31.03.2011

Libyen – und die Doppel(un)moral des Westens

Chronologie – Hintergründe – und eine Phänomenologie zur existentiellen Bedrohung des Menschlichen. | [o] = Quellenlinks.

Inhalt
Wesentliches zur Einleitung
Chronik 1:
Vorgeschichte | Gaddafi an der Macht | Der „Erzschurke“ | Der „Hoffähige“.
Chronik 2: Die Rebellion | Einmischung, Friedensplan, Flugverbotszone? | Die Militärintervention.
Zur Doppelmoral: Aufrüstung und Skandale | Flüchtlingsabwehr | Öl und Wasser
Zur Rolle der Medien
Zum Völkerrecht |
Die deutsche Enthaltung und weitere Positionen
Akteure und Strukturen | Gaddafis „Innenpolitik“ | „Es geht nicht um Demokratie“
Hintergrund-Aufsätze


Wesentliches zur Einleitung

Die vorliegende Zusammenstellung soll diverse wesentliche Hintergründe zum Libyen-Konflikt erhellen. Während in Tunesien und Ägypten keine ausländische Regierung daran gedacht hätte, militärisch zu intervenieren, geschieht dies in Libyen. Während in jenen beiden Ländern zu dem Mangel an Freiheit auch elende soziale Verhältnisse herrschten, sind diese in Libyen sehr viel besser als in den Nachbarländern.

Doch Libyen hat die größten Ölreserven Afrikas, gigantische Wasserreserven – und einen „Erzschurken“ als Herrscher. Und hier tritt wieder einmal die ebenso gigantische Doppelmoral des Westens hervor:

Schon als „Erzschurken“ ließ man Gaddafi gewähren. Der deutsche Geheimdienst informierte die Bundesregierung über deutsche Lieferungen für Giftgasfabriken, jahrelang aber wurde nichts unternommen.

Zahlreichen die Menschenwürde oder sogar das Leben missachtenden Aktionen anderer Staaten stellt sich die Staatengemeinschaft keineswegs entgegen.

Gaddafi war seit mehreren Jahren wieder „rehabilitiert“, war willkommener Geschäftspartner – und vor allem unverzichtbarer Partner für den „Schutz“ Europas vor den afrikanischen Flüchtlingswellen. Das „humanitäre“ Schicksal der Flüchtlinge ist der EU de facto weitgehend gleichgültig.

Die treibenden Mächte (F, GB, USA) handeln nur notdürftig gedeckt vom UN-Mandat, obwohl dieses sehr vage und weitgehend formuliert wurde. Eine Parteilichkeit beinhaltet es nicht, die Großmächte sprechen jedoch ganz offen vom Sturz Gaddafis. Friedliche Konfliktlösungen wurden nicht versucht. Das Völkerrecht wird schleichend zu Grabe getragen, denn Interventionen sind nur möglich, wenn der internationale Frieden bedroht ist oder aber schwere Menschenrechtsverletzungen vorliegen. In Libyen geht es jedoch um einen Konflikt, bei dem alle Parteien bewaffnet sind.

Die Opposition ist zutiefst heterogen, nicht nur in Stämme gespalten, sondern auch in prodemokratische, monarchistische, sezessionistische und islamistische Strömungen (teilweise vom CIA unterstützt). Es ist nicht unwahrscheinlich, dass der Konflikt sich über lange Zeit erstreckt und dann auch NATO-Bodentruppen involviert. Mit Sicherheit werden die islamistischen Kräfte erstarken und die soziale Lage im Land sich verschlechtern, von schlimmeren Szenarien ganz zu schweigen.

Nicht nur die Friedensbewegung weist darauf hin, wie falsch und eskalierend das militaristische Eingreifen ist, auch die deutsche Bundesregierung enthielt sich bei der entscheidenden Abstimmung, ebenso wie Russland, China, Brasilien und Indien. Innerhalb der – zur Legitimation involvierten – Arabischen Liga waren ebenfalls mehrere Länder dagegen und gibt es längst starke Kritik am jetzigen Vorgehen der Westmächte. Die Afrikanische Union lehnte eine Einmischung ausdrücklich ab.

Aber auch Deutschland selbst praktiziert die übliche Doppelmoral: Stimmenthaltung, aber Ausweitung des Afghanistan-Engagements, um die „Bündnispartner“ dort zu entlasten...

Und so offenbart auch dieser Konflikt wieder in unzähligen Aspekten, wie das politische Handeln ganz und gar von Machtkämpfen und Interessen bestimmt ist, während der Verweis auf „Menschenrechte“ und humanitäre Aspekte für die bestimmenden Akteure ein bloßes Feigenblatt ist, welchem durch alles übrige Handeln in Vergangenheit und Gegenwart Hohn gesprochen wird.

Moral und Machtbestrebungen vertragen einander nicht. Entweder es wächst die kompromisslose Wahrhaftigkeit – oder aber die offensichtliche A- und Unmoralität. Das Wesen der Doppelmoral bringt es mit sich, dass man das Böse (amoralisches Machtstreben) in die besten Kleider Hüllen kann – und die Herrschaft der Phrase bewirkt, dass die Akteure dieses Spiel bestens zu spielen wissen. Der eigentliche Mensch koppelt sich immer mehr ab, er verschwindet schlichtweg. Wirkliche Moral setzt voraus, dass der Mensch wieder zu einem inneren Erleben kommt. Statt dass die Idee des Humanitären immer mehr zum völligen Nominalismus wird, müsste das Moralische in all seiner Differenziertheit wieder wahrhaft erlebt werden – um dann auch mehr und mehr gelebt werden zu können.

An diesem Scheideweg entscheidet sich das Schicksal der ganzen Menschheitszukunft.

Die Vorgeschichte

1551 – Die Osmanen erobern Libyen (vom Johanniterorden).

19.Jh. – Der in der Kyrenaika ansässige islamische Orden der Senussi-Bruderschaft strebt nach der Macht.

1896 – Im Italienisch-Äthiopischen Krieg wird Italien in der Schlacht von Adua besiegt.

Anfang 20.Jh. – In Italien verbreitet eine faschistische Gruppe die Propaganda, dass Italien die Vorherrschaft des weißen Mannes in Afrika wiederherstellen müsse [o].

1912 – Die italienische Invasion in Libyen führt zum Ital.-Türkischen Krieg, Italien annektiert das Land. Die Senussi-Bruderschaft bildet den Kern des Widerstands in der Kyrenaika, Guerillakampf von Omar al Mokthar (1931 in Bengasi hingerichtet).

1932 – Mussolini ergreift radikale Maßnahmen, um den Widerstand in Libyen zu brechen. General Rodolfo Graziani: „Wenn die Libyer sich nicht vom Wohlbegründetsein dessen, was ihnen vorgeschlagen wurde, überzeugen ließen, würden die Italiener einen dauerhaften Kampf gegen sie führen und das ganze libysche Volk zerstören müssen, um zum Frieden zu gelangen, zur Friedhofsruhe...“ Senussi-Führer Idris geht nach Ägypten ins Exil und verhandelt mit England. [o]

1951, Dez – Libyen wird unabhängiges Vereinigtes Königreich: Die Nationalversammlung (Mitglieder aus den Provinzen Kyrenaika, Tripolitanien und Fezzan) bestimmt Senussi-Führer Idris as-Senussi zum König. Dieser ist vollkommen von amer.-engl. Hilfen abhängig. Militärabkommen mit den USA, Stationierung von 4.600 US-Soldaten.

1953, Jul – Freundschafts- und Beistandsvertrag mit Großbritannien, Stationierung von 3.000 Soldaten.

1954, Sep – Militärabkommen mit USA, diese dürfen eine Air Base bei Tripolis nutzen, Stationierung von 14.000 Soldaten.

1956, Jul – Suezkrise: Ägypten (Nasser) nationalisiert den Suezkanal, England, Frankreich und Israel greifen an.

1958 – Erste Ölfunde, Förderung ab 1961.

1963, Apr – Libyen wird Einheitsstaat. 

1964, Mär – Libyen beendet nach entsprechender Forderung des ägypt. Ministerpräsident Nasser die Stützpunktverträge mit USA/GB zum Jahr 1971 bzw. 1973.

Gaddafi an der Macht

1969, Sep – Sturz von König Idris durch eine Gruppe junger Offiziere, darunter Oberst Muammar al-Gaddafi, der die Arabische Republik Libyen ausruft und sich an die Spitze des Revolutionären Kommandorates setzt.

1970, Jun – Die brit.-amer. Stützpunkte werden auf Druck der neuen Regierung geschlossen.

1970, Jul – Das erste Ölfeld wird verstaatlicht.

1970, Sep – Ägypten: Tod Nassers, Nachfolger wird Sadat.

70er Jahre – Libyen stellt sich im Tschad gegen Frankreich und unterstützt die Befreiungsbewegung gegen Habré.

1971, Apr – Libyen, Ägypten und Syrien unterzeichnen ihre „Föderation Arabischer Republiken“, die 1973 aber wieder aufgelöst wird.

1973, Apr – Gaddafi proklamiert die „Völkische Revolution“, Bildung zahlreicher „Volkskomitees“.

1973, Jun – Besetzung des Aouzou-Steifens im Tschad (u.a. wegen vermuteter Uranvorkommen).

1973, Sep – Verstaatlichung aller verbliebenen Ölgesellschaften.

1975 – Abkommen mit UdSSR über wirtsch.-techn.-milit. Zusammenarbeit. Gaddafis „Grünes Buch“.

1976, Apr – Blutige Studentenunruhen nach Verbot der Studentenvereinigungen [o o].

1977, Nov – Libyen wird islamische, sozialistische Volksrepublik (Dschamahiriyya).

1978, Aug – In Libyen verschwindet Imam Musa al-Sadr (Libanon), was Gaddafi angelastet wird.

1979, Mär – Gaddafi tritt von allen Staatsämtern zurück, bleibt aber als „Revolutionsführer“ Machthaber.

1980 – Elf Auslands-Libyer sterben eines gewaltsamen Todes.

1984, Mai – Umsturzversuch in der Bab Al-Aziziya-Kaserne, führende Rolle der NFSL.

Gaddafi wird zum „Erzschurken“

1986, Apr – Anschlag auf die Berliner Diskothek La Belle. Die US-Luftwaffe bombardiert Tripolis und Bengasi (101 Tote).

1986, Sep – Entführung von Pan Am Flug 73 in Karachi, 20 Tote. Täter der Abu Nidal Organisation, mutmaßlich von Libyen unterstützt.

1988, Dez – Bombenanschlag auf Pan Am Flug 103 über Lockerbie (GB), 270 Tote.

1989 – Bombenanschlag auf ein franz. Verkehrsflugzeug (UTA Flug 772) mit 170 Toten.

1991, Dez – Auflösung der Sowjetunion.

1993 – Der UN-Sicherheitsrat verhängt Sanktionen, weil Libyen die Auslieferung zweier verdächtiger Agenten verweigert. Diese werden 1999 nach Auslieferung an den Int. Strafgerichtshof ausgesetzt.

1993, Okt – Aufstand des mächtigen Warfallah-Stammes. Es folgen 1995 Schauprozesse und 1997 Hinrichtungen.

2000, Sep – Pogrome gegen afrik. Gastarbeiter, 331 mutmaßliche Täter werden angeklagt.

Gaddafi wird hoffähig

2003, Aug – Libyen übernimmt offiziell die Verantwortung für den Lockerbie-Anschlag und bietet 2,7 Mrd $ Entschädigung.

2003, Sep – Embargomaßnahmen werden vollständig aufgehoben. Libyen bietet wenig später den Opfern von 1989 170 Mio $ und erklärte sich zu Entschädigungen für die Opfer des La-Belle-Anschlags bereit.

2003, Dez – Gaddafi erklärt Verzicht auf Massenvernichtungswaffen und vernichtet zahlreiche C-Waffen-Komponenten.

2004, Mär – Libyen unterzeichnet das Atomwaffensperrvertrag-Zusatzprotokoll und gestattet damit umfassende Kontrollen. Frankreich und England nehmen wieder diplomatische Beziehungen auf.

2005, Jun – In London Gründung der NCLO (National Conference for the Libyan Opposition).

17.02.06 – In Bengasi wird gegen die Mohammed-Karikaturen protestiert. Die auch von der Regierung gewünschte Demonstration wird zum Regime-Protest, es gibt mind. zehn Tote.

2006, Mär – Die USA nehmen wieder diplomatische Beziehungen auf.

2007, Dez – Sarkozy empfängt Gaddafi im Elysée. Die Staatssekretärin für Menschenrechte, Yade, kritisiert, Frankreich sei „kein Fußabtreter, auf dem sich ein Staatsführer ... das Blut seiner Untaten abstreifen kann“ [o]

2008, Sep – „Freundschaftsabkommen“: Italien verpflichtet sich als „Entschädigung für die Kolonialverbrechen“ zur Zahlung von 5 Mrd € innerhalb von 25 Jahren; italienische Firmen erhalten milliardenschwere Aufträge, und Gaddafi garantiert eine sichere Grenze gegen afrikanische Flüchtlinge [o].

2010, Okt – Frankreichs Wirtschaftsminister verhandelt über den Bau von AKWs an Libyens Küste [o].

2011: Die Rebellion

Mitte Jan – Erste Proteste gegen Verzögerungen bei der Errichtung von Sozialbauten.

Ende Jan – Der prominente Schriftsteller Jamal al-Hajji ruft zu Protesten auf und wird darauf verhaftet.

06.02.11 – Gaddafi lässt den Anwalt Ghoga und drei weitere Juristen in sein Zelt in Tripolis holen. Sie sollen den „Facebook-Kids“ die Proteste ausreden, statt mit ihnen zusammenzuarbeiten. Sie jedoch fordern Presse- und Meinungsfreiheit und eine Verfassung. Gaddafi verweigert dies, worauf die vier für den 17.2. den „Tag des Zorns“ in Bengasi ausrufen [o].

12.02.11 – Die Oppositionskonferenz NCLO erklärt den 17.02. über Facebook zum Tag des Zorns [o] und erinnert an die „Märtyrer“ vom 17.2.2006 (s.o.) [o].

15.02.11 – Demonstranten versammeln sich nach Internet-Aufrufen zu Protestmärschen gegen Korruption und Willkür. Es kommt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. In der Nacht löst die Polizei eine Sitzblockade in Bengasi auf, 38 Verletzte; die Demonstranten fordern die Freilassung eines Anwalts (Fathi Terbil) von Familien von 1.200 Toten nach einem Gefängnisaufstand 1996 in Tripolis [o o]. – Die EU empfängt Innenminister Younis in Brüssel, um über 50 Mio € zur Grenzsicherung gegen Flüchtlinge zu sprechen [o].

16.02.11 – Abschluss eines Öl-Joint-Venture zwischen Libyen, Gazprom (Russland) und ENI (Italien). [o]

17.02.11 – „Tag des Zorns“: Demonstrationen in allen großen Städten. Dutzende Tote. Einsatz von Spezialeinheiten und Panzern [o].

18.02.11 – In Bengasi wird der staatliche Radiosender in Brand gesetzt. Demonstranten hängen zwei Polizisten. [o]

19.02.11 – Gaddafi lässt Internet- und Telefonleitungen kappen. [o]

20.02.11 – Die Proteste werden im Osten zum Aufstand: Die Rebellen erobern Bengasi. Schwere Auseinandersetzungen in Tripolis, Darna, Tobruk. – Gaddafi-Sohn Saif al-Islam kündigt in der Nacht in TV-Ansprache Reformen an, lehnt einen Rücktritt Gaddafis ab und droht mit einem Bürgerkrieg „mit tausenden Toten“. Dies facht die Proteste offenbar weiter an. [o]

21.02.11 – Justizminister al-Dschelail tritt aus Protest zurück [o]. Rücktritt oder Hausarrest von Stabschef Yunis Jaber. In Tripolis werden ganze Stadtteile bombardiert.

22.02.11 – In einer 74-minütigen Fernsehrede stellt Gaddafi sich als Freiheitskämpfer dar, die Rebellen seien „Ratten“ und „Gangs“ von Rauschgiftsüchtigen [o]. – Innenminister Younis wechselt zur Opposition. – Der UN-Sicherheitsrat berät die Lage. – Staatsangehörige verschiedener Länder werden auch in den folgenden Tagen in Rettungsaktionen evakuiert. – BBC zeigt, wie Menschen in Bengasi die grüne Landesfahne durch die des 1969 gestürzten König Idris ersetzen.

23.02.11 – Der frühere Protokollchef Al-Masmari bestätigt Al-Jazeera, Gaddafi habe arbeitslose Soldaten aus Kenia, Tschad, Niger und Mali angeworben habe [o], ein Grund für Übergriffe gegen schwarzafrikanische Gastarbeiter [o].

24.02.11 – Gaddafi-Sohn Al-Saadi sagt der FTD im Interview 85% des Landes seien „sehr ruhig und sehr sicher“, sein Bruder Saif al-Islam arbeite derzeit an einer Verfassung für Libyen, Gaddafi werde künftig als Berater einer neuen Regierung fungieren [o]. Al-Islam lädt Medien ein, sich zu überzeugen, dass Bilder von Toten gefälscht seien; Augenzeugen berichten, dass diese nachts abtransportiert wurden. – Der nach Frankreich geflohene Ex-Protokollchef Nouri Al-Masmari sagt, Gaddafi sei vom Militär isoliert. [o]

25.02.11 – Die Rebellen riefen zu einem „Marsch der Millionen“ nach Tripolis auf, heftige Kämpfe in den Vororten [o]. Im bedeutenden Ölhafen Brega und in Tobruk übernehmen Rebellen die Kontrolle. – Die EU-Länder einigen sich im Grundsatz auf Kontensperrungen [Oppositionelle schätzen Gaddafis Vermögen auf 80-150 Mrd $] und ein Waffenembargo [o]. – NATO-Generalsekretär Fogh Rasmussen beruft den NATO-Rat in Brüssel ein; zuvor erklärt er, ein Militäreinsatz sei nicht geplant, weil es dafür keine Anfrage gebe; ein solcher müsse ohnehin von einem UN-Mandat getragen werden. [o]

26.02.11 – UN-Resolution 1970: Allgemeines Waffenembargo. Die USA verhindern eine Passage, dass Gaddafi-Söldner für Kriegsverbrechen an den Internationalen Gerichtshof in Den Haag überstellt werden [o]. – Tripolis: Augenzeugen berichten über Scharfschützenfeuer auf Zivilisten [o]. Auch in Misrata soll mit schweren Geschützen auf Demonstranten gefeuert worden sein [o].

Einmischung, Friedensplan, Flugverbotszone?

27.02.11 – In Bengasi kündigt Ex-Justizminister al-Dschelail die Bildung einer Übergangsregierung an. – Zugleich wird dort der Libysche Nationalrat gegründet (Sprecher der Rechtsanwalt Ghoga). Dieser und auch die Libysche Jugendbewegung (ShababLibya) bezweifeln unter Hinweis auf die noch nicht erfolgte Befreiung die Legitimation einer Übergangsregierung [o]. – Die Städte az-Zawiyya und Misrata im Westen sollen unter Kontrolle der Rebellen stehen. – Die erzkonservativen US-Senatoren John McCain und Joe Lieberman fordern bei einem Besuch in Kairo unverzügliche US-Lieferungen an die libyschen Rebellen. – Der Nationalrat bezeichnet eine Einmischung von außen als „unwillkommen“ [o].

28.02.11 – Auch die EU beschließt ihre Sanktionen. Großbritannien hat bereits 23,4 Mrd € Gaddafi-Guthaben eingefroren. – Obama berät mit UN-Generalsekretär Ban KiMoon über einen „humanitären Korridors“ nach Tunesien und Ägypten. – Laut NYT beraten USA und EU über eine Flugverbotszone, Premier Cameron (GB) bestätigt dies und erklärt, er schließe militärische Gewalt  „in keiner Weise“ aus. – Vier Militärflugzeuge, darunter zwei deutsche, landen völkerrechtswidrig in der libyschen Wüste und evakuieren 132 Europäer. [o].

01.03.11 – Laut US-Verteidigungsminister Gates hat das Pentagon keine Bestätigung, dass Gaddafi die Bevölkerung aus der Luft habe beschießen lassen, er habe das bisher nur Presseberichten entnommen [o].

02.03.11 – Friedensplan von Venezuelas Präsident Chavez: Vermittlung einer internationalen Delegation, Gaddafi sei laut Al-Dschasira einverstanden [o]. Gaddafi-Sohn Saif dementiert: Libyen brauche keine Hilfe von außen. – Die Luftwaffe greift Brega an. – Der Internationale Strafgerichtshof nimmt Ermittlungen gegen Gaddafi und seine Söhne auf.

03.03.11 – Kämpfe um die Kontrolle von Ras Lanuf (hier die wichtigsten Raffinerien), az-Zawiyya und Misrata [o]. – Ein Sprecher des Militärrats der Rebellen, al-Mahdi, fordert von der internationalen Gemeinschaft Luftangriffe und eine Flugverbotszone [o]. – Laut Al-Dschasira stimme auch die Arabische Liga dem Chavez-Plan zu [o]. Reuters meldet, dass Mussa dies dementiert.  – UNHCR meldet 85.000 Flüchtlinge in Tunesien, 77.000 in Ägypten.

04.03.11 – Libyen berichtet die Einnahme von az-Zawiyya [o]. – Der einflussreiche Philosoph und Publizist Bernard-Henri Lévy (Aktionär der „Libération“) trifft in Bengasi Nationalrat-Führer Dschalil und fädelt danach ein Treffen mit Sarkozy ein [o o o].

05.03.11 – Der libysche Nationalrat kommt in Bengasi zum ersten Treffen zusammen, beansprucht alleinige Legitimation und fordert eine Flugverbotszone [o]. – Die Rebellen melden die erneute Einnahme von az-Zawiyya und des Ölhafens Ras Lanuf [o].

06.03.11 – Gegenoffensive Gadaffis: Erneute schwere Kämpfe in Ras Lanuf, Misrata und az-Zawiyya. – In Bengasi werden ein Mitarbeiter des britischen Geheimdienstes MI6 und sieben Soldaten der Spezialeinheit SAS beim Versuch der Kontaktaufnahme mit Rebellen kurzzeitig verhaftet [o o].

07.03.11 – Die NATO beschließt die Ausdehnung der 10- auf eine 24-Stunden-Überwachung [o]. NATO-Generalsekretär Rasmussen: „zu einem Eingreifen bereit“ [o]. – In einem Stern-Interview in Bengasi sagte al-Dschelail, er stehe nicht in Kontakt mit Gaddafi und lehne Verhandlungen ab; er appelliert wieder für eine Flugverbotszone [o]. – UN-Nothilfekoordinatorin Valerie Amos rechnet außer den bereits geflohenen 200.000 mit bis zu weiteren 200.000 Flüchtlingen, weitere 600.000 könnten in Libyen selbst auf Hilfe angewiesen sein [o].

08.03.11 – Schwere Kämpfe um az-Zawiyya. Die Opposition stellt Gaddafi ein 72-Stunden-Ultimatum für den Rücktritt [o]. Das Regime lädt EU und UNO ein, Beobachter zu entsenden [o]. – Rebellen-„Außenminister“ Dschebril spricht sich vor dem Europaparlament für eine Flugverbotszone aus und sagt: „Wir würden jede  Hilfe schätzen, die es dem libyschen Volk ermöglichen würde, dieser Revolution  ein glückliches  Ende zu  setzen“ [o]. – Pressemitteilung des Bundesausschuss Friedensratschlag: „Kein Öl ins Feuer gießen! Flugverbotszone bedeutet Krieg!“ Peter Strutynski kritisiert das Übergehen des Chavez-Friedensplans [o o]. – Laut „Russia Today“ und einem unabhängigen US-Journalisten gab es keine vom Westen behaupteten Luftschläge gegen Zivilisten in Bengasi, dagegen auf ein von Rebellen erobertes Munitionslager [o]. – Der Gulf Cooperation Council (GCC: Saudi-Arabien, Kuwait, Arabische Emirate, Oman, Bahrain, Katar) fordert eine Flugverbotszone und eine Sondersitzung der Arabischen Liga; die Islamische Konferenz (OIC) signalisiert Zustimmung zu Militärinterventionen [o].

10.03.11 – Regime erobert az-Zawiyya, Ras Lanuf und Brega zurück. – Das Europaparlament fordert eine Flugverbotszone (mit Ausnahme der GUE/NGL-Fraktion o). – EU-Außenministertreffen berät die Lage. Westerwelle: Flugverbotszone nur bei UN-Mandat und arabischer Beteiligung [o]. – Die Afrikanische Union lehnt jede ausländische Militärintervention ab [o]. – Sarkozy erkennt die Rebellenregierung offiziell an [o] und will gezielte Luftschläge vorschlagen [o], Deutschland und andere Länder reagieren mit Unverständnis [o].

11.03.11 – UN-Generalsekretär Ban Ki-moon teilt mit, dass er mit dem UN-Sondergesandten für Libyen, al-Khatib, nach Tripolis reisen wird. – Sarkozy teilt mit, der EU-Sondergipfel [o o] habe sich geeinigt, den Nationalen Übergangsrat als Gesprächspartner zu betrachten [o]. – Zu Beginn des Gipfels sagte er, gezielte Militäraktionen kämen nur "rein defensiv" in Frage, z.B. wenn Gaddafi chemische Waffen gegen sein Volk einsetzen sollte [o].

12.03.11 – Regime erobert Ras Lanuf zurück. Die Arabische Liga fordert mehrheitlich eine Flugverbotszone [o] (Kritik kam u.a. von Syrien und Algerien), ohne die es zu einer ausländischen Intervention kommen würde [o]. 13.03.11 – Die Rebellen ziehen sich aus Brega zurück.

14.03.11 – Die Rebellen nehmen Brega wieder ein. Das Regime kontrolliert wieder Zuwara westlich von Tripolis. Ex-Innenminister Fatah Yunis gelobt als neuer Rebellen-Befehlshaber, Adschdabiya (160km südlich von Bengasi) zu verteidigen. – Rebellen-Sprecher: Flugverbotszone wichtig, würde ohne Bodentruppen nicht als Einmischung, sondern Hilfe verstanden [o]. – Westerwelle: Bundesregierung nach wie vor skeptisch gegenüber der militärischen Intervention einer Flugverbotszone [o]. – Die Arabische Liga schickt Truppen nach Bahrain gegen die friedlichen Proteste der schiitischen Oppositionsbewegung [o].

15.03.11 – Laut dem UNHCR fliehen zunehmend auch Libyer nach Ägypten. – Im UN-Sicherheitsrat drängen GB, F und die arab. Staaten weiter auf eine Flugverbotszone, auch wenn der franz. Außenminister Juppé sagte, diese sei „überholt“ [o]. – Auf einem G8-Gipfel in Paris dringt Frankreich mit seinem Vorschlag nicht durch.

16.03.11 – Das Regime verschärft seine Offensive im Osten und Westen. Ban Ki-moon äußert sich besorgt über die Eskalation, eine Militäroffensive auf Bengasi gefährde das Leben zahlreicher Zivilisten. – Westerwelle in Bundestagsdebatte zu Libyen: „Wir wollen und dürfen nicht Kriegspartei in einem Bürgerkrieg in Nordafrika werden“ [o].

Die Militärintervention des Westens

17.03.11 – Adschdabiya ist auf drei Seiten eingeschlossen. Das Regime kontrolliert Misrata erneut. – Nachdem ägypt. Waffenlieferungen an die Rebellen bekannt wurden [o], weist Russland die USA auf die UN-Resolution 1970 hin [o]. – Abends verabschiedet der Sicherheitsrat UN-Resolution 1973 [o]: Sofortiger Waffenstillstand, Flugverbotszone, Schutz der Zivilbevölkerung mit militärischen Mitteln. Enthaltungen von Deutschland, Russland, China, Brasilien, Indien [o]. – Deutsche Sektion der IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges): „Fortsetzung der alten Einflussnahme und Stellvertreterpolitik des Westens“ [o]. – In der Washington Post erscheint ein Artikel von Prinz Mohamed, Großneffe von Ex-König Idris; man brauche jetzt Hilfe [o]. – Neuer Rebellenkommandant wird Khalifa Hifter, der vor wenigen Tagen aus den USA kam, wo er seit 1990 nahe dem CIA Hauptquartier lebte und 1996 einen Putschversuch der NFSL geleitet haben soll [o o].

18.03.11 – US-UN-Botschafterin Susan Rice: Bei sorgfältigem Lesen könne man zu dem Schluss kommen, dass Waffenlieferungen an die Aufständischen nicht ausgeschlossen werden [o]. – Libyens Vize-Außenminister Khaled Kaim zum Waffenstillstand: „Wir sind sofort bereit, das zu tun, doch wir müssen zunächst mit jemandem über die technischen Details verhandeln“, dem UN-Gesandten habe man „legitime Fragen zur Umsetzung“ gestellt [o]. Nachts erklärt Außenminister Mussa Kussa einen sofortigen Waffenstillstand und die Einstellung aller Kampfhandlungen [o]. – Vor allem London und Paris drängen auf rasche Einrichtung einer Flugverbotszone. – Merkel erwägt, die NATO in Afghanistan zu entlasten (Einsatz deutscher Soldaten bei AWACS-Aufklärungsflügen) [o]. – Gabriel (SPD) und Trittin (Grüne) loben Westerwelles Enthaltung zunächst, kritisieren sie aber schon einen Tag später [o].

19.03.11 – Die Rebellen in Misrata, Adschdabiya und Bengasi sollen weiter angegriffen worden sein [o]. Kaim wiederum wirft den Rebellen eine Missachtung der Waffenruhe vor [o]. – Gaddafi erklärt in einem Brief an Sarkozy, Cameron und Ban Ki-moon das Flugverbot für ungültig, Resolution 1973 stünde im Widerspruch zur UN-Charta [o]. – Ein Sondergipfel in Paris „zur Unterstützung des libyschen Volkes“ beschließt, das Flugverbot durchzusetzen [exakt acht Jahre nach Beginn des Irakkrieges 2003, und am 24.3.1999 begann der Kosovokrieg] [o]. Bereits vor Ende der Konferenz wird der Beginn des Einsatzes französischer Kampfflugzeuge bekanntgegeben, kurz danach greifen auch USA und GB ein.

20.03.11 – China und Russland distanzieren sich vom Militäreinsatz [o]. Moskau nimmt Bezug auf Berichte über die am Vortag getöteten und verwundeten zivilen Opfer und zerstörte Infrastruktur [o]. – Der Generalsekretär der Arabischen Liga, Amr Mussa (Ägypten), kritisiert die Raketenschläge und Luftangriffe ebenfalls [o], erklärt aber am 21.03. auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Ban Ki Moon in Kairo, es gebe wegen der UN-Resolution keinen Konflikt.

21.03.11 – Der Anführer von Al-Qaida im Maghreb, Abdelmalek Drukdel, fordert die Menschen in Tunesien, Ägypten und Algerien zur Unterstützung ihrer „libyschen Brüder“ im Kampf gegen Gaddafi auf [o]. – Putin äußert, die UN-Resolution erinnere ihn an einen mittelalterlichen Aufruf zum Kreuzzug; Russlands Präsident Medwedew kritisiert Putins Äußerungen. – Westerwelle: Deutschland wird sich am Einsatz definitiv nicht beteiligen, da „dieser Krieg auch erhebliche Risiken in sich birgt, nicht nur für Libyen selbst, sondern auch für die Region insgesamt“ [o]. – In der brit. Presse heißt es, Bodenkommandos seien in Libyen gelandet, um die Luftangriffe zu koordinieren [o].

22.03.11 – UN-Sonderbeauftragter Al-Khatib trifft in Tobruk al-Dschelail und andere Rebellenvertreter [o]. Die Lage in Adschdabiya bleibt unklar. – Brasilien fordert eine schnellstmögliche Waffenruhe, China ähnlich.

23.03.11 – Der brit. Kommandant Bagwell erklärt, die libysche Luftwaffe ist ausgeschaltet; man würde die Bodentruppen angreifen, „wann immer sie Zivilisten bedrohen oder sich besiedelten Zentren nähern“. – Der „Finanzminister“ des Übergangsrates gibt gegenüber der NYT zu, dass die Rebellen nur 1.000 ausgebildete Soldaten haben. [o]

24.03.11 – Die „Hürriyet“ meldet: „Frankreich bombardierte eine Friedenslösung“. Die türkische Regierung habe hinter den Kulissen mit Gaddafis Regierung und der Opposition gesprochen. Erdogan wirft dem Westen vor, es gehe ihm in Wahrheit um das Öl und man gehe mit „Kreuzzug“-Mentalität gegen Libyen vor [o]. – In einem Interview mit einer ital. Zeitung sagt ein Rebellenführer, Abdel-Hakim al-Hasidi, er habe in Afghanistan gekämpft und Al-Qaida-Mitglieder seien gute Muslime [o].

25.03.11 – Der Bundestag beschließt bis zu 300 weitere Soldaten für AWACS-Aufklärungsflüge in Afghanistan, um die NATO für Libyen zu entlasten; Westerwelle: „Bündnispolitik der Vernunft“ [o]. 

26.03.11 – Adschdabiya wird mit Hilfe der Luftangriffe von den Rebellen zurückerobert [o], ebenso Brega.

27.03.11 – Die Rebellen übernahmen die Kontrolle über Ras Lanuf und andere Ölhäfen und stehen damit wieder soweit westlich wie vor der am 6.3. gestarteten Gegenoffensive [o o]. – Mussa fordert erneut eine Waffenruhe und eine Sondersitzung des UN-Sicherheitsrates [o].

28.03.11 – Als erstes arabisches Land anerkennt Katar den Nationalrat. Tags davor hatte es einen Vertrag angekündigt, wonach es die Vermarktung des in Ost-Libyen geförderten Öls übernehmen werde [o]. – Russlands Außenminister Lawrow kritisiert, das UN-Mandat spreche nicht von Parteilichkeit [o]. – Die Nachrichtenagentur RIA-Nowosti zitiert die Befürchtung eines Geheimdienstlers, die NATO werde Anfang Mai eine Bodenoperation starten, wenn Gaddafi bis dahin nicht kapituliert hätte [o].

29.03.11 – In London beraten über 40 Außenminister über den Krieg und die Zukunft Libyens. – Gaddafi betont, er werde Entscheidungen der Afrikanischen Union akzeptieren. – Nationalrat-Chef al-Dschelail sichert für den Fall einer Machtübernahme zu, die „illegale Einwanderung“ nach Europa (wie bisher) zu bekämpfen [o].

30.03.11 – Die NATO übernimmt das Kommando über die internationalen Militäroperationen [o]. – Gaddafis Truppen stoßen weiter nach Osten vor und erobern Brega. Auch Ras Lanuf müssen die Rebellen räumen. Der Übergangsrat bittet erneut um Waffenlieferungen. Obama zeigt sich dafür offen, Hillary Clinton meint, die neue Resolution habe das vorherige Waffenembargo außer Kraft gesetzt, NATO-Generalsekretär Rasmussen lehnt dies mit Hinweis auf die UN-Resolution strikt ab: „Unsere Aufgabe ist es, Menschen zu schützen, nicht, sie zu bewaffnen.“ Auch England plant dies nicht. Russland und China fordern sofortige Waffenruhe [o o]. – Gaddafis Außenminister und langjähriger (1994-2009) Auslandsgeheimdienstchef Kussa wird von Tunesien aus nach London geflogen. Cameron soll zugegeben haben, dass man seit einigen Wochen im Gespräch war [o]; der Geheimdienst MI6 war involviert [o].

31.03.11 - Die USA geben den Einsatz von CIA-Agenten zu; die Rebellen könnten ohne Hilfe nicht gewinnen. Auch britische Agenten und Spezialeinheiten sind vor Ort [o].

02.04.11 – Focus erfährt von einem US-Regierungsmitarbeiter, mit Wissen der USA hätten vor einigen Tagen ägypt. Waffenlieferungen an die Rebellen begonnen. Die Aktion solle geheim bleiben, man wolle sich neutral verhalten. Der BND hat hinweise, dass der Iran den Fuhrpark der Rebellen mitfinanziere [o].

03.04.11 – Cameron (GB) entsendet eine Delegation nach Bengasi, um mit den Aufständischen über eine Waffenruhe und eine Regierung nach Gaddafi zu sprechen. Die Rebellen dringen in Misrata vor, die Armee in Brega [o].

[...]

25.04.11 – Nato-Kampfflugzeuge greifen Gaddafis Bab al-Azizyah-Komplex in Tripolis an, seine Büros, Bibliothek und Konferenzräume werden zerstört, ebenso aber auch die Gebäude des libyschen Staatsfernsehens [o].

26.04.11 – Der britische Verteidigungsminister Liam Fox und Generalstabschef David Richards trafen sich im Pentagon mit ihren US-Kollegen Robert Gates und Mike Mullen, um weitere Zielobjekte zu beraten. Außenminister William Hague (GB) warnte das Kabinett, es müsse sich auf „einen langen Weg vorbereiten“. Fox sagte der Daily Mail: „Wenn das Regime weiter Krieg gegen sein eigenes Volk führt, dann müssen die an den Schalthebeln Sitzenden erkennen, dass wir sie als legitime Ziele betrachten.“ Die New York Times zitiert Pentagon-Sprecher, es habe sich um ein „legitimes militärisches Zielobjekt“ gehandelt. „Im Moment fliegen die in Libyen eingesetzten bewaffneten Predator-Drohnen nur über Städten, die von den Rebellen gehalten und von Regierungstruppen angegriffen werden, aber nicht über der Hauptstadt.“ Nato-Sprecher werden zitiert, dass die Bombenkampagne „einem sorgfältig geplanten Schritt-für-Schritt Vorgehen folgt, das an der Front begann, dann auf die mittlere Ebene der Nachschublinien ausgedehnt wurde und jetzt die Etappe, vor allem in der Hauptstadt, erreicht, wo die zentralen Kommando- und Einsatzzentralen liegen.“ General John Jumper sagte der Times, der Luftkrieg werde sich auf die „Lehren“ der Kosovo-Intervention stützen. Damals war das Ziel der Bombardierung, „das Leben der Mittelschichten in Belgrad zum Stillstand zu bringen“ [!], um Teile des serbischen Regimes gegen Milosevic aufzubringen. Auch Berlusconi, der noch am 15.4. erklärte, Italien werde angesichts der geografischen Position und der kolonialen Vergangenheit keine Gewalt gegen Libyen anwenden, schließt sich nach einem Telefonat mit Obama nun den Angriffen an. Laut Außenminister Frattini geschehe dies auf Wunsch des Nationalen Übergangsrats in Bengasi, dessen Chef Dschalil vergangene Woche in Rom war [o]. – In ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE gibt die Bundesregierung zu, „keine detaillierten Informationen über Angriffe der libyschen Luftwaffe auf Zivilisten“ zu besitzen. Auch wird deutlich, dass die Rebellen die Flugverbotszone nicht einhielten und die NATO am 9.4. einen Kampfjet abfing. Einige Tage zuvor kritisierte auch die zurückgekehrte erste internationale Delegation aus Menschenrechtlern und Journalisten massiv die Lügen und Behauptungen der westlichen Kriegsallianz [o]. 

10.05. – Seit Beginn der Kämpfe haben 746.000 Menschen das Land verlassen. Uno-Nothilfekoordinatorin Valerie Amos fordert in einer Botschaft an den UN-Sicherheitsrat eine Feuerpause, um humanitäre Hilfe zu ermöglichen. Das UNHCR kritisiert, die Nato habe nicht geholfen, als am 6.5. vor Tripolis ein Boot mit 600 Menschen kenterte [o].

Zur Doppelmoral

Gegen die Verbrechen von Mubarak in Ägypten, gegen das Vorgehen Israels im Gazastreifen oder die repressiven Regimes von Saudi-Arabien und ähnlichen Staaten wurde kein substantieller Einwand erhoben...

Drei Tage vor der UN-Resolution, die unter wesentlicher Beteiligung der Arabischen Liga verabschiedet wurde, hatte diese Truppen nach Bahrain geschickt, um dort friedliche Proteste der schiitischen Opposition zu bekämpfen.

In der UN-Resolution verhinderten die USA eine Passage, dass Gaddafi-Söldner für Kriegsverbrechen an den (von ihnen selbst boykottierten) Internationalen Gerichtshof in Den Haag überstellt werden [o].

Gerade arabische Zeitungen, etwa „Al-Safir“ (Beirut) oder „Al-Shuruq“ (Kairo) kritisieren die westliche Koalition, v.a. Frankreich, heftig (ohne Gaddafi zu verteidigen) und fragen, wo bei der saudischen Invasion in Bahrain und den Massakern im Jemen die Empörung geblieben sei. Auch wird darauf verwiesen, dass Frankreich offensichtlich plane, den Osten Libyens abzuspalten. [o]

„In den fünfziger Jahren macht ein Witz im Weißen Haus die Runde, im Inneren der Eisenhower-Administration, der sich dann unter Reagan zu einer regelrechten politischen Theorie entwickelte. Wie unterscheidet man die guten von den schlechten Arabern? Ein guter Araber macht das, was ihm die Vereinigten Staaten sagen. Als Gegenleistung bekommt er Flugzeuge, man erlaubt ihm, sein Geld in der Schweiz anzulegen, er wird nach Washington eingeladen usw.“ [o]


Deutschland enthält sich im Sicherheitsrat bezüglich der Flugverbotszone, unterstützt die NATO aber durch Aufstockung seiner Afghanistan-Soldaten. Zudem werden alle US-Militäroperationen in Afrika vom US-Regionalkommando AFRICOM mit Sitz im schwäbischen Möhringen koordiniert (ehemaliges Wehrmachts-Kasernengelände). [o]

Für den radikal-pragmatischen Sarkozy dienen seine vorpreschenden Aktionen dazu, Frankreichs Einfluss im Mittelmeerraum erneut zu festigen. Mubarak und Ben Ali waren Stützpfeiler des bisherigen Systems, die Revolutionen in Ägypten und Tunesien wurden sozusagen „verschlafen“. Außenministerin Alliot-Marie (inzwischen zurückgetreten) bot Diktator Ben Ali sogar noch französisches Know-how zur Wiederherstellung der Ordnung an [o].

Aufrüstung und Skandale

1989 berichtet der Stern über deutsche Lieferungen für eine Giftgasfabrik in Rabta. Nach wochenlangem Leugnen muss die Regierung Kohl ihre Verstrickung eingestehen. Die Lieferungen kamen v.a. von Imhausen-Chemie (Lahr, Schwarzwald), die Pläne stammten jedoch von der Salzgitter Industriebau GmbH (SIG), einer Tochterfirma der bundeseigenen Salzgitter AG. Zur Vertuschung lieferte die SIG an eine Briefkastenfirma in Hongkong. Auch die staatliche Preussag AG und Thyssen waren involviert. Die Bundesregierung war seit 1985 u.a. durch BND-Berichte ausführlich informiert. Niemand im Salzgitter-Konzern wurde belangt, der Imhausen-Firmenchef musste von fünf Jahren Haft nur einen Teil absitzen, die rund 60 Mio DM Gewinn wurden nicht eingezogen. [o]

1993 Der CIA musste den BND auf weitere deutsche Lieferungen für eine Giftgasfabrik in Tarhuna bei Rabta hinweisen [o].

1996 flog ein weiteres Giftgasfabrik-Projekt auf, über das der BND die Bundesregierung mehr als fünf Jahre lang informiert hatte. Im Zentrum standen die Firmen IDS und CSS in Mönchengladbach. Unternehmer Berge Balanian entzog sich der Justiz durch Flucht nach Libyen. [o]

2007 erhielt der franz.-deutsche Rüstungskonzern EADS aus Libyen einen Großauftrag in Höhe von 168 Mio € für panzerbrechende Raketen. Zwischen 2008 und 2009 erhöhte die Merkel-Regierung den Genehmigungswert deutscher Rüstungs-Direktexporte nach Libyen auf das Dreizehnfache [o], 2009 Waffen im Wert von 53 Mio € geliefert [o]. Die größten Waffenlieferanten sind Russland, Großbritannien, Frankreich und Deutschland [o].

2008 wurde bekannt, dass Angehörige der Bundeswehr, der GSG 9 sowie von Länderpolizeien „im Urlaub“ und per Kontrakt mit einer Privatfirma jahrelang libysche Spezialeinheiten schulten; der BND „wusste“ von nichts. Rainer Brüderle (FDP) wollte einen Untersuchungsausschuss, der aber nicht beschlossen wurde. [o o]

Seit 2007/08 hatte die Münchner Kripo Gaddafi-Sohn Saif al-Arab al-Gaddafi beim Waffenschmuggel beobachtet. Die Staatsanwaltschaft unterband weitere Schritte. Münchens Polizeipräsident legte die Sache Anfang 2011 bei einem Essen mit libyschen Diplomaten im Bayerischen Hof bei. [o]

2008 verkaufte der US-Rüstungskonzern General Dynamics über seine britische Tochter Kommunikationstechnologie für 166 Mio $ an Gaddafis Eliteeinheiten. [o]

2009 erklärte das britische Außenministerium, es existiere „eine ständige Zusammenarbeit mit Libyen auf dem Gebiet der Verteidigung“. Auf der libyschen Rüstungsmesse Lavex präsentierte EADS den Kampfhubschrauber Tiger und berichtete noch in Tripolis von „neuen erfolgreichen Vertragsabschlüssen“. Der damalige Verwaltungsratschef Rüdiger Grube – wenige Wochen später Deutsche Bahn Chef! – formulierte die EADS-Geschäftsphilosophie so [o]: „Deutschland ist als Exportland erfolgreich. Und Export machen wir nicht mit Bratpfannen und Fahrrädern, sondern mit anspruchsvollen Produkten und Höchsttechnologie.“ [o]

Flüchtlingsabwehr

In den letzten fünf Jahren starben 1000e Bootsflüchtlinge auf dem Weg nach Europa, über 10.000 wurden zwangsweise in Drittstaaten wie Libyen, Marokko, Mauretanien, Türkei zurückgebracht. Kamen 2008 ca. 70.000 lebend an Europas Küsten an, waren es 2009 nur noch 45.000, 2010 gab es kaum noch Berichte. In Libyens Auffanglagern kam es regelmäßig zu Vergewaltigungen, Folter und Ermordungen – so das Europäische Parlament am 17.6.2010. 24 Flüchtlingen, die im Mai 2009 durch die italienische Küstenwache nach Libyen verschleppt wurden, gelang es, Klage am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu erheben. Brüssel jedoch verhandelte mit Libyen seit 2008 über ein „Kooperations- und Partnerschaftsabkommen“. Libyen wird laut Pro Asyl mit Schiffen, Grenzüberwachungstechnik, Leichensäcken und Geldern für Abschiebungsflüge beliefert [o]. Brüssel sagte noch 2010 50 Mio € Hilfe zur Flüchtlingsabwehr zu und empfing am 25.2.2011 den Innenminister für weitere Gespräche [o]!

Öl und Wasser

Libyen besitzt Afrikas größte Ölreserven (44,3 Mrd Barrel) und ist derzeit Afrikas drittgrößter Öllieferant. Eigene Förderstätten haben RWE und die BASF-Tochter Wintershall, ebenfalls präsent sind ENI (Italien), Repsol (Spanien) und OMV (Österreich). ENI und Gazprom (Russland) arbeiten seit langem eng zusammen. Am 16.2.2011 schlossen beide ein Joint Venture mit Libyen und erhielten ein Drittel des sehr großen Ölvorkommens „Elefantenfeld“ zur Förderung. Italien bezog 50% seiner Öl- und Gasimporte aus Libyen; als ENI in der Krise die Gasförderung einstellen musste, erhöhte Russland seine täglichen Lieferungen um 50%. [o]

Im Süden Libyens gibt es vier große Wasserreservoirs (35.000 Mrd cbm, entspricht der Fläche Deutschlands mit 100m Wassertiefe). Bei einem Preis von nur 2 €/1000l liegt der Wert bei 58.000 Mrd Euro! 1980 begann Gaddafi mit dem Man made river project zur Wasserversorgung für Libyen, Ägypten, Sudan und Tschad. Am 1.9.2010 wurde nach 30 Jahren der erste Großabschnitt in Betrieb genommen [o]. Es wurden über 14 Mrd $ investiert, allein 85 deutsche Firmen haben mitgewirkt [o].

Roland Etzel vermutete schon am 23.02.:

[In jedem Fall] darf angenommen werden, dass nicht allein die Machtstruktur im Lande selbst, sondern auch der geopolitische Standort des Ölexport-Riesen Libyen neu bestimmt wird, und alle Mächte, die im Mittelmeerraum Einfluss haben bzw. erstreben, werden versuchen, in Tripolis Pflöcke einzuschlagen. [o]

Zur Rolle der Medien

Es handelt sich in Libyen nicht um „Menschenrechtsverletzungen“, sondern um den Aufstand einer Oppositionsbewegung bzw. um einen Bürgerkrieg mit beidseits bewaffneten Lagern. Sehr bezeichnend ist folgender Bericht [o]:

In einem Sonderbericht aus Bengasi und Tripolis zeigte RT [Russia Today] am Montag (7. März) darüber hinaus, daß derzeit das Leben in den beiden Hauptstädten friedlich verläuft. Beide liegen Hunderte Kilometer von der Frontlinie der sich bekämpfenden Lager entfernt. Bengasi gleicht laut RT einer Urlauberstadt am Meer, in der Kinder am Strand spielen und die Menschen in Ruhe ihren Einkäufen nachgehen. Die Straßen sind belebt, Angst vor Luftangriffen herrscht offenbar nicht. Allerdings werden die RT-Journalisten Zeugen, wie ein Al-Dschasira-Team auf einer etwas erhöhten Terrasse seine Kamera aufbaut und ein Mitarbeiter die Menschen auf dem Platz auffordert, nach vorn zu kommen um Anti-Ghaddafi-Parolen zu rufen. Der Al-Dschasira-Mann führt wie ein Dirigent Regie, während die Kamera die „Wut“ der Massen in Bildern einfängt, die später um die Welt gingen.
Janan Moussa, eine junge Korrespondentin für die Nachrichtenagentur Al Aan Network aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, die in den letzten Tagen eigenen Angaben zufolge Hunderte von Kilometern die Rebellen an die Front begleitet hatte und dabei auch unter Beschuß gekommen war, erklärte gegenüber RT, sie verstehe die Empörung ihrer westlichen Kollegen nicht: „Wir sind hier im Krieg.“ Beide Seiten seien schwer bewaffnet. „Es gibt eine Front, und dort wird geschossen“. Da müsse man mit Opfern rechnen. Aber die westlichen Journalisten hätten in ihrer Berichterstattung jede Verhältnismäßigkeit verloren.
Ähnlich äußerte sich die RT-Korrespondentin in Bengasi: Die westlichen Journalisten seien „nicht nur Teil der Entwicklungen hier, sondern die eigentliche Kraft, die diese Entwicklungen vorantreibt“. Sie seien nicht daran interessiert, „wie man Blutvergießen und Gewalt verhindern“ könne, sondern sie „fordern geradezu mehr davon“. 

Zum Völkerrecht

Der UN-Sicherheitsrat kann nur bei Gefährdung der internationalen Sicherheit und des internationalen Friedens Maßnahmen ergreifen (Ausnahme: R2P, s.u.). Die Resolution 1973 gibt nicht genau an, worin diese besteht. In der Resolution sind nur Besatzungstruppen verboten. Dies schließt nicht Kommandos aus, die nur für kurze Zeit eine Mission verrichten, etwa verdeckte Operationen. [o]. Es besteht keine Einigkeit über das politische Ziel: Soll das Gaddafi-Regime beseitigt werden? Soll die Opposition geschützt werden? Wovor und wie lange? Und: Von „Besatzungstruppen“ (foreign occupation force) wird auch im Irak oder in Afghanistan niemals gesprochen... [o]

Die Vertreter Russlands, Chinas und Indiens kritisierten am 17.3., die Beschlussvorlage lasse entgegen der üblichen Arbeitsweise viele aufgetauchte Fragen unbeantwortet. Indiens Vertreter bedauerte, dass nicht einmal der Bericht des Sonderbotschafters abgewartet wurde [o]. Russland hatte sicher auch den Raketenvertrag mit den USA im Auge [o]. Libyens Vorschlag von UN-Beobachtern ab wurde von Generalsekretär Ban Ki-Moon abgelehnt.

Völkerrecht und Menschenrechtsverletzungen [o]

Im April 1991 hatte der Sicherheitsrat im Irak zum ersten Mal schwere Menschenrechtsverletzungen zu bekämpfen: In Resolution 688 behauptete er, Husseins Repression gegen die Kurden bedrohe den internationalen Frieden und die Sicherheit in der Region. Die Chinesen konnten durch den in der Tat großen Flüchtlingsstrom nach Syrien und Iran zur Stimmenthaltung bewegt werden.

Im Dezember 1992 ging es in Somalia darum, die allgemeine Gewalt gegen die Zivilbevölkerung einzudämmen und Hilfslieferungen zu ermöglichen. Resolution 794 ermächtigt die Entsendung einer multinationalen Streitmacht und begründet dies nur noch mit der verzweifelten Situation der Menschen. Eine Befriedung gelang nicht, der US-Einsatz endete im Desaster.

Im Dezember 1994 ermächtigte Resolution 940 in Haiti eine „multinationale“ Truppe, den von einem Militärregime gestürzten Präsidenten Aristide wieder einzusetzen. Es ging um die „Wiederherstellung der Demokratie“, eine Gefährdung des Weltfriedens wurde mit keinem Wort erwähnt.

1999 wurde die so etablierte „humanitäre Intervention“ sogleich missbraucht, der Sicherheitsrat umgangen. UN-Generalsekretär Kofi Annan richtete eine Kommission ein, die Alternativen aufzeigen sollte. Das Ergebnis war 2001 die „Responsibility to Protect“ (R2P) [o], zu der sich 2005 auch die UN-Generalversammlung bekannte. Bei schweren Menschenrechtsverletzungen sind nun Eingriffe in die staatliche Souveränität möglich. [o]

Die deutsche Enthaltung und weitere Positionen

Sowohl die Kommentare von Oppositionspolitikern als auch solche in den Medien sind entlarvend:

DIE ZEIT: „Der Konflikt in Libyen hat das Potenzial ein langer und schmutziger Krieg zu werden. [...] [E]ine große Mehrheit der Bevölkerung lehnt eine deutsche Beteiligung ab. Das aber kann kein Leitmotiv verantwortungsvoller Außenpolitik sein.“ („Deutschlands feige Außenpolitik“) [o]

ND kommentiert: „Wir lernen: Verantwortungsvolle Außenpolitik hat nichts mit der Meinung des Souveräns zu tun.“ [o]

SZ: „Es ist eine beschämende und politisch desaströse Haltung der Koalition in Berlin, dass sie sich dieser Resolution nicht angeschlossen hat. [...] [D]as  wird als ein Tiefpunkt deutscher Staatskunst in die Geschichte eingehen.“ [o]

Trittin (Grüne) kritisiert im ZDF-Morgenmagazin: „Man hätte die Bedenken durch einen Resolutionsanhang zum Ausdruck bringen können.“

ND kommentiert: „Das ist ein scharfer Standpunkt – Ja zum Krieg, mit Bedenken im Anhang. Dahin, wo der Lauf militärischer Interventionen nicht weiter aufgehalten wird. Man müsse ‚dem Krieg seine Selbstverständlichkeit als Mittel der Politik entziehen’, heißt es im geltenden grünen Grundsatzprogramm von 2002. Und: ‚Geschichtliche und aktuelle Erfahrungen mit Militär, Rüstung und Krieg begründen, warum wir jede Militärfixiertheit und militärgestützte Machtpolitik ablehnen.’ Aufrichtig wäre es, wenn die Grünen dies streichen – oder einen Anhang daraus machen.“ [o]


Auch Brasilien, Indien, Russland und China enthielten sich im Sicherheitsrat!

Die Westmächte warteten in Bezug auf eine Intervention ausdrücklich auf eine arabische Beteiligung. Die Forderung nach einer Flugverbotszone wurde dann zuerst vom Golfrat erhoben, einem Zusammenschluss von sechs repressiven Staaten, vier Tage später von der Arabischen Liga. Auch hier waren z.B. Syrien und Algerien gegen eine solche. Im Entschluss der Liga heißt es (nach der Forderung einer Flugverbotszone) in merkwürdigem Zirkelschluss, man würde jede ausländische Intervention ablehnen, ohne gewaltsame Durchsetzung einer Flugverbotszone käme es aber zu einer solchen...

Auch die Afrikanische Union äußerte sich klar gegen jede Militärintervention.

Akteure und Strukturen

Libyens Bevölkerung besteht aus ca. 140 Stämmen und Clans, davon sind 10 grenzübergreifend. Gaddafi hatte viele Stämme bzw. Anführer sozusagen aufgekauft. Stellenweise hatte es bei einzelnen Schritten der Regierung Gegenwehr gegeben, die in der Regel brutal unterdrückt wurden. Nun aber kommt es zum flächendeckenden Widerstand, und die Loyalität tritt wieder stark hervor. [o o]

Auch die religiösen Orden, die es seit dem 19. Jahrhundert v.a. im Osten gibt, treten wieder stärker hervor. Gaddafi hatte den Koran im Lichte seines „Grünen Buches“ auf seine Weise interpretiert. Die religiösen Strömungen haben das nicht mitgemacht und wandten sich schon sehr früh von Gaddafi ab. Einige Elemente wandten sich dem islamistischen Lager zu, die Orden und Bruderschaften dagegen haben sich einfach zurückgezogen. [o]

Die islamistische NFSL (National Front for the Salvation of Libya) ist eine Exilgruppe. [o o], Generalsekretär Ibrahim Sahad: ehem. Kommandeur unter Gaddafi, aber schon seit den 80ern in den USA lebend und für diverse Anschläge und 1984 einen Putschversuch verantwortlich, zumindest damals vom CIA finanziert und trainiert. Ende November 1993 war Sahad führender Teilnehmer einer vom Washingtoner Center for Strategic and International Studies (CSIS) organisierten Tagung von Exil-Libyern, die sich über Wege zum Sturz des Regimes austauschten. In einer Zusammenfassung heißt es: „Unglücklicherweise haben wir bisher nicht versucht, die Erhebungen des Volkes im Lande zu begreifen und auf ihnen aufzubauen.“ [o].

Die islamistische LIFG (Libyan Islamic Fighting Group) wurde von ehemaligen Mudschaheddin gegründet, die in Afghanistan unter Anleitung der CIA die sowjetischen Truppen bekämpft hatten. Sie lieferten sich schon 1995-96 in Bengasi und Derna Gefechte mit den Sicherheitskräften [o]. US-Quellen sehen Verbindungen zu Al Qaida [o].

Libysche Verfassungsunion: Anhänger der alten Monarchie, geführt vom Enkel des letzten Königs, Kronprinz Mohammed al-Senousi (48), der seit langem in den USA lebt. [o].

Die NCLO (Nationale Konferenz der Libyschen Opposition) wurde nach einigen Vortreffen im Juni 2006 in London gegründet, die Mitglieder: NFSL, Nationale Allianz, Republikanische Koalition für Demokratie und Gerechtigkeit, Libysche Nationale Front, Libysche Bewegung für Wandel und Reform, Islamische Koalition [o].

Der „Nationale Übergangsrat Libyens“ [o]

Vorsitz: Mustafa Abdul Dschalil (59). Bis 21.02. Justizminister; stammt aus der Hafenstadt Al Bayda, deren Einwohner griechische und afrikanische Wurzeln haben, wo aber auch Ägypter und Berber leben. Das Leben ist von einem traditionellen sunnitischen Islam geprägt.
Außenbeziehungen: Mahmoud Dschibril (59). Ehemaliger Wirtschafts- und Planungsminister. Hat in den USA promoviert und als Professor in Pittsburgh gearbeitet. Mit anderen Intellektuellen gründete er das Projekt „Vision für Libyen“. 2005 ging er zurück nach Libyen, wurde Vorsitzender des Nationalen Planungsrates und 2009 Vorsitzender des Gremiums für die nationale ökonomische Entwicklung. [o].
Außenbeziehungen: Ali Al-Issawi. Ehemaliger Wirtschaftsminister und Generaldirektor der Privatisierungs-Behörde, entlassen wegen Kritik am zu langsamen Tempo der Reformen, zuletzt Botschafter in Indien [o].
Sprecher:
Abdul Hafez Ghoga. Menschenrechtsanwalt aus Bengasi, der zunächst einen eigenen Interimsrat gegründet hatte.
Militär: Omar al-Hariri (67). Aus Tobruk. War 1969 am Sturz Königs Idris beteiligt, wollte 1975 Gaddafi stürzen und wurde inhaftiert, 1990 in den Hausarrest entlassen.
Finanzen: Ali Tarhouni, lebte 35 Jahre in den USA, Professor für Ökonomie in Washington, kehrte erst Ende Februar nach Libyen zurück.

Kommandierender General: Khalifa Hifter, Rebellenkommandant seit Mitte März, kam wenige Tage zuvor aus den USA, wo er seit 1990 nahe dem CIA Hauptquartier lebte und 1996 einen Putschversuch der NFSL geleitet haben soll [o o].

Generalstabschef: Abd al-Fattah Younis, war lebenslang bedingungsloser Gefolgsmann Gaddafis, 41 Jahre lang Chef der Spezialkräfte, seit 2007 auch Innenminister; nach einer Woche Aufstand weigerte er sich, Bengasi zu bombardieren [o].


Gaddafis Innenpolitik


In Libyen beträgt das BIP pro Kopf rund 10.000 $ (Tunesien: 4.000, Ägypten: 2.500).
Es gibt keine ernsthafte, weitreichende Armut, dagegen kostenlose medizinische Versorgung, gute Systeme der Alterssicherung und ein entwickeltes Bildungssystem [o].

„Und wir haben gesehen, dass unglaublich viel gebaut wird. Am Stadtrand, mitten im Nichts stellen da chinesische Baubrigaden riesige Siedlungen hin, natürlich ohne Infrastruktur. Denn vereinfacht gesagt, funktioniert Libyen so: Auf der einen Seite gibt diesen monströsen Repressionsapparat und auf der anderen ein System von Wohltaten aller Art. Diese Neubauwohnungen gehören dazu, sie können extrem billig und mit zinsfreien Krediten gekauft werden, die unter Umständen nicht einmal zurückbezahlt werden müssen, die Grundnahrungsmittel werden subventioniert, der Sprit, Arbeitslose werden für Jobs bezahlt, die gar nicht existieren. Solche netten Zuwendungen sind besonders im Osten wichtig, um die Leute dort bei Laune zu halten. Dieser Osten war schon immer rebellisch. Dort sitzen große und mächtige Stämme und die können nicht leiden, dass im Westen einer von einem kleinen anderen Stamm, nämlich Gaddafi, alle Macht hat. Und sie sind extrem konservativ. Die Frauen laufen dort total verhüllt herum, was auch eine Form von Protest ist. Revolutionsführer Gaddafi hatte ja ursprünglich den Kopftuchzwang abgeschafft.“ [FR, 21.02.11 o]

 

„Es geht nicht um Demokratie“


Der Pariser „Figaro“ fragte schon am 23.02.11:

„Und was wäre, wenn die örtlichen Fundamentalisten, die von Gaddafi hart bekämpft werden, eines Tages in Verbindung zu den Gotteskriegern des Terrornetzwerks Al-Kaida im Maghreb treten würden? [o]

 

„[Es geht] jedenfalls nicht um Demokratie. Es geht um Machtverteilung, um alte Rechnungen und um Rache. [...] Ich habe keine einzige Person getroffen, die von Demokratie redete. Was soll dadurch besser werden, wenn sich die Wirtschaft für Ausländer öffnet? Die Privilegien, die Wohltaten der Subventionierungen sind sie dann los, die Frauen müssen Angst haben, dass es fundamentalistischer wird. Am Donnerstag gab es das Gerücht, das in einer der Berber-Städte, in denen es besonders rumorte, die staatlichen Banken angewiesen wurden, jedem, der vorbei kommt, umgerechnet 30.000 Euro auszuhändigen. [...] Gaddafis Revolution hat nichts mehr anzubieten, außer Geld und Waffen. Das funktioniert punktuell eine Weile, es gibt ja von beidem genug, aber nicht mehr als sozialer Kitt. Es gibt keine gemeinsame Idee, keinen Enthusiasmus mehr. Die Proteste entwickeln eine Eigendynamik. Das hat nichts mit politischem Willen zu tun. Einer schießt, dann gibt es wütende Trauer, dann wird noch mehr geschossen, so eskaliert das. Nun wird gefordert, Gaddafi muss weg. Klar, er ist ja auch derjenige, der die Armee geschickt hat, das würde ich auch wollen. Interessant ist aber unser Reflex: Protest ist gut und das bringt Demokratie. Aber das ist nicht mehr als ein Wunschdenken à la CNN.“ [FR, 21.02.11 o]


Hanspeter Mattes vom Hamburger Giga-Institut für Nahost-Studien, einer der besten deutschen Libyen-Kenner,
Berater der Bundesregierung in Bezug auf Arabien erläutert in der „Berliner Zeitung“ vom 28.02.11 [o]:

Die Bevölkerung und die Opposition sind zersplittert: Es gibt Monarchisten, Islamisten, säkulare Panarabisten und am Westen ausgerichtete Aktivisten. In der Kyrenaika im Osten, wegen ihrer Widerspenstigkeit immer etwas zweitrangig behandelt, finden sich die Monarchisten und die meisten Islamisten: Die meisten Libyer, die sich Al Qaida angeschlossen haben, stammen aus Darna und Tobruk. Die säkulare Opposition der Akademiker, v.a. in Tripolitanien, ist sich völlig uneinig: Parteien oder nicht? Präsidial- oder parlamentarisches System? Die Rechte der Frauen...


Der deutsche Friedensforscher Jochen Hippler im „Standard“ vom 22.03.11 [o]: 

„[In Libyen] existiert eine Situation des Chaos. Wir haben derzeit zwei getrennte Bürgerkriege: einen im Osten, einen im Westen. Und im Moment ist der Süden dabei, auf Seiten Gaddafis in diesen Konflikt einzutreten. Und zwar nicht, weil man Gaddafi unterstützen möchte, sondern weil man die Spaltung des Landes verhindern möchte. Das Öl liegt im Osten und sollte der wegfallen, hat der Rest des Landes nur mehr 20 Prozent des Öls.
Wir haben prodemokratische Kräfte, aber auch Sezessionisten, denen Gaddafi nicht wichtig ist, solange der Osten unabhängig wird. Dann haben wir noch die Stämme, Mafiaorganisationen, die das gegenwärtige Chaos ausnützen und religiös-extremistische Organisationen, die ihr eigenes Süppchen kochen wollen. Jede dieser Strömungen ist für sich noch einmal mehr oder weniger stark unterteilt. Manche Gaddafi-Feinde kämpfen im Moment gegen Aufständische, weil sie gegen eine Spaltung des Landes sind. [...]
Die multinationalen Angreifer werden alles zerstören, was sie zerstören möchten. Das Problem wie gesagt: das eigentliche Ziel – nämlich der Schutz der Zivilbevölkerung – wird dadurch nicht erreicht werden können. Dann haben die Verantwortlichen die Wahl: Entweder sie gestehen ihr Scheitern öffentlich ein, oder sie müssen gegen ihren eigenen Willen doch noch Bodentruppen schicken. Dann haben sie ein riesiges Problem. Denn selbst im Osten, aber vor allem im Westen und im Süden werden die Menschen zuerst gegen die ausländischen Invasoren kämpfen, bevor sie sich weiter gegen Gaddafi wehren.“

Einige grundlegende Hintergrund-Aufsätze

  • Mösken, Anne Lena: Ein libyscher April. Der Arzt Ramadan Bousabarah setzte einst große Hoffnungen in den jungen Muammar al-Gaddafi und verlor bald seine Illusionen. Berliner Zeitung, 19.3.2011. [o]
  • Wolf, Winfried: Ghaddafis Freunde. Deutsche Unternehmen rüsteten das libysche Regime unter Muammar Al-Ghaddafi mit Wissen der Bundesregierung seit Jahren auf. Giftgas inbegriffen. junge Welt, 24.3.2011. [o o]
  • Pritzke, Marc: Wie die Wall Street Libyens Machthaber umgarnte. Spiegel online, 7.3.2011. [o]
  • Bernstein, Boris: Wer Tausende von Toten auch auf dem Gewissen hat. Der Europäer, April/Mai 2011. [o]
  • Jakob, Christian: Jetzt mag ihn plötzlich keiner mehr. Gaddafi und die europäische Flüchtlingspolitik. Jungle World, 3.3.2011. [o]
  • Rupp, Rainer: Treibende Kräfte. Ein russischer Fernsehsender belegt: Die „Berichterstattung“ westlicher Medien über den Bürgerkrieg in Libyen ist zum großen Teil Kriegspropaganda. Junge Welt, 9.3.2011. [o]
  • Paech, Norman: Verlogene Argumente der „Koalition der Willigen“. ND, 22.3.2011. [o]
  • Mellenthin, Knut: Einladung zum Angriffskrieg. junge Welt, 23.3.2011. [o]
  • Stumberger, Roland: Kein Krieg - Tiefpunkt der Staatskunst? ND, 22.3.2011. [o]
  • Hassan, Mohamed: Libyen: Volksaufstand, Bürgerkrieg oder militärische Aggression? 7.3.2011, übersetzt. [o]
  • Aigner, Sepp: Libyen: Die Organisationen und das Führungspersonal der „demokratischen Opposition“. 27.3.2011. [o]
  • Riedle, Gabriele: Niemand spricht von Demokratie. FR, 21.2.2011. [o]
  • Ness, Uwe Jürgen: Libyen – meines Feindes Feind. 18.3.2011. [o]
  • Ness, Uwe Jürgen: Amtlich bestätigt: Die Kriegslügen über Libyen. Freitag.de, 9.5.2011. [o]
  • Bundesregierung: Hintergründe des bewaffneten Angriffs auf Libyen. Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. 26.4.2011. [o]