Rudolf Steiners am Ende besagt), in ein völlig sinnentleertes Gegenteil. Diese ekelhafte Verdrehung der Begriffe muss einem doch in der innersten Seele wehtun!? Natürlich besteht Selbsterkenntnis gerade in der Erkenntnis, dass ich jetzt und hier bisher nicht anders bin, als ich es bin. Aber das ist eine triviale Voraussetzung jeder wirklichen Selbsterkenntnis und bezieht sich nicht auf das Phänomen! Man akzeptiert, dass es bisher so war, aber man will es jetzt anders.

Mit dem Begriff „Einklang oder Identifikation“ geht die unerträgliche Anwendung der aus den Nebenübungen abgezogenen Begriffe weiter. Wie bei einem Prokrustesbett werden die herbeigezwungenen Begriffe in das Phasenmodell hineingezwängt. (Wenn Michael Eggert so allergisch gegen Dogmatik ist, warum nicht hier!?). Was soll Einklang mit dem Phänomen bloß heißen? Nochmals: wahre Selbsterkenntnis besteht darin, zu erkennen, dass die Seele bestimmte Eigenschaften hat. Aber gerade darin besteht die Kraft der Wandlung ja: Zu erkennen, dass mein Geist und schon meine Seele nicht identisch mit bisherigen Eigenschaften dieser Seele ist. Es geht um das Gegenteil der Identifikation! Womit aber muss man in Einklang kommen? Mit dem Ideal! Man muss beginnen, das Ideal als real wirksame Kraft in der eigenen Seele zu erleben! Von diesen innerlichen Erfahrungen hat Bodo von Plato keine Ahnung. Hier aber beginnt die Philosophie der Freiheit (die Wirklichkeit der Freiheit) erst, eine Realität zu werden!

Bodo von Plato meint, sich von dem vorstellungs- und normenhaften Weg schablonenhafter „Tugenden“ befreit zu haben, aber er gibt dem Leser einen ganzen Sturzbach von Begriffen, Vorstellungen und intellektuellen Formulierungen; von Phasen, die auf pervertierten Begriffen beruhen und in einen gesetzmäßigen Ablauf münden, der aus nichts als (falschen) Vorstellungen besteht. Wo soll da innere geistige Freiheit zu finden sein? Wie gesagt, wenn man von vornherein weiß, was eigentlich gemeint ist, dann kann man dieses von all dem Gestein und den Verdrehungen befreien – aber dazu muss man den gesamten Text innerlich auslöschen und hätte gleich zur „Philosophie der Freiheit“ und den Nebenübungen greifen können... Mehr bietet von Plato nicht, er bietet weniger, einen schaurigen, vergifteten Leichnam.

Wie ist es möglich?

Man kommt immer wieder zu der Frage: Wie ist es möglich, dass „Anthroposophen“ so etwas schreiben? Die Antwort ist: Weil sie von der realen moralischen Selbsterziehung keine Ahnung haben! Weil sie diese offenbar nicht nur vernachlässigen, sondern – wie sich hier zeigt – offenbar nicht einmal wissen, wie diese geschehen müsste!

Ohne moralische Entwicklung bleibt das geisteswissenschaftliche „Wissen“ unentrinnbar abstrakt. Die abstrakte Anwendung geisteswissenschaftlichen Wissens aber ist selbst unmoralisch. Es führt in einen Prozess hinein, in dem man immer weniger merkt, was man eigentlich tut; immer leichter und geschmeidiger bewegt man sich mit dem Intellekt in den geisteswissenschaftlichen Inhalten, immer sorgloser überträgt man die Begriffe auf ganz falsche Zusammenhänge – und man merkt nicht, wie man auf diesem Wege immer unmoralischer wird.

Die Dornacher Herren reden so gerne von Schwellen und Schwellenübertritten. Wenn beim Übertreten der Schwelle die Prüfung nicht bestanden wird, so bleibt das nicht ohne Folgen. Jede Beschäftigung mit den Inhalten der Geisteswissenschaft ist aber ein Schwellenübertritt. Nimmt man diese Inhalte nicht ernst genug, führt dies zu einer „abstrakten Einweihung“, die mit einem schleichenden Verlust moralischer Substanz einhergeht.

Deswegen ist die moralische Selbsterziehung so wichtig, dass Rudolf Steiner es als „goldene Regel“ formulieren musste: „wenn du einen Schritt vorwärts zu machen versuchst in der Erkenntnis geheimer Wahrheiten, so mache zugleich drei vorwärts in der Vervollkommnung deines Charakters zum Guten.“

Von Plato schreibt über die von ihm behandelte „gute“ bzw. moderne Variante der Selbsterziehung:

„Eine andere Form der Selbsterziehung beruht weniger auf der Verinnerlichung und Umsetzung eines idealen Bildes als vielmehr auf der Entwicklung von Kräften. Ziel ist nicht in erster Linie ein vorgestellter idealer Mensch, sondern ein sich entfaltendes und verwandelndes Verhältnis zu sich selbst und zur Welt.“


Natürlich – es klingt alles ganz wunderbar:
Der werdende Mensch; Entwicklung von Kräften; Verwandlung; Mensch und Welt... Das sind die immer wiederkehrenden Favoriten-Begriffe der „Anthroposophen“. Aber was nützt das allgemeine Gerede ohne Inhalt? Wo ist bei von Plato nun die moralische Selbsterziehung? Sie ist nicht da. Sie sitzt irgendwo zwischen den Zeilen, wird vorausgesetzt, mit anderen Worten: (bloß) vorgestellt.

Die Nebenübungen kräftigen und harmonisieren die Seele, eine wesentliche Voraussetzung für die Meditation. Aber: Die moralische Selbsterziehung muss die Seele doch darüber hinaus noch betreiben – oder aber sie wird es bitter büßen, indem sie gar nicht merkt, wie sie nichts an Moral hinzuentwickelt und ihr auch noch das genommen wird, was sie hatte...

Und hier rächt sich auch, dass Bodo von Plato diesen falschen Gegensatz aufgebaut hat – zwischen der „moralischen Selbsterziehung“ (die er nur mit der „alten Methode“ in Verbindung bringt) und seiner ominösen „Selbsterziehung des werdenden Menschen“.

Auf seinem zweiten Weg gibt es nur die Nebenübungen. Die Möglichkeit einer moralischen Selbsterziehung wird an einem bereits vollkommen pervertierten Phasenmodell nur in allgemeiner Form „durchgespielt“. Es ist ganz deutlich, dass sich von Plato hier allenfalls in der Anwendung der esoterisch klingenden Termini auf ein vorgestelltes (!) „Praxisbeispiel“ gefällt; echte eigene Erfahrung kann hier gar nicht vorliegen – allein schon wegen der sinn-losen Unmöglichkeiten, aber auch sonst müsste die Sprache eine ganz andere sein, authentisch statt akademisch-intellektuell.

Vom Wesen moralischer Selbsterziehung

Das „Bild eines besseren Menschen“ ist für von Plato nur Vorstellung, von außen kommende Norm. Er spricht von einem „Katalog moralisch positiv gewerteter Qualitäten“. Dazu gehören: „positiv, interessiert, tolerant, aufmerksam, initiativ, eigenständig, fleißig, verantwortungsbewusst“ usw.

Die große Frage ist: Wie kommt bei von Plato „das Gute in die Welt“? Und die Antwort ist offenbar: von selbst. Die Seelenkräfte werden geübt, der „Aufmerksamkeit öffnet sich ein bisher unbekannter Raum“ – und da wird der Mensch anscheinend von selbst moralisch? Wie kommt von Plato nur dazu, die eigentliche moralische Selbsterziehung derart unter den Tisch fallen zu lassen?

Wenn ich meinen Willen kräftige (und das gilt auch für das Denken und Fühlen) heißt das noch in keinster Weise, dass ich ihm damit auch die Richtung zum Guten gebe! Das sind zwei ganz und gar getrennte Dinge – und wenn die moralische Selbsterziehung vernachlässigt wird, dann tritt sehr oft eine Entmoralisierung ein. Wenn dann noch die Geisteswissenschaft abstrakt gehandhabt wird, geschieht dieser schlimme Prozess sogar zwangsläufig, nach einem geistigen Gesetz.

Bodo von Plato erwähnt in seinem Phasenmodell natürlich zuletzt auch die Wandlung eines zu verändernden Seelen-Phänomens. Aber sie ist nun vollends ein rätselhaftes Geschehen. Unvermittelt schreibt er:

„Nicht mehr das Auftauchen des Phänomens steht nun im Mittelpunkt der Beobachtung, sondern die Realisierung der Wandlung. Sie vollzieht sich nicht willkürlich nach einem vorgefaßten Ziel, vielmehr entsteht sie ebenso sachgemäß wie unwillkürlich aus dem vollzogenen Erkenntnisvorgang; die aktive Beobachtung dieses inneren Vorgangs tritt dabei an die Stelle vorgestellter oder normativer Maßgaben.“


„Sachgemäß“ klingt natürlich gut, kann aber über die krassen Fragwürdigkeiten nicht hinwegtäuschen: Unwillkürlich!? Aktiv bin ich also nur als Beobachter eines von selbst ablaufenden Geschehens? Das rein zufällig sogar noch sachgemäß abläuft? Was ist bei einer Wandlung einer seelischen Eigenschaft sachgemäß? Und wie kann aus einem Erkenntnisvorgang auf einmal eine sachgemäße Wandlung hervorgehen? Und wieso bin ich auf einmal nur Beobachter? Fragen über Fragen, die nur eines zeigen: In Bezug auf eine seelische Eigenschaft, die verändert werden soll, sind das alles Worte ohne Inhalt.

Dieses Modell funktioniert nur, wenn ich die Varianten der Seeleneigenschaft schon zur Verfügung habe – wenn ich also nach Belieben zwischen den Polen „hin und her gehen“ kann und mich dann von dem Erfordernis der Situation leiten lasse. Wenn ich aber über beide Pole schon souverän verfüge, brauche ich nicht von Selbsterziehung und von zu verändernden Phänomenen zu reden! Wie von Zauberhand setzt von Plato plötzlich einen idealen Zustand voraus, was die Sache natürlich sehr einfach macht.

Im übrigen ist seine Welt der Selbsterziehung wie angedeutet schwarz-weiß. Entweder man unterwirft sich äußeren Normen, oder man arbeitet an und mit „Kräften“ (Nebenübungen):

„Es wird beispielsweise nicht die Realisierung des Ideals der Positivität eingefordert, sondern eine übende Tätigkeit empfohlen, die die denkend-fühlende Aktivität der Seele verstärkt und gliedert.“


In von Platos Schema geht es hier abstrakt um eine hygienische Gliederung der „denkend-fühlenden Aktivität“. Dass man diese Übung gar nicht erfolgreich durchführen kann, wenn nicht der Wille hineinschlägt und man auch mit seinem ganzen Willen diese Positivität verwirklicht, das erkennt er nicht. Ebensowenig erkennt er, dass man ein Ideal auch von sich selbst „fordern“ kann, weil man es, ganz im Sinne der Philosophie der Freiheit, zum höchsten – in keinster Weise von der Umwelt bestimmten – Motiv macht.

Es geht hier um moralische Intuitionen! Man kann ganz und gar das Ideal der Positivität in sich aufnehmen, das Ideal der Aufmerksamkeit, das Ideal der Initiative, des Fleißes und so weiter. Man kann sich mit der Substanz dieses Ideals erfüllen – das ist moralische Selbsterziehung, das ist „das Gewahrwerden der Idee in der Wirklichkeit“. Dann müssen die Früchte dieses Prozesses in den Alltag einströmen, das Gute muss getan werden... (Und es wird dann selbstverständlich niemals schematisch getan!).

Der starke Wille zum Guten ist nie von selbst da. Und das, was von Plato nur als abstrakte Tugenden darstellt, die als äußere Normen auftreten, auch wenn man sie sich selbst vorsetzt, das sind in Wirklichkeit die unzähligen unterschiedlichen Färbungen dieses Willens zum Guten. Nur wenn der Wille sich diese Färbungen in aktiver innerer Selbsterziehung aneignet, kann er auf ihnen spielen, wie der Musiker auf seinem Instrument.

Wer nicht übt, der kann sich all die schönen Klänge noch so sehr vorstellen – sie werden niemals in Wirklichkeit erklingen. Und die Nebenübungen geben nicht die moralische Selbsterziehung...

Abstrakte und falsch verwendete Begriffe, eine intellektuelle Sprache, kein Verständnis für das Wesen der moralischen Selbsterziehung – wohin steuern die führenden Anthroposophen?