Zanders Geschichte der anthroposophischen Medizin

Selg, Peter: Helmut Zander und seine Geschichte der anthroposophischen Medizin. Der Europäer, November 2007 [o]. | Hervorhebungen und Zwischenüberschriften H.N.


Inhalt
0. Aggressive und hämische Linie
1. Falschbehauptungen zur Misteltherapie
2. Zanders Karma-Erotik
3. Zanders „ganz unsystematische“ Verdrehung von Zitaten
4. Eine weitere völlig gegensätzliche Verdrehung
5. Das Herz ist keine Pumpe
6. Bezug zur Naturheilbewegung?
7. Ita Wegman und Meditationen für Ärzte
8. Ein hoffnungsloses Unterfangen
9. Absolute Blindheit und Missbrauch jeder „kontextuellen Betrachtung“


0. Aggressive und hämische Linie

[In seinem Buch] schreibt Helmut Zander unter anderem über anthroposophische Medizin – auf über 120 Seiten und in einem Kapitel, das den Anspruch erhebt, Rudolf Steiners «medizinische Vorstellungen» zu «rekonstruieren» und in ihren zeitgeschichtlichen Kontext zu stellen, mithin einen zentralen Beitrag zur Geschichtsschreibung der anthroposophischen Medizin zu leisten. Zander räumt zwar ein, dass seine «fehlende medizinische Kompetenz» die Qualität seiner Analyse limitiere (S. 1456/1555), gibt sich jedoch im übrigen selbstsicher und zeichnet eine spezifische und scharf konturierte Karikatur dessen, was zu Beginn des 20. Jahrhunderts als geisteswissenschaftliche Erweiterung der Medizin in Dornach und Arlesheim konkret begonnen worden ist.

In Helmut Zanders Arbeit, deren umfängliche (und doch außerordentlich selektive) Literaturbasis bereits an vielen Orten positiv hervorgehoben wurde, wirkt – unschwer übersehbar – ein besonderes Interesse und ein gerichteter Wille. Dennoch findet seine Kritik an der «inneren Kanonisierung von Steiners Werk» (S. 1577) und an der «Binnenperspektive» nahezu der gesamten anthroposophischen Sekundärliteratur – als weitertradiertem Ausdruck einer «semantischen Isolation» und «binnenplausiblen Konstruktionslogik von Steiners Oeuvre» (S. 1571) – auch in anthroposophischen Kreisen offene Ohren und wohlwollende Rezipienten; die berechtigte Frage nach einem zeitgemäßen Umgang mit Rudolf Steiners Werk droht hier ganz offensichtlich aus dem aufmerksamen Blick zu verlieren, welch eigentümlich aggressive und destruktive, hämische und höhnische Linie Zanders Ausarbeitung über weite Strecken eigen ist.

Übersinnliche Erkenntnisse, ja Erkenntnisse überhaupt – deren Möglichkeit von ihm a priori in Abrede gestellt wird – hatte Rudolf Steiner nach Zander in keiner Weise und in keinem Bereich; Steiner rezipierte vielmehr in eklektizistischem Habitus Vorstellungen des 19. Jahrhunderts und drängte in der theosophischen Subkultur gezielt zur Macht, was ihm aufgrund taktischer Fähigkeiten, moralisch dubioser Praktiken und einer eigentümlich-autoritären Ausstrahlung auch gelang. Einer dieser Eroberungsbereiche war, so Zander, die Medizin. [...]

1. Falschbehauptungen zur Misteltherapie

Von einem Menschen wie der heilpflanzenkundigen Marie Ritter (die sich, nach zahlreichen Vortragsbesuchen, 1908 an Rudolf Steiner gewandt und u.a. um Hilfestellungen zur Krebstherapie gebeten hatte, die Mistel von ihm empfohlen bekam und wiederholt Patienten mit ihm sah) war Steiner in seinen medizinischen Expansionsbestreben nach Zander «abhängig» – ihre nachrangige Behandlung in der anthroposophischen Geschichtsschreibung und Sekundärliteratur führt Zander auf eine Umdeutung dieser Beziehungskonstellation zurück, die auf der Basis eines vorangegangenen Konkurrenzkampfes erfolgt sei («mutmaßlich hat sich Ritter nicht (ganz?) auf Steiners Begründungsvorlagen eingelassen» S. 1487). Marie Ritter war und ist für Helmut Zander ein bezeichnendes Beispiel für «Steiners Eigenständigkeitsanspruch angesichts seiner faktischen Abhängigkeit» (S. 1488), sein kalkuliertes Vorgehen, «aus den Erfahrungen Dritter Kapital zu schlagen» (S. 1493), und seine generelle Strategie, mit «Unterwerfungsgeboten» (S. 1519) und einem «Überbietungsanspruch» (S. 1521) zur Alleinherrschaft zumindest innerhalb der theosophisch-okkultistischen Strömung zu streben. [...]

Obwohl alle geschichtlichen Dokumente dagegen sprechen, behauptete Zander dieses Vorgehen Steiners selbst für die entstehende Mistel-Therapie des Krebses, an der Ita Wegman nach Beratung mit Rudolf Steiner und mit Unterstützung des Zürcher Apothekers Adolf Hauser in Zürich weiterarbeitete: «[...] Das wohl prominenteste Beispiel ist die Krebstherapie durch Mistelgabe, die auf Marie Ritter und / oder Adolf Hauser zurückgehen dürfte.» (S. 1568) Nach Helmut Zanders – unbelegter – Behauptung «besitzen alle ‹anthroposophischen› Heilmittel ihre Wurzeln in der außeranthroposophischen Praxis, nicht in Steiners Theorie.» (S. 1568) – «Von spezifisch anthroposophischen Verfahren oder Mitteln kann man […] nicht sprechen.» (S. 1569).

Rudolf Steiner, so Zander in nahezu faschistoider Terminologie und im realen Denkmodell eines okkulten Militarismus – «exekutierte» sein «Deutungsmonopol» (S. 1471) in allen Feldern, und verwirklichte durch Einverleibung und Ausbeutung den «Erfolg» einer anthroposophischen Medizin, die die Heilmittelproduktion «als Geldmaschine» (S. 1571) zum Einsatz brachte. Wo Mediziner in Steiners näherem Umfeld kritische Einwände erhoben, wurden sie abgedrängt und der Vergessenheit anheim gestellt. [...]

2. Zanders Karma-Erotik

Wer angesichts dieses sozialdarwinistischen Abhängigkeits- und Macht-Komplexes gespannt war, wie Zander eine Persönlichkeit wie Ita Wegman in ihn einordnen würde, sah sich innerhalb des «historiographischen» Werkes akademischer Ausrichtung plötzlich in die Sphäre reiner Emotionalität versetzt. Ita Wegman, die – so Zander – «interessanteste Person» unter den Medizinerinnen und Medizinern in Steiners Umfeld» (S. 1531) habe sich Rudolf Steiner 1902 keinesfalls «angeschlossen» und sei erst in den letzten Jahren auf der Basis einer «emotionalen Nähe» an seine Seite gerückt. [...]

Nach Helmut Zander verdeckte Rudolf Steiner seine «emotionale Nähe» zu Ita Wegman «in weltanschaulicher Terminologie» (S. 1533) und ließ sich auch «durch die fortbestehenden Interventionen seiner Frau nicht von seiner neue Liebe abbringen» (S. 1534), schrieb «schwärmerisch» geprägte «Liebesbriefe» (S. 1535) bzw. «Liebesgedichte» (S. 1537) für Wegman – und «verkleidete» seine Leidenschaft «in medizinische Dienstfragen», ohne sich zu seiner «erotischen Freundschaft» zu bekennen (ebd.). Zander hält für möglich, dass die «erotische Freundschaft» Rudolf Steiners mit Ita Wegman «eventuell nicht in sexuelle Liebe umschlug» (S. 1535), ist sich jedoch sicher, dass Rudolf Steiner seine Karma-Vorträge lediglich hielt, um seiner «neuen Liebe» eine metaphysische Rechtfertigung vor den prüden Mitgliedern der anthroposophischen Gesellschaft zu verschaffen [...]. Helmut Zander spricht von einer «karma-erotischem Gemengelage» (S. 1536), die – als Refugium der Emotion – Teil von Rudolf Steiners medizinischem Herrschaftssystem war, seinen Abhängigkeits- und Machtstrukturen. []

3. Zanders „ganz unsystematische“ Verdrehung von Zitaten

Zu Beginn seines Kapitels zur Medizin behauptet Zander, er wolle die medizinischen Vorstellungen Rudolf Steiners «rekonstruieren» und kontextuell diskutieren – Steiners «Konstruktionsprozesse» seien ohne eine solche historische Kontextualisierung keinesfalls hinreichend erkennbar (S. 1455). Angesichts von Zanders agnostischen Grundannahmen und seinem usurpatorischen Steiner-Bild vermögen die «Ergebnisse» seines Rekonstruktions- und Kontextualisierungs-Prozesses keinesfalls zu überraschen.

Obwohl er keine einzige von Rudolf Steiners medizinischen Ideenbildungen wirklich als solche thematisieren und in annähernd wiedererkennbarer Weise zur Darstellung bringen konnte, postuliert Zander in seiner Arbeit im großen Stil – und unter Umgehung inhaltlicher Herleitungen und Begründungen –, Steiner habe erfolgreich versucht, «esoterische Traditionen zu beerben» und eine Vielzahl von «Deutungsmustern» anderer Autoren «übernommen» (S. 1561). Dem «Wissenstand seiner Jugend und der Anschaulichkeit der älteren medizinischen Deutungsmodelle» bis an sein Lebensende verhaftet (S. 1562), sei Steiner über Haeckel – den er zeitlebens als «wissenschaftliche Autorität» verehrt habe – und seine goetheanistische Prägung nie hinausgekommen, habe jedoch in geschickter Weise vermocht, populärwissenschaftliche Denkformen des 19. Jahrhunderts im theosophischen Milieu und unter Verwischung seiner (bis heute, so Zander, unaufgedeckten) Quellen wiederzubeleben.

Helmut Zander versuchte sich an Rudolf Steiners medizinischen Vortragskursen vor Ärzten, fand in ihnen jedoch nur einen «amorphen Bestand» (S. 1494) «divergierender Konzepte» (S. 1498), einen «freien kombinatorischen Umgang [Steiners] mit Systemvorstellungen» (S. 1514) und «Modellen» anderer Autoren. [...] Insgesamt habe Steiner über keinerlei konsistentes Denken im Bereich der Medizin verfügt – und seinen Ärztekursen würden selbst Anthroposophen «ganz unsystematisch» erscheinen, so Zander mit Hinweis auf Christoph Lindenberg (S. 1455). Daran hätten auch Steiners farbige Wandtafelzeichnungen mit ihrer «Plausibilisierungsfunktion» (S. 1456) nichts zu ändern vermocht.

Christoph Lindenberg aber hatte in seinen biographischen Ausführungen zum ersten Ärztekurs geschrieben: «In der Tat sprach Rudolf Steiner, nach der Einleitung, aus einer lebendigen inneren Anschauung, scheinbar ganz unsystematisch [...] Helmut Zander wurde in den allgemeinen Ausführungen seiner Studie, aber auch in Interviews und Artikeln nicht müde, den «Anthroposophen» vorzuhalten, sie seien aufgrund ihrer geschlossenen «Binnenhermeneutik» nicht zu «kontextuellen» Betrachtungen bereit und in der Lage; sein eigener «wissenschaftlicher» Umgang mit «Texten» und «Kontexten» aber erscheint mehr als fragwürdig. [...]

4. Eine weitere völlig gegensätzliche Verdrehung

Zander versucht darzulegen, dass die naturwissenschaftlichen Nachweisverfahren und -bemühungen dabei ganz offensichtlich übereilt und unprofessionell durchgeführt wurden, was Rudolf Steiner jedoch nicht an ihrer machtvollen Binnenvertretung (mit erhobenem akademischem Anspruch) hinderte: «Steiner ließ jedenfalls Lili Kolisko 1923 demonstrativ vor Anthroposophen und Anthroposophen [sic!] über ihre Arbeiten referieren (GA 260, 212f.), letztlich weil er ihre empirische Qualität für ausreichend hielt: «Unsere Abhandlungen können bestehen vor den gegenwärtigen klinischen Anforderungen» (ebd., S. 278). Hier wäre zu fragen, wie viele von Zanders wissenschaftlichen Gutachtern die Belegstelle in der Rudolf Steiner Gesamtausgabe nachschlagen konnten und wollten – um dort zu bemerken, was Rudolf Steiner im Kontext des zitierten Weihnachtstagungsvortrages wirklich gesagt hatte:

«Wenn wir dasjenige, was auf unserem Boden medizinisch erwächst, so beschreiben, dass wir den Ehrgeiz haben: Unsere Abhandlungen können bestehen vor den gegenwärtigen klinischen Anforderungen – dann, dann werden wir niemals mit den Dingen, die wir eigentlich als Aufgabe haben, zu einem bestimmten Ziele kommen, denn dann werden die anderen Menschen sagen: Nun ja, das ist ein neues Mittel; wir haben auch schon andere neue Mittel gemacht.»

5. Das Herz ist keine Pumpe

Um zu belegen, dass Rudolf Steiner veralteten wissenschaftlichen Auffassungen nachhing und moderne Entwicklungen ignorierte oder verwarf, führte Zander Steiners Sicht, das Herz sei keine «Pumpe», sondern ein «Stauapparat», an (in durchgängiger Verkürzung und Verfremdung des tragenden ideellen Gehaltes, aber vielleicht ohne Wissen darum, wie realiter «modern» Rudolf Steiners hämodynamische Gesichtspunkte nach neuesten naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten sind); diese «Idee» des «Stauapparats» habe Rudolf Steiner, so Zander, von dem österreichischen Arzt Karl Schmid «übernommen» – wie von ihm selbst eingeräumt worden sei.

Um Rudolf Steiners entsprechendes Geständnis quellentextlich zu belegen («wie Rudolf Steiner selbst zugab»), führte Helmut Zander einen Seitenverweis auf eine Fragenbeantwortung nach dem öffentlichen medizinischen Vortrag Rudolf Steiners vom 16.11.1923 in Den Haag an (GA 319, S. 134), in der Rudolf Steiner (wie auch in dem vorausgegangenen Vortrag) weder über das Herz, noch über die genannte Thematik sprach. Tatsächlich hatte Rudolf Steiner am 17.11.1910 in Berlin und am 21.3.1920 in Dornach im Kontext umfangreicher Ausführungen zur menschlichen Herztätigkeit auf die Arbeit von Schmid hingewiesen, die einen Aspekt des hämodynamischen Problems unter mechanischen Gesichtspunkten wenigstens anfänglich thematisiere:

«Es ist nicht sehr viel noch in dieser Abhandlung enthalten, aber man muss sich sagen, dass wenigstens da einmal jemand aus seiner medizinischen Praxis heraus bemerkt hat, dass man es nicht zu tun hat mit einem Herzen als mit einer gewöhnlichen Pumpe, sondern mit dem Herzen als einem Stauapparat.» (GA 312, S. 37).

[...] Kennt man den Umfang und die anthropologischen Implikationen und Konsequenzen von Rudolf Steiners hochdifferenzierter und komplexer Herzlehre [...] sowie den Artikel von Karl Schmid aus dem Jahre 1891, so kann von einer «kontextuellen» Übernahme von Ideen schwerlich die Rede sein.

6. Bezug zur Naturheilbewegung?

Rudolf Steiner, so Zander weiter, habe die salutogenetische (und nicht primär pathogenetische) Orientierung seines medizinischen Denkens an der zeitgenössischen Naturheilbewegung «kennen gelernt» – und habe dies 1909 selbst «dokumentiert». Zander verwies an dieser Stelle, die wiederum Steiners grundlegende Abhängigkeit vom zeitgenössischen Denkstilen erweisen sollte, auf «GA 57, 189». Tatsächlich sprach Rudolf Steiner in seinem Berliner Vortrag vom 14.1.1909 über Gesundheit und Krankheit – über die zeitgenössische Naturheilkunde und über die spezifische Aufgabe der Geisteswissenschaft in der Auseinandersetzung von Allopathie und Homöopathie. Innerhalb seiner – kritischen – Charakterisierung der Naturheilkundebewegung sagte Steiner u.a.:

«Dann haben aber auch weite Kreise Zutrauen gefunden zu dem, was man Naturheilkunde nennt, die vielfach eine andere Auffassung über Krankheit und Gesundheit hat und nicht nur das empfiehlt, was auf den kranken Menschen Bezug hat, sondern auch das, was als richtig gehalten wird für den gesunden Menschen, damit er sich stark und kräftig erhält. Alles ist gefärbt von dieser oder jener Seite, von der schulmedizinischen oder von der mehr der Naturheilkunde zuneigenden Richtung.» (GA 57, 189f.)


Entgegen Zanders «historiographischer» Behauptung, Rudolf Steiner habe mit dieser Textstelle «dokumentiert», sein «Gesundheits»-Denken an der Naturheilkunde «kennen gelernt» zu haben, spricht die referierte Passage und der gesamte Vortrag vom 14.1.1909 vom spezifischen Duktus dessen, was Rudolf Steiner als zukunftsfähiges anthropologisches und medizinisch-pathologisches Denken ansah. Studiert man Rudolf Steiners differenziertes Denken über den Leib des Menschen in Physiologie und Pathologie und wird man gewahr, wie intensiv sich Rudolf Steiner schon zur Zeit seiner goetheanistischen Naturstudien in den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts mit entsprechenden Fragestellungen auseinandersetzte, so erscheint die Behauptung hochgradig naiv bis maligne, Steiner habe die populäre Naturheilbewegung des beginnenden 20. Jahrhunderts für die Gewinnung anthropologischer Grundkategorien benötigt. Helmut Zander mag das in seiner grenzenlosen Steiner-Verkennung tatsächlich für möglich halten; den «dokumentarischen» Textnachweis aber blieb er auch hier schuldig – und arbeitete mit Scheinbelegen. [...]

7. Ita Wegman und Meditationen für Ärzte

«Am 11. März erschien der erste und einzige Rundbrief für Ärzte. Er war von Steiner und Wegman unterzeichnet (GA 316, 229), und Steiner verkündete, dass Wegman nun «Meditationen» gab (ebd., 224) – eine Auszeichnung, die Marie Steiner nie zuteil wurde.» Wie in einer bereits vor drei Jahren publizierten Monographie über die – von Rudolf Steiner stammende – «Wärme-Meditation» eindeutig nachgewiesen wurde, ging es in dem Mediziner-Rundbrief von Steiner/Wegman um die weitere Verteilung dieser medizinischen Schulungs-Übung durch Wegman als Sektionsleiterin. Eigene Meditationen verfasste Ita Wegman – entgegen Helmut Zanders Behauptung – nie; eine entsprechende «Verkündigung» durch Rudolf Steiner fand in der geschichtlichen Wirklichkeit niemals statt.

«Solche Dinge gibt es auf Schritt und Tritt, und es ist nützlich, wenn sich die Anthroposophen kümmern um das Wurmstichige dessen, was hinter dem steht, was so oft der Anthroposophie entgegengehalten wird. – Aber gehen wir weiter.» (Rudolf Steiner, 9.9.1910; GA 123, 173). []

8. Ein hoffnungsloses Unterfangen

Es ist ein nahezu grenzenloses – und sinnloses – Unterfangen, die unzähligen Vorurteile und verzerrten Urteilsformen, die Vereinfachungen und Verdrehungen, bewussten Entstellungen, Verfremdungen und Fälschungen, die methodischen Grundprobleme, defizienten Voraussetzungen und haarsträubenden Folgerungen auch nur des medizinischen Kapitels von Helmut Zanders Buch richtigzustellen (von Rudolf Steiners wertschätzender und positiv unterstützender Arbeitsbeziehung zu Ärzten und Heilkundigen – wie Felix Peipers und Marie Ritter – bis hin zur Person und Relation mit Ita Wegman) – all das von Zander absichtlich bizarr Beschriebene, aber auch all das von ihm bewusst nicht Beschriebene, all die nicht berücksichtigten und sachlich weiterführenden Entwicklungen – auch all die Schriften der Sekundärliteratur, die von ihm außer Acht gelassen wurden. [...]

Auch ist es ganz offensichtlich in «wissenschaftlicher» Orientierung problemlos möglich, ohne jede Beweisführung zu behaupten, alle Heilmittel und Therapieverfahren der anthroposophischen Medizin seien unabhängig vom Ideengut der Anthroposophie anderen Therapierichtungen entnommen worden – und dabei nicht zuletzt ganze medizinische Tätigkeitsbereiche wie die anthroposophische Heileurythmie und Heilpädagogik vollständig zu übergehen, deren anthropologisches Fundament von Rudolf Steiner detailliert, in spezifischen Vortragskursen und methodisch innovativer Weise ausgearbeitet worden war. Es ist möglich, [...] de facto eine Geschichte der anthroposophischen Medizin zu schreiben, ohne die Steinerschen Ärztekurse genauer gelesen und ohne sich mit den realen Krankengeschichten der in Arlesheim behandelten Patienten auseinandergesetzt zu haben, obwohl diese Dokumente archiviert und in öffentlicher Weise zugänglich sind. Es ist möglich, die ganze innere Geschichte der anthroposophischen Medizin, die zur Ausbildung der Medizinischen Sektion am Goetheanum und der medizinischen Hochschulkurse Rudolf Steiners führte, auszublenden – und all die Literatur, die zu diesen Vorgängen in den letzten Jahren vom Ita Wegman Institut veröffentlicht wurde. Es ist möglich, vollständig außer Acht zu lassen, dass Rudolf Steiners Ärztekurse tatsächliche Schulungskurse für den Erwerb individueller Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeiten für medizinische Problemstellungen waren – und dass anthroposophische Ärzte bis zum heutigen Tag mit diesem methodischen Instrumentarium (statt mit «amorphen» Modellen) erfolgreich arbeiten. [...]

9. Absolute Blindheit und Missbrauch jeder „kontextuellen Betrachtung“

Die sogenannte «Ethik» der «Anthroposophen», die häufig als Sonderposten zugestanden wird – in anerkennender Herablassung –, ist mit der medizinischen Anthropologie geisteswissenschaftlicher Ausrichtung immanent verbunden, was einem belesenen Menschen wie Helmut Zander auch in ideenzentrierter Weise hinlänglich deutlich sein muss. Indem Zander die reale Anthropologie Rudolf Steiners verkennt und willentlich entstellt, die auf der Basis individueller Erkenntnisarbeit erwuchs, ja das gesamte Erkenntnisfundament der Anthroposophie negiert – und Rudolf Steiner zu einem esoterischen Diktator und Scharlatan mit «amorphen» Konzepten werden lässt –, schreibt er eine «historiographische» Studie über etwas, das es so nie gab.

Niemals erhob Rudolf Steiner und niemals erhoben anthroposophische Mediziner den Anspruch, vollkommen neue und bisher gänzlich unbekannte Natursubstanzen gefunden und den Schöpfungsprozess auf eine neue Stufe gehoben zu haben; wohl aber war mit der geisteswissenschaftlich erweiterten Medizin anthroposophischer Ausrichtung von Anfang an die Intention verbunden, Diagnostik und Therapie in den Bereich der individuellen menschlichen Erkenntnis- und Urteilsfähigkeit hereinzuholen bzw. auf der Basis einer vertieften Erkenntnisarbeit in nachvollziehbarer Rationalität neu zu begründen. Hier lag ihr geschichtlicher Ausgangspunkt und ihre Differenz zur naturheilkundlichen, homöopathischen und allopathischen Bewegung – wie Helmut Zander sehr wohl bekannt ist. [...]

Man erkennt die spezifische Kontur der Anthroposophie und ihren besonderen Beitrag zur Kultur tatsächlich genauer, wenn man sich nachhaltig mit der Zeit Rudolf Steiners, mit ihren Denkformen und Sozialprozessen, Fragen, Problemen und Diskussionen auseinandersetzt – mit der Zeit, in der die Anthroposophie ihre Wirksamkeit begann, als neuer Impuls im Alten, als Aufbruch im Abbruch und Umbruch. Helmut Zanders Verfahren jedoch, Rudolf Steiners Werk als solches a priori aufzulösen, ihm jeglichen Eigenwert abzusprechen und nach oberflächlichen Bezügen zur jeweiligen Umwelt Ausschau zu halten – in der durchgängigen Unterstellung, Rudolf Steiner habe sich an allem bereichert, ohne selbst etwas Eigenes mitgebracht zu haben – hebt die Berechtigung und den Sinn jeder «kontextuellen Betrachtung» auf.

Zanders Vorgehen ist darin kein neues; seit der Positivismus sich der Geschichtsforschung – und nicht nur der Naturwissenschaft – bemächtigte, ist jede «geisteswissenschaftliche» Studie in erster Linie motiv- und ideengeschichtlich orientiert – im Sinne der «übernommenen» Systeme, Gedanken und Bilder vorangegangener Zeiten. Der radikale Positivismus kennt kein erkennendes Ich, daher auch keine ursprüngliche Erkenntnisarbeit – keine individuell-kreativen Leistungen und keine Neuanfänge der Kultur aus der schöpferischen Aktivität der menschlichen Individualität. Er kennt nur – «wissenschaftlich» zu beschreibende – Abhängigkeiten und Übernahmen, Traditionslinien und Einflüsse – sowie emotionale Potentiale. In positivistischer Weise über Rudolf Steiner zu schreiben, mag eine intellektuelle Herausforderung im Sinne der gezielt intendierten und lustvoll realisierten Demontage bedeuten – mit der ausgesprochen ernsten Realität dessen, was in Rudolf Steiner lebte, in wessen Geist er handelte und was von ihm im 20. Jahrhundert ermöglicht wurde, hat dies jedoch nichts zu tun.