24.03.2011

Vom Streit unter „Anthroposophen“

Im Vorspann zu Blankertz’ Artikel schreibt Herausgeber Gerold Aregger:

Über die Jahre bin ich in eine zunehmende Verzweif­lung geraten, ausgelöst durch die Erfahrung: Wo immer eine wesentliche Frage von verschiedenen Anthroposophen behandelt wird, ist nicht Einigkeit – mindestens im Streben – da, sondern Entzweiung. Diametral sich widersprechende Auffassungen werden geäussert. Das wäre nicht so schlimm, wenn die Vertreter dieser verschiedenen Auffassungen sich in eine konstruktive Auseinandersetzung miteinander begeben würden. Die könnte streitbar sein, müsste aber um die Sache kreisen. Dem entziehen sich Anthroposophen immer wieder. Oder man redet völlig aneinander vorbei, grenzt den Anderen aus. [...] – Im letzten Heft brachten wir eine Kontroverse zwischen Renatus Ziegler und Mieke Mosmuller aufgrund ihres Buches „Das Tor zur geistigen Welt. Seine Riegel und Scharniere“. Ich hatte die Hoffnung damit verbunden, dass so eine fruchtbare Begeg­nung und ein Austausch der Standpunkte der Beteiligten zustande kommen könne. Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Jedoch ergab sich mit Rüdiger Blankertz ein intensives, erhellendes Gespräch dazu. Ich brachte dabei auch das Phänomen der sich total widersprechenden Standpunkte unter Anthroposophen bei jedem wesentlichen Thema vor – und beklagte den Umgang damit in lauter unfruchtbaren Fronten. – Daraufhin bat ich Rüdiger Blankertz, in dieser Situation einen Beitrag zu schreiben.


Tatsächlich sollte man über die Entzweiung der Anthroposophen schon im Streben in eine tiefe Verzweiflung geraten. Denn dies ist doch die entscheidende Frage: Wonach wird gestrebt? Wird überhaupt gestrebt? Nach irgendetwas Essentiellem? Am Beispiel der Waldorfbewegung zeigt sich, dass nach der Anthroposophie – was auch immer man darunter zunächst versteht – nahezu überhaupt nicht mehr gestrebt wird. Eindeutig also ist, dass man es hier überhaupt nicht mehr mit einer anthroposophischen Bewegung zu tun hat.

Und die Anthroposophische Gesellschaft selbst? Aregger selbst schreibt über die tiefe Krise des „Goetheanum“:

Die Vorgänge der letzten Monate genau zu beschreiben, die unter dem Spardiktat gelaufen sind und laufen, wäre journali­stische Pflicht innerhalb einer Anthroposo­phenschaft, die sich ernst nimmt. [...] Aber seit langem ist die Kultur der Transpa­renz an diesem Ort am Versiegen – dies be­trifft ja gerade auch die finanziellen Belan­ge, und so kursieren Gerüchte. Mehrere Mitarbeiter haben ihre Stelle in den letzten Jahren aus obigem Grund gekündigt. Kein Gerücht ist eine massive Ämter‑Kumulati­on bei Paul Mackay, der [...] eine besondere Verantwortung für die herrschenden Zu­stände trägt. Da wurden ganze Sektionen stillgelegt oder ausgedünnt, ohne dass ein gemeinsamer Prozess stattgefunden hätte. Da wurden viele jahre‑ oder jahrzehntealte Mitarbeiter per schriftlicher Kündigung verabschiedet, ohne jedes Gespräch. Da wurde von oben in sachfremder Weise kreuz und quer in innere Prozesse von Pro­jekten hineingefunkt. [...]
Dabei bringt es der Vorstand der Allge­meinen Anthroposophischen Gesellschaft (AAG) [im „Nachrichtenblatt“] unter dem Titel Entwicklungen der letzten zwei Jahrzehnte fertig, weder den mehrjährigen unsäglichen Rekonstituierungprozess (1996 – 2002/3) zu erwähnen, die lähmenden Auseinandersetzungen mit der Gelebten Weihnachtstagung, den Ein­zug der Elektronik, noch die Finanzkunst­stücke mit den Partizipationsscheinen der Weleda. Der Spendenschwund hat Gründe.
Von Mitgliederseite wird die inhaltliche Richtungslosigkeit des Vorstandes hervorgehoben, der von sich widersprechenden Positionen zum Beispiel von Bodo von Plato und Sergej Prokofieff blockiert sei. Die Sek­tionsleiter wurden aus der Führung der Ge­sellschaft und des Goetheanum‑Betriebes ausgeschlossen: Im Sommer 2010 wurde die Zuständigkeit des Hochschulkollegi­ums stark eingeschränkt (Nachrichtenblatt vom 2.7.2010). Der Vorstand vermittelt nicht, er bestimmt in allen Bereichen. [...]
Das alles stellt schwerwiegende Fragen an den Gesundheitszustand des Trauma­-Patienten anthroposophische Gesellschaft. Das Goetheanum ist ja nicht irgend ein Ort. Schicht um Schicht wurde in der Vergangen­heit Ungeklärtes zugedeckt und wartet auf Lüftung. [...] Die heutige AAG befin­det sich in einer völligen Bodenlosigkeit. Da­von sind die Geschehnisse am Goetheanum beredter Ausdruck. Kosmetische Eingriffe oder „neue Visionen“, Umfragen oder „Sa­nierungen“ werden daran nichts ändern.


Was also ist die tiefe Krise? Etwa die Uneinigkeit der Protagonisten?
Oder nicht vielmehr die Tatsache, dass es bei dieser ganzen Prot-Agonie überhaupt nicht um Anthroposophie geht? Verwalten, Repräsentieren, Referieren, Organisieren – das alles hat mit Anthroposophie eben gar nichts zu tun! Und wenn das Herz nicht lebendig schlägt und die Geisteswissenschaft gar keine Realität ist, dann ist alles Drumherum nur die Umhüllung der Mumie.

Anthroposophie kann nicht leben, wenn sie nicht wahrgemacht wird. Und selbst, wenn man meint, nach Anthroposophie zu streben, kann man noch immer vollkommen an ihr vorbeigehen, sie z.B. mit Abstraktionen und intellektualistischen Ausführungen zur toten Karikatur machen.

Da hilft auch kein Gespräch – denn ein solches wäre nur dann fruchtbar, wenn man Irrtümer und Irrwege einsieht. Sieht man sie aber nicht – und das ist doch die Regel –, wie soll man sich dann aufeinander zubewegen? Der Glaube an eine gemeinsame Verständigung ist unter diesen Voraussetzungen erschütternd naiv.

Wenn Herr Aregger Herrn Ziegler in der „Gegenwart“ 4/2010 eine Plattform gibt, Mieke Mosmuller in heftiger Weise „Ausgrenzung“ und „Vereinahmung“ vorzuwerfen, dann kann das doch wohl keine „fruchtbare Begegnung“ werden!? Frau Mosmuller konnte nichts weiter tun, als noch einmal deutlich zu machen, warum sie Zieglers Buch „Intuition und Ich-Erfahrung“ als Gesetzbuch bezeichnen muss (siehe dazu auch meinen Aufsatz: „Intuition und Ich-Erfahrung? Der Unterschied zwischen Renatus Ziegler und Mieke Mosmuller“).

Wie sehr Mieke Mosmuller angegriffen wird, zeigen auch die Aufsätze von Steinmann/Decressonnière im „Europäer“ und Irene Diet in der Vierteljahrsschrift „Anthroposophie“. Stefan Hartmann machte in „Die Drei“ den „Versuch eines Dialogs“ – aber gerade an diesem zeigte sich wiederum die ganze Unmöglichkeit eines solchen bzw. das vollkommen Irreführende, ja oft Unwahrhaftige solcher „Dialog-Rhetorik“. Wozu einen „Dialog“ mit Menschen suchen, die sich ihrerseits gar nicht einlassen – und dennoch unterschwellig denjenigen verurteilen, der nicht den „Dialog“ gesucht hat?

Zuerst muss doch der Dialog mit dem Geist gesucht und gepflegt werden. Warum soll man den Dialog mit Menschen suchen, deren Veröffentlichungen man gerade als geistlos erkennen muss? Wenn es diesen anderen wirklich so sehr um Dialog ginge, könnten sie ihn doch suchen!?

Auch Rüdiger Blankertz gehört mit seinem Aufsatz in der „Anthroposophie“ III/2010 zu den scharfen Kritikern von Mieke Mosmuller. Schon der Titel ist ein einziger Angriff: „Neue ‚Anweisungen zum seligen Lesen’?“ – Und nun soll er erklären, warum die Uneinigkeit unter „Anthroposophen“ so groß ist!?

Rüdiger Blankertz und seine speziellen Ansichten

Zu Beginn des Heftes schreibt Gerold Aregger:

Rüdiger Blankertz untersucht das Verhältnis des Anthroposophen zu Rudolf Steiner. Er tut dies in einer sorgfältigen, schrittweisen Art, welche die Aufmerksamkeit des Lesers erfordert und stark fordert. Freunde haben mich gewarnt: das verstehe ja niemand! Ich bitte aber darum, sich nicht abschrecken zu lassen und [...] glaube schon, dass diese Gedankengänge verstanden werden können – ja müssen. So der Leser will.


Für Aregger haben Blankertz’ Ausführungen also offenbar eine gewichtige Bedeutung. Das Thema ist zweifellos wichtig: das Verhältnis von Rudolf Steiner und seinem geschriebenen Wort zum Leser. Doch auch Blankertz hat seinen sehr speziellen Standpunkt, von dem aus er alles anschaut. Seine Ausführungen fußen dabei zunächst auf den Gedanken Karl Ballmers (1891-1958). In der Tat sind sie nicht einfach zu verstehen, denn Blankertz spaltet das Bewusstsein des Lesers in drei, vier, fünf handelnde Personen bzw. Gestalten...

Im Grunde macht Blankertz nichts anderes als alle anderen „Anthroposophen“, die miteinander in Streit geraten: Er hat eine ganz spezifische Auffassung davon, wie Rudolf Steiner und sein Werk zu verstehen sei – und wer es nicht in dieser Weise versteht, versteht es gar nicht. Darin ist Blankertz kategorischer als viele andere! Die entscheidende Frage ist also: Ist das Kategorische berechtigt?

Mieke Mosmuller weist immer wieder auf das „Tor zur geistigen Welt“ hin, das Nadelöhr: das reine Denken. Für Blankertz ist das Nadelöhr das „richtige Lesen im anthroposophischen Buch“. Weisen nun beide auf eine entscheidende Realität hin? Das reine Denken ist zweifellos etwas, was zunächst verwirklicht werden muss, wenn man das Reich der Geisteswissenschaft betreten will. Und nur durch Rudolf Steiner hat man dieses Reich und unzählige Wegweiser überhaupt vor sich! Worauf aber weist Blankertz hin? Was ist bei ihm das „richtige Lesen“, welchen Prozess beschreibt er?

Bevor ich auf seinen Gedankengang eingehe, muss ich nochmals auf seinen früheren o.g. Aufsatz hinweisen. In meiner Entgegnung schrieb ich damals:

Dann aber wirft er Mieke Mosmuller einen vollkommenen Unsinn vor: Nicht nur, sie überspringe den Punkt, auf den es ihr gerade ankomme: den Übergang vom Nicht-Denken zum Denken. Sondern sogar, auch ihr Denken sei nur ein ganz gewöhnliches, voller Konstrukte, nicht dasjenige, was Rudolf Steiner mit „das Denken“ meine...
Bei derart unsinnigen Behauptungen wäre doch schon etwas mehr notwendig als die bloße Behauptung – eine gekonnt mysteriöse Behauptung, die sich zu einem okkulten Nebel auswächst, nämlich der Vorstellung, Rudolf Steiner habe nochmals ein ganz, ein vollkommen anderes Denken gemeint. Dieses Denken steht dann da wie eine Art „Ding an sich“, man kann es nicht erkennen, auch Mieke Mosmuller hat es nicht, nur Blankertz vielleicht, aber dieser verrät nicht, worin es sich nun unterscheidet...


In seinem neuen Aufsatz nun wird Blankertz etwas deutlicher und versucht, zu beschreiben, wie er – in der Nachfolge Karl Ballmers – Rudolf Steiner richtig zu verstehen glaubt. Im Folgenden gebe ich zunächst in der notwendigen Ausführlichkeit Blankertz’ Gedankengang wieder. [Noch ausführlicher war Blankertz in seinem Aufsatz „Vom Lesen im anthroposophischen Buch“. Siehe dazu meine Erwiderung: „Blankertz’ Kartenhaus“].

Blankertz’ Gedankengang

Jeder anthroposophische Schriftsteller versucht dem meist ratlosen Leser zu erklären, wie er z.B. „Die Philosophie der Freiheit“ zu verstehen habe. Meist unterbleibt dabei jede vorurteilslose Untersuchung des eigentlichen Problems: Rudolf Steiner. Die erste Frage müsste sein, in welchem Sinne die „Erkenntnistat Rudolf Steiners“ für uns die entscheidende Voraussetzung un­seres Erkenntnisstrebens ist. Durch sie sind wir – so Ballmer – in eine karmische Beziehung zu Rudolf Steiner gestellt. Unsere Aufgabe ist es, sich dieser Beziehung bewusst zu werden, was nur möglich ist, wenn wir unsere eigenen unbewussten Denk- bzw. Erkenntnishemmnisse gegenüber Steiners Erkenntnistat ins Auge fassen bzw. uns einander bewusst machen können. Dabei kann das „Nacherdenken“ von Steiners karmafreien Gedankenformen das Denken des Lesers aus seinen unbewussten Voraussetzungen befreien. Die Auffassungen der verschiedenen Anthroposophen kollidieren miteinander – dies kann zu gegenseitiger Ablehnung oder zum Gewahrwerden der befreienden Erkenntnistat Rudolf Steiners werden.

Das Buch Rudolf Steiners wurde für den Leser geschrieben, um ihm den Weg zum Vollmenschen zeigen zu können. Dabei legt Steiner dem Leser durch bewusst schwierige Stilisierung exakt konstruierte Schwierigkeiten in den Weg. Nur durch deren Erkenntnis und Überwindung könnte sich das rechte Verstehen entwickeln. Der Leser muss seiner eigenen Verständnis-Hemmnisse gewahr werden, er erlebt sie um so mehr, je mehr er sich anstrengt. Sein „Erkenntnis-Karma“ tritt ihm an der Schwelle des Buches entgegen und versperrt ihm den Zugriff auf die Erkenntniswelt des Autors. Ihm ist nicht bewusst, dass er „lesend bereits in der geistigen Welt steht, deren Wesenheiten und Vorgänge ihm im anthroposophischen Buch als des Autors und sein eigener Bewusstseins‑Inhalt geschildert wer­den“.

Der Leser hat nun zwei Gestalten in sich, die in Konflikt geraten (zugleich ist bei „Anthroposophen“ jeweils der eine oder andere Aspekt vorherrschend): den sich anstrengenden naiven Leser und den – aus ihm hervorgehenden – „gestauchten“ Leser.

Im naiven Leser wirkt als Trieb die Idee des richtigen Lesens. Er empfindet sich voller Sympathiekräfte in Übereinstimmung mit Rudolf Steiner und bemerkt keine Schwierigkeiten. Erst durch das ganz andere Verständnis von Mit-Anthroposophen erfährt er die erste Stauchung des Verständnistriebes. So wie die Pflanze die Blüte hervorbringt, leert sich der Innenraum vom bisherigen Scheinverständnis und sucht vertieft die Erkenntnis. (Die Stauchung kann auch zu weit gehen – dann zweifelt der Leser nicht an sich selbst, sondern an Rudolf Steiner, den man nicht verstehen könne). Es entwickelt sich ein höheres Bewusstsein – dieses hat immer seinen vorherigen Zustand zum Inhalt: „Man kann sagen: Der einzige berechtigte Inhalt eines ‚hö­heren’ Bewusstsein ist das ‚niedere’.“ Damit tritt als dritte Gestalt der „denkende Leser“ auf.

Nun schildert Blankertz nochmals die ersten beiden Gestalten: Die eine will „hin zu Rudolf Steiner“, erlebt aber viel zu früh das Ideal des Verstehens schon als verwirklicht. Die andere will sich der „Sache“, auf die Rudolf Steiner scheinbar hinweist, direkt zuwenden („los von Rudolf Steiner“) und meint, die Termini und Begriffe Steiners viel klarer als dieser selbst aufzufassen und zu präsentieren. Die eine Gestalt fühlt sich von der anderen jeweils provoziert – so erscheint der letzteren das „unproblematische Verständnis“ der ersteren z.B. als überhebliche Vereinahmung. Erst wenn man beide Geistesarten in ihrem Verhältnis ins Auge fassen würde, würde klar werden, wo die eigene Entwicklung zu suchen wäre. In der Einseitigkeit anthroposophischer Schriftsteller zeigen sich also äußerlich Variationen der beiden „Widersacher“-Gestalten, die sich in der je eigenen Auseinandersetzung mit dem Buch Rudolf Steiners – also in der zunächst unbewussten Selbstbegegnung in der geistigen Welt – geltend machen.

Rudolf Steiners Werk hat „die Möglichkeit geschaffen, an die Erkenntnisgrenze, ohne sie anzutasten, so heranzutreten, dass in diesem Herantreten dasjenige bewusst ergriffen werden kann, was vom Jenseits dieser Grenze im Hier und Jetzt des Grenz‑Bewusstseins geistig real wirkt und lebt. Der reale Geist Rudolf Steiners möchte in der Selbstbeobachtung des Bewusstseins seiner Leser wirken und auftreten dürfen als das, was er wesenhaft ist: als das Bewusstsein des Christus von sich selbst.“

Blankertz’ ganzer Gedankengang wirkt zunächst höchst plausibel, denn natürlich gibt es die von ihm beschriebenen Phänomene des scheinbaren Verstehens, wo noch gar kein Verstehen ist, und des Unverständnisses, wo man sich gar nicht der schweren Erkenntnisarbeit unterwerfen will. Andererseits ist das Ganze merkwürdig hohl und okkult, denn was sagt Blankertz eigentlich? Die ganze Zeit spricht er davon, dass der Leser, wenn er es „richtig“ mache, eigentlich nur zugeben könne, dass er Rudolf Steiner nicht verstehe. Aus dieser „Stauchung“ heraus entwickele sich dann das höhere Bewusstsein, dessen Inhalt das bisherige niedere sei – also u.a. das Bewusstsein des bisherigen Unverständnisses. Aber was folgt dann?

Bis zuletzt hält Blankertz an der Erkenntnisgrenze fest – also an dem ehrlichen Sich-Eingestehen, nicht zu verstehen –, und ganz am Ende erscheint dann gleichsam wie der „Deus ex machina“ die Auflösung: Der Geist Rudolf Steiners wolle in der Selbstbeobachtung des Leser-Bewusstseins auftreten dürfen als das, was er sei: das Bewusstsein des Christus von sich selbst.

Nun wissen wir zwar, dass Anthroposophie die Sprache des Christus ist, und Blankertz zitiert selbst Rudolf Steiners Worte: „Alles, was wir anstreben können, jede Zeile, die wir lesen aus unserer anthroposophischen Wissenschaft, ist ein Sich-in-Beziehung-Setzen zu dem Christus. Wir tun gewissermassen gar nichts anderes.“ – Das ist aber noch etwas ganz anderes als „das Bewusstsein des Christus von sich selbst“. Wo bleibt da der Leser, das heißt, der individuell strebende Anthroposoph!? Und vor allem: Wie wird der von Blankertz zuletzt erwähnte Schritt gemacht? Die Erkenntnis eines vorschnellen „Hin zu Rudolf Steiner“ oder eines irrigen „Los von Rudolf Steiner“ ist doch wohl etwas zu trivial. Blankertz zeichnet eine Schwarz-Weiß-Welt und stellt ans Ende eine großartige Kulisse, ohne auch nur ansatzweise wirklich einen Weg aufzuzeigen.

Er selbst stellt seine Gedanken vollkommen überzeugt und eigentlich sogar selbstgefällig dar. Man mag ihm unmittelbar glauben, dass er sehr intensiv die Phase durchgemacht hat, das eigene Nicht-Verstehen zu erleben. Doch was ist jetzt Inhalt seines Bewusstseins? Die Antwort auf diese Frage bleibt er schuldig.

Unlogik am laufenden Band

Damit nicht genug, enthält Blankertz’ Darstellung noch diverse Unlogiken. In einem Absatz heißt es:

Wer ein Buch Rudolf Steiners liest, ist lesend bereits in die geistige Welt versetzt. Er spürt, wie er in den Bereich geistiger Ursachen und Wirkungen eintritt, wie die Gesetz­mässigkeiten des Erlebens ganz andere sind, wie er von geistigen Wesen bewegt wird. Das alles wirkt unterschwellig Angst auslösend. Die Unsicherheit und damit die gei­stige Erfahrung der geistigen Welt kann ihm gar nicht sogleich bewusst sein, vor allem dann nicht, wenn er aus gewissen karmischen Voraussetzungen der Anthroposophie Rudolf Steiners mit Sympathie begegnet. Man kann aber an der Art, wie Rudolf Stei­ner in der ‚nicht‑anthroposophischen’ Öffentlichkeit erlebt und behandelt wird, diese tiefe Verunsicherung und die durch sie bewirkte Furcht vor dem Geist anhand der geisteswissenschaftlichen Darstellungen Rudolf Steiners studieren.


Der erste Satz passt ganz in Blankertz’ okkultes Szenario. Nur: Wer ein geisteswissenschaftliches Buch so liest wie andere Bücher, kommt der geistigen Welt nicht einen Schritt näher! Das hat ja Rudolf Steiner immer wieder beklagt. Nur, wenn sie anders gelesen werden, kann die Darstellung den Leser der geistigen Welt entgegenführen – und auch dies nur „die ersten Schritte“.

Steiners Aussagen hierzu sind eindeutig und sehr anders als das, was Blankertz schreibt:

Ich habe ganz bewußt angestrebt, nicht eine „populäre“ Darstellung zu geben, sondern eine solche, die notwendig macht, mit rechter Gedankenanstrengung in den Inhalt hineinzukommen. Ich habe damit meinen Büchern einen solchen Charakter aufgeprägt, daß deren Lesen selbst schon der Anfang der Geistesschulung ist. Denn die ruhige, besonnene Gedankenanstrengung, die dieses Lesen notwendig macht, verstärkt die Seelenkräfte und macht sie dadurch fähig, der geistigen Welt nahe zu kommen.
Die Geheimwissenschaft im Umriss, GA 13, S. 10f.


Eigentlich ist allein schon dieses kurze Zitat der vollkommene Nachweis für die ganze Haltlosigkeit von Blankertz’ okkulter, scheinbar sehr esoterischer, in Wirklichkeit nur spekulativ-phantastischer Darstellung. Denn es ist etwas vollkommen anderes, ob der Leser durch eine eben „nicht populäre“ Darstellung sein Denken anstrengen muss, auf diese Weise seine Seelenkräfte verstärkt und sich so allmählich fähig macht, der geistigen Welt nahezukommen – oder ob er (Szenario Blankertz) „lesend bereits in die geistige Welt versetzt“ ist!

Die Unlogik setzt sich fort, wenn Blankertz behauptet, man träte „in den Bereich geistiger Ursachen und Wirkungen“ ein, was einem aber nicht bewusst sei, unterschwellig jedoch Angst auslöse – und zwar vor allem, wenn man der Anthroposophie mit Sympathie begegne. Im übrigen könne diese Furcht vor dem Geist vor allem an der nicht-anthroposophischen Öffentlichkeit studiert werden. – Hier reiht sich doch wirklich eine Unlogik und Widersprüchlichkeit an die andere!

Den „Sympathie-Leser“ stellt Blankertz so dar, dass dieser nicht das geringste Problem in den Texten Rudolf Steiners erkennt, sondern sich ganz in Übereinstimmung mit Rudolf Steiner empfindet. Wo soll da die Verunsicherung liegen? Blankertz beklagt ja gerade, dass sie in diesem Fall fehlt!

Genauso fragwürdig ist dann aber auch Blankertz’ zweite, aus dem „naiven Leser“ hervorgehende Gestalt. Ist es nun der „gestauchte Leser“? Ist es der „Los-von-Steiner-Leser“? Hat er nun ein Problem oder zimmert er sich sorglos eine „Parallel-Anthroposophie“ und unterscheidet sich damit in der Sache gar nicht vom sorglosen „Sympathie-Leser“? Fragen über Fragen...

Wie auch immer: So sehr Blankertz sich dagegen wehrt, dass einem die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners durchaus zugänglich werden kann, ohne dass man sich in drei, vier oder fünf Leser spaltet, so sehr hat Rudolf Steiner immer wieder betont, dass ein Verständnis dieser Geisteswissenschaft, also seiner Worte, bereits dem gesunden Menschenverstand möglich ist.

Rudolf Steiner will den Menschen zu einem Geist-Erleben führen, und er will mit seinen imaginativen Schilderungen zugleich davon sprechen, was ein Mensch erleben kann, der zu diesem Geist-Erleben kommt. Was soll Blankertz’ Gerede, dass der Inhalt des höheren Bewusstseins immer das niedere sei? Im Gegenteil: Es ist das zuvor nicht geschaute Höhere!

Blankertz redet von nichts anderem als einem notwendigen Nicht-Verstehen und einem Beobachten dieses Nicht-Verstehens. Mehr sagt er nicht. Und ganz am Ende schlägt dies plötzlich um in eine Erkenntnis-Offenbarung des „Bewusstsein des Christus von sich selbst“. In der Sache ist Blankertz’ Darstellung für das Denken genauso undurchschaubar und unmotiviert wie Judith von Halles Schauungen!

Mieke Mosmuller beschreibt in ihren Büchern klar und konkret, dass es ganz auf die Entwicklung des reinen Denkens als übersinnliche Kraft ankommt. Sie beschreibt diesen Prozess. Sie beschreibt, was man auf diesem Wege erlebt – und wie man auf diesem anthroposophischen Schulungsweg den Christus in seiner Realität findet. All dies ist ganz und gar konkret, ist realste Geisteswissenschaft.

Okkulter Worte-Fetischismus oder reales Geist-Erleben

Selbst Karl Ballmer, an den Blankertz doch so eminent anknüpfen will, schreibt etwas anderes als dieser. In Ballmers Aufsatz „Die Karma-Orientierung der Erkenntnistheorie“ heißt es nämlich:

Die "Methode", geisteswissenschaftlich-anthroposophische Wahrheit zu finden, kann [...] in nichts anderem bestehen als darin, daß ich mir bewußt werde, in der "geistigen Welt" zu stehen, sofern ich die in Büchern und Vorträgen niedergelegten Gedanken des anthroposophischen Lehrers nach-denke. Diese Gedanken werden mein allerpersönlichstes Erlebnis, dem ich ganz die Färbung meiner Individualität gebe; sie sind ferner in ihrem Wahrsein gültig für alle Menschen; und sie sind ihrem Ursprung nach die Offenbarung einer besonderen Individualität.


Es geht also um ein gelingendes, reales Nach- und Mitvollziehen von Rudolf Steiners Gedanken, um ein reales Miterleben dessen, was er als eigenes übersinnliches Erleben mit Hilfe der Worte zum Ausdruck bringt. Nun – wie kann es anders sein, als dass der Mensch, dem dies gelingt, ebenfalls in der geistigen Welt steht? Das aber ist nur möglich, wenn man Rudolf Steiners Gedanken intensiv-meditativ nach-denkt, bis sie auch in einem selbst eine Realität werden, eine Realität aussprechen. – Dann aber steht man in einem bewussten geistigen Erleben unmittelbar darinnen! Und es ist nicht so, dass man „in den Bereich geistiger Ursachen und Wirkungen“ einträte, was einem aber zunächst unbewusst sei usw., wie Blankertz fabuliert! Bei Ballmer geht es noch um wirkliche Realitäten. Die geistige Welt ist eine Realität jenseits der Worte.

Es geht nicht um den von Blankertz so sehr betonten „exakten Wortlaut“ – auch wenn Steiner noch so sehr um jede Formulierung gerungen hat. Blankertz zelebriert einen Wortlaut-Fetischismus, bei Rudolf Steiner geht es jedoch um den Geist. So, wie man nicht die Beispiele für die Hauptsache nehmen soll (wie Steiner es z.B. in Bezug auf die Dreigliederung oder die Waldorfpädagogik beklagte), so gilt dasselbe für die Worte. In Bezug auf die Philosophie der Freiheit schrieb Steiner z.B. sinngemäß einmal, er habe sich mühsam hindurchkämpfen müssen, um ans Ziel zu kommen. Und: Jeder Mensch solle seine eigene „Philosophie der Freiheit“ schreiben! Für Blankertz aber wird der reine Wortlaut zum goldenen Kalb, zum ehernen Gesetz...

Und nochmals: Es geht nicht um ein Erleben des bisherigen niederen Bewusstseins als ein niederes, sondern gerade um das Erleben eines zuvor nie erlebten, inhaltsvollen Höheren. Es seien nur zwei Zitate Rudolf Steiners angeführt, die noch nicht einmal die geistige Welt im höheren Sinne betreffen:

Aber nur eine Seite der inneren Tätigkeit des Geheimschülers ist durch diese Geburt des eigenen höheren Menschen gekennzeichnet. Es muß dazu noch etwas anderes kommen. [...] Er muß sich erheben zu einem rein Menschlichen, das nichts mehr mit seiner besonderen Lage zu tun hat. Er muß zu einer Betrachtung derjenigen Dinge übergehen, die ihn als Mensch etwas angingen, auch wenn er unter ganz anderen Verhältnissen, in einer ganz anderen Lage lebte. Dadurch lebt in ihm etwas auf, was über das Persönliche hinausragt. Er richtet damit den Blick in höhere Welten, als diejenigen sind, mit denen ihn der Alltag zusammenführt. Und damit beginnt der Mensch zu fühlen, zu erleben, daß er solchen höheren Welten angehört.
Wie erlangt man...?, GA 10, S. 36f.

Man kann aus dem Umfange des Seelenlebens etwas herauslösen, das nur in reinen Gedanken besteht. In Gedanken, die in sich bestehen, aus denen alles ausgeschaltet ist, was Wahrnehmung oder leiblich bedingtes Innenleben geben. Solche Gedanken offenbaren sich durch sich selbst, durch das, was sie sind, als ein geistig, ein übersinnlich Wesenhaftes. Und die Seele, die mit solchen Gedanken sich vereinigt, indem sie während dieser Vereinigung alles Wahrnehmen, alles Erinnern, alles sonstige Innenleben ausschließt, weiß sich mit dem Denken selbst in einem übersinnlichen Gebiet und erlebt sich außerhalb des Leibes. [...]
Wie erlangt man...?, GA 10, S. 217ff.

Fazit und Ausblick

Zusammenfassend muss man sagen: Das Konstrukt von Rüdiger Blankertz ist auf der einen Seite trivial und nahezu inhaltslos, auf der anderen Seite durch seine okkulte Pseudo-Esoterik recht suggestiv. In jedem Fall lenkt es von der eigentlichen, realen spirituellen Aufgabe und ihrem Verständnis ab. Die eigentliche Aufgabe ist die Entwicklung des reinen Denkens. Man spaltet sich dabei nicht in eine Handvoll Personen auf dem Schauplatz des eigenen Bewusstseins, sondern man erwirbt sich ein Organ zum Empfangen realer Geist-Erkenntnis. Blankertz redet von „Show-down zwischen Steiner-Kulissen“, aber es ist gerade seine Darstellung, die hohle Kulissen ohne Realität aufbaut.

Blankertz’ Ausführungen sind nicht einmal geeignet, den Streit unter den Anthroposophen zu lindern – im Gegenteil. Seine selbstgewisse Darstellung der zwei Leser-Typen hätte er sich sparen können. Seine Diagnose der Krankheitsformen ist im Prinzip richtig – aber er hat keinerlei Heilmittel, sondern lenkt durch okkulten Nebel gerade von dem realen Weg und Heilmittel ab. Und er macht noch denjenigen Menschen lächerlich, der am klarsten auf diesen Weg hinweist und ihn schon weit beschritten hat. Seine Formulierung, die eine Art der Verführung liege darin, das „fortwährende ‚Glück der Evidenz’ zu erleben“, ist z.B. ein offensichtliches Zitat und eine unmittelbare Spitze gegen Mieke Mosmuller – auch dies zeigt nur wieder, dass er nicht ansatzweise bereit oder fähig ist, ihre Ausführungen nachzuvollziehen.

Einigkeit unter Anthroposophen kann nur aus einer Verwirklichung der Anthroposophie hervorgehen – aus einer Verwirklichung ihrer ersten Grundbedingung: der Fähigkeit eines wirklich reinen Denkens.