23.03.2011

Der Gedankengang von Blankertz

Zusammenfassung von: Rüdiger Blankertz: Vom Lesen im anthroposophischen Buch. Für den Druck in „Anthroposophie“ IV/2010.


Rüdiger Blankertz sagt in seinem Aufsatz „Vom Lesen im anthroposophischen Buch“, wenn man die Kernaussagen zusammenfasst, Folgendes:

1. Ein anthroposophisches Buch wie die „Theosophie“ entzieht sich immer wieder dem Verstandenhaben.

2. Die Form (das Wie) eines anthroposophischen Buches ist der Gedankenleib Rudolf Steiners. Die anthroposophischen Wahrheiten sind nur in der exakten Form wahr, in der sie von Rudolf Steiner mitgeteilt werden.

3. Wir sollen uns sagen lernen: Ich kann das nicht fassen, was ich eigentlich lesend anstrebe. Wenn die Art unserer Denkbetätigung an dem anthroposophischen Buch Rudolf Steiners erst gesunden soll, wie kann man dann glauben, dass sie geeignet ist, Anthroposophie aufzufassen?

4. Rudolf Steiner ist der Auffassung, dass sein Denken nicht bloß der Ursprung der Gedanken ist, aus und in dem die Welt und der Mensch existiert. Sondern dass er in der Lage ist, dieses sein Denken durch denken als Denken zu lehren.

5. Wie das Auge sein Dasein dem Licht zu verdanken hat, so muss Anthroposophie selbst aus der unvollkommenen Lesefähigkeit des Menschen das Organ hervorrufen, das ihresgleichen werde. Das rechte Lesen bildet sich an dem anthroposophischen Buch für dasselbe.

6. Am Grabe des lebendigen Denkens, am Buch Rudolf Steiners, erwacht die Anthroposophie im Menschenherzen zu sich selbst. Sie wird den Leser des anthroposophischen Buches entdecken lassen, wie die tote Schrift Rudolf Steiners das Urbild des eigenen lebendigen Wesens in Freiheit vor ihn hinstellt.

7. Die Lesegewohnheit unserer Zeit spaltet das Ganze der Anthroposophie in Objekt und Subjekt, das anthroposophische Buch und den Leser. Solange dieser schläft, bleibt er passiv.

8. Die „objektive Fraktion“ ersehnt Leben der Anthroposophie in Form neuer anthroposophischer Objekte, denen aber die Substanz fehlt. Andere wollen das „subjektive“ Element stärken und verweisen auf eine zu schulende innere Tätigkeit, durch die die eigenen Gedanken lebendig werden können. Dazu brauche man eine Anleitung, die nicht das Buch Rudolf Steiners selber geben könne.

9. Doch Anthroposophie kann nicht durch eine Vereinigung zweier Mangelzustände erstehen. Wird der äußere Gegensatz aber im Innern erlebt, macht sich wesenhaft geltend, was beiden ermangelt. Wie dies geschieht, ist Inhalt der geisteswissenschaftlichen Darstellungen Rudolf Steiners. Aus ihnen erfährt man: In jenen beiden Hindernissen wirkt geheimnisvoll Anthroposophie selbst. Werden sie ins Bewusstsein gehoben, so erschließt sich dabei zugleich das Buch Rudolf Steiners.

10. Steiner: „Wenn Sie geisteswissenschaftliche Bücher lesen, so hat das gar keinen Wert, wenn Sie sie nicht innerlich nachkonstruieren. Dann ist es ein innerliches Mitproduzieren. ... Darauf kommt es an, ... dass man das Gleichgewicht findet zwischen den äußeren Eindrücken und der inneren Produktivität. ... Wenn wir den Ausgleich der inneren Kraft, die rastlos vorwärts will, und der äußeren Kraft zum Ausdruck bringen, so verschmelzen wir mit der äußeren Welt.“

11. Das Objekt, die ‹äußere Welt›, steht hier als ein gegebener Satz Rudolf Steiners vor uns. In uns spüren wir den Drang, ihn denkend zu begreifen. Wenn ich aber einen ohne mein Zutun gegebenen Gegenstand in mein Denken einspinne, so gehe ich über das Gegebene hinaus, und es wird sich darum handeln: was gibt mir ein Recht dazu? Warum lasse ich das Satzding nicht einfach auf mich einwirken? Auf welche Weise ist es möglich, dass mein Denken einen Bezug zu dem Satze hat? Das sind Fragen, die sich jeder stellen muss. (GA 4, 48). Passivität des Subjekts lässt im Lesen des Satzes einen ‹objektiven Inhalt an sich› erscheinen, der dem Subjekt fremd ist. Subjektiv überschießende Aktivität setzt an die Stelle des Objekts ein anderes, das dem Autor entfremdet ist.

12. Da ein Buch nie mehr ist, als wir aus ihm erlesen, ist es als solches Garant unserer Freiheit. Das anthroposophische Buch aber ist die Substanz unserer Freiheit. Nur ein Buch, das nichts anderes ist und sein will als der reine Spiegel unserer denkenden Eigenaktivität, kann in Freiheit gelesen werden. Dazu muss diese Aktivität vom Leser aufgebracht werden. Das Subjekt muss sich geltend machen. Damit seine Aktivität sich aber nicht in dem verliert, was man lesend hervorbringt, muss das Buch in allen seinen Sätzen so geformt sein, dass es das Hervorgebrachte wieder in den Akt des Hervorbringens zurückspiegelt, also dem Leser seine eigene Denkaktivität als seinen ur-eigenen geistigen Inhalt spiegelt.

13. Ohne ein aktives Denken (im Gegensatz zum gewöhnlichen Denken aus aufsteigenden Gedanken, auch wenn diese verstärkt und belebt werden) kann man nicht „anstoßen“, sondern „träumt“ nur von Verständnis. Das richtige Lesen des Buches besteht darin, dasjenige wirklich aktiv zu wollen, was in den Worten des Buches selbst liegt (nicht in dem, was einem dazu alles einfällt). Dann wird man bereits unmittelbar hellsichtig.

14. Dies bedeutet, dass vorher etwas dunkel war: das vermeintliche Verstandenhaben. Das sich auf die gewöhnliche Art einstellende Verständnis eines Satzes muss aktiv vernichtet werden. Eben dazu dient die bewusst schwierige Stilisierung Rudolf Steiners.

15. Da neuerdings so viel von „Meditation“ die Rede ist, eine Übung, die Rudolf Steiner empfiehlt: Aus einem  unbekannten Buch einen Satz entnehmen. Man soll erleben, wie man diesen Satz nicht verstehen kann. Die Bezüge der Hauptworte sind nicht bekannt. Es kommt eine andere Intelligenz (das reine Denken) ins Spiel, das Bewusstsein von den Verhältnissen der Dinge untereinander mit ihr selbst.

16. Diese sich in der Satzstruktur offenbarenden Verhältnisse sind Taten geistiger Wesenheiten. Die Grammatik des anthroposophischen Satzes ist der verdichtete Ätherleib Rudolf Steiners, in ihren reinen, lebendigen Formen offenbart er sich als „geistige Welt“.

17. „Wie man Bücher in unserem Zeitalter zu lesen pflegt, kann dieses nicht gelesen werden.“ Diesen Satz nachzukonstruieren, hieße doch zu zuerst einmal fragen: Warum steht er so da? Wie pflegt man denn das Lesen in unserem Zeitalter? Weiß ich das überhaupt? Wenn ich es nicht weiß, wie sollte ich denn dazu kommen, es ganz anders zu machen? So käme der Leser darauf: Wie man Bücher in unserem Zeitalter zu lesen pflegt, ist mir noch gar nicht klar. Offenbar aber gehört meine Art es zu tun, auch dazu. Nun erst wird mir klar, dass ich über die richtige Art des Lesens gar nicht verfüge.

18. An solche Einsicht wendet sich Rudolf Steiner. „Das erste Tor, an das sie sich bei Menschen wendet, ist die Einsicht. Wäre das nicht so, sie hätte keinen Inhalt. Sie wäre bloße Gefühls-Schwärmerei. Aber der wahre Geist schwärmt nicht; er spricht eine deutliche, inhaltvolle Sprache.“ (GA 260a, 41.) Der Inhalt der Anthroposophie ist also gar nicht gegeben; er entsteht erst aus der Einsicht.

19. Die Einsicht des Lesers und der wahre Geist beginnen, eine gemeinsame, deutliche und inhaltvolle Sprache zu sprechen. Es beginnt ein Gespräch. Und dabei tritt die oben beschriebene Selbstbeobachtung ein, die Trennung des Beobachters von dem Beobachteten, meiner selbst von mir selber. Sie liefert mir eine doppelte Gewissheit: Dass ich nicht richtig lesen kann; und eben darin entsteht die andere Gewissheit, dass ich in diesem Moment richtig lese.  

20. In dieser Paradoxie des sich selbst beobachtenden Bewusstseins erlebe ich: Aus dem selbstlos gedachten Gedanken des Satzes wächst durch einen geheimnisvollen Prozess innerhalb der Selbstbeobachtung, in die mich der Text mittels meines aktivierten Denkens versetzt hat, der gegenteilige Gedanke hervor.

21. Im zweiten Satz steht: „In einer gewissen Beziehung wird von dem Leser jede Seite, ja mancher Satz erarbeitet werden müssen.“ Was ist diese „gewisse Beziehung“? Nach dem, was ich soeben an moralischer Bändigung des naiven Lesers vollbracht habe, kann damit nur die Gewissens-Beziehung gemeint sein, in die ich zum Autor getreten bin, als ich den ersten Satz selbstlos zu denken versuchte. Ich habe diesen Satz gegen mich selber verwendet. Ich habe mich mit Hilfe Rudolf Steiners selbst zu widerlegen begonnen, indem ich „den Pfad der Verehrung gegenüber Wahrheit und Erkenntnis“ (10,19) zu betreten bloß erwogen habe.

22. Nun kann ich mir nämlich sagen: Innerhalb dieser Beziehung und durch dieselbe, die in mir die zwei Seiten des Lesers erzeugt, muss jede der zwei Seiten, unter denen das Buch mir je anders erscheint, erarbeitet werden, und zwar indem eben so „mancher Satz“ erarbeitet wird.

23. „Erst muss das Phrasenhafte da sein, muss dann aber auch erkannt werden. Dann wird es möglich, dass ein neues geistiges Leben sich wirklich entwickelt.“ – „Und wir leben eben in dem Zeitalter, in dem wir Teilnehmer werden müssen an der untergehenden Phrase und Teilnehmer werden müssen an dem aufsteigenden Geistesleben.“ Der Leser muss sich selbst erfühlen als den „Teilnehmer an der untergehenden Phrase“, und in diesem Erleben sich bewusst werden, wie er dabei aktiv teilhat an dem „aufsteigenden neuen Geistesleben“. In einem inneren dramatischen Widerspruch erlebt er sich. Während des Erarbeitens der beiden Seiten entwickelt sich die Beziehung zum Autor weiter. Jeder Entwicklungsschritt ergibt sich organisch aus dem anderen, „wie bei einem lebendigen Wesen ein Glied aus dem ändern herauswächst, ein Gedanke aus dem andern organisch herauskommt.“ (97, 234)

24. „Ein richtig verfasstes anthroposophisches Buch soll ein Aufwecker des Geistlebens im Leser sein, nicht eine Summe von Mitteilungen.“ Versuchen Sie, naiver Leser den Lesenden zu verstehen: nicht den Autor und nicht sich selbst als den konkreten Leser, sondern den anderen, anders Lesenden. Das, was das Buch richtig liest, ist sein – des anderen Lesenden – Bewusstsein, welches im Buch bereits enthalten ist. Nicht das anthroposophische Buch versuchen wir über den Lesenden zu verstehen, sondern den von dem Buch geforderten Leser durch das Buch hindurch.

25. Der Leser des Buches Rudolf Steiners wird zum Objekt eines sein Bewusstsein Beobachtenden. Ich bemerke, wie meine spontane Eigentätigkeit zurückgedrängt wird, wenn ich mich dem Text Rudolf Steiners selbstlos hingebe. Das Reich des naiven Lesers ist dadurch nicht beschnitten. Dennoch ist darin ein anderes Bewusstsein wirksam. Man könnte diesen Vorgang mit den Begriffen Ausnahmezustand, Normalzustand und illusionärer Zustand des Bewusstseins beschreiben. Mit dem Ausspruch: ich denke über einen Satz Rudolf Steiners, trete ich bereits in den Ausnahmezustand ein, wo etwas zum Gegenstand der Beobachtung gemacht wird, was in unserer geistigen Tätigkeit immer mitenthalten ist, aber nicht als beobachtetes Objekt.

26. Wird der illusionäre Zustand vom Ausnahmezustand beobachtend umgriffen, entsteht der Normalzustand: Darin bin ich mir bewusst, dass ich den Inhalt des Satzes an dem Text denkend erzeuge. Was ist der Zusammenhang zwischen dem Erzeugten und dem Satz Rudolf Steiners? Der Satz selbst zeigt ihn mir: sein einziger Inhalt ist die Beschreibung dieses Zusammenhangs. Der Normalzustand liefert lesend mir den konkreten Inhalt des Ausnahmezustandes als Selbstbeobachtung am Text Rudolf Steiners. Man wacht innerhalb des illusionären Zustandes dabei auf für die Bedingungen, die den Ausnahmezustand bewirken. Diese werden dem Normalzustand am Text Rudolf Steiners gespiegelt und können so begriffen werden. Das Bewirkende des Ausnahmezustands ist rein geistiger Art: die Wesenheiten, die aus der geistigen Welt hereinwirken. Zugleich erscheinen sie als Inhalt der geisteswissenschaftlichen Darstellungen Rudolf Steiners. Der Normalzustand kann den Inhalt dieser Geisteswissenschaft als Inhalt der Text-Beobachtung im Ausnahmezustand vorstellend erfassen. Verursacher des Vorgangs ist dasjenige Prinzip, welches den illusionären Zustand geistig zurückdrängt: Es ist das Denken, das an dem Text Rudolf Steiners Ereignis wird, indem es mich gegenüber dem naiven Leser in die Selbstbeobachtung versetzt.

27. Wer bewirkt dieses Zurückdrängen? Ich, der ich den naiven Leser zu beobachten beginne, bin nur Zeuge, nicht Urheber dieses Zurückdrängens, sondern ich bemerke, wie der Text mich denkt, indem er mich aus dem naiven Leser heraushebt, dieser abgelähmt wird und an dessen Stelle der Text sich selber setzt. Das Denken als Beobachtung. Dem naiven Leser ist das Denken ebenso entfallen wie er dem Denken. Aber indem er am Text Rudolf Steiners anstößt, ergreift ihn das Denken. Der Leser wird gewahr, dass in dem Text seine aktuelle (naiv-illusionäre) Verfassung beschrieben wird. Er wird zum Objekt, es tritt die Beobachtung ein.

28. Ich könnte den naiven Leser gar nicht beobachten, wenn nicht das beobachtende Prinzip bereits gewirkt und mich in eine höhere Welt hineingeholt hätte. Ich gehe als „Nachkonstrukteur“ der Sätze Rudolf Steiners erst aus der Verfassung des naiven Lesers hervor. Dies alles geschieht also durch das Denken Rudolf Steiners.

29. Geisteswissenschaftlich ausgedrückt: Die Wesenheit Rudolf Steiner ist im Ätherleib da. Indem er den naiven Leser beobachtet, werde ich von ihm aus diesem heraus er-dacht. Das Denken Rudolf Steiners beobachtet das Nicht-Denken des naiven Lesers, und dabei entstehe auch ich – wenn ich mein Denken so erkraftet habe, dass ich anstoßen kann! –, der diese Tatsache mitbeobachten darf und damit feststelle: Das Denken beobachtet sich in seinem Zustand des Nicht- bzw. Tot-Sein und erzeugt dadurch sich (und mich, Zeuge dessen) selbst.

30. Nun muss ich meines Ursprungs inne werden, darüber verfügen lernen. Es ist das aktive Lesen der Schrift Rudolf Steiners. Was sie beschreibt, ist der Ursprung meiner selbst als „ich“, der vom Denken durch dessen Selbstbeobachtung aus dem naiven Leser heraus erzeugt wird. Ich erkenne, dass ich dies nachzuvollziehen habe, indem ich beobachte, wie ich von Rudolf Steiner dahin geführt werde, zu bemerken, wie sein Text mich mittels des naiven Lesers er-denkt. In der „Philosophie der Freiheit“ wird dieser Vorgang „Beobachtung des Denkens“ genannt. Es ist nicht so, dass ich, der Denker, mich, den Denker beobachte, denn ich kann mich nicht in zwei Personen spalten, um mich im aktuellen Denkakt zu beobachten. Ich kann nur gewahr werden, wie das Denken mich beobachtet, und dadurch mich für sich hervorbringt.

31. Und nachdem sich das alles schon abgespielt hat, und ich, der Zeuge, mir dies vor Augen führe, kann ich mir sagen: Rudolf Steiner beobachtet mich, denn er beschreibt mir eben das, was ich gerade tue, aus einer Sichtposition, über die ich selber gar nicht verfüge. Dadurch kann ich, indem ich diese Beschreibung meiner selbst anhand des Textes verfolge, das Denken gewahr werden, indem es (er) mich beobachtet.

32. Dies bedenkend, wird in methodischer Hinsicht klar: Wir, der naive Leser und ich, sein Begleiter von des Denkens Gnaden, müssen versuchen, das Dargestellte in der exakten Formulierung Rudolf Steiners nachzukonstruieren. Dadurch erst können wir darin das sehen, was wir nicht sehen würden, wenn wir darüber auf eine nur geringfügig andere Weise nachdächten.