Helmut Zander als Spiegel anthroposophischer Kinderkrankheiten

Swassjan, Karen: Helmut Zander als Spiegel anthroposophischer Kinderkrankheiten. Januar 2008. [o]


In Zanders Nachwort (S. 1718) liest man: „Ganz am Schluß hat sich ein intensiver Austausch mit Robin Schmidt von der ‹Forschungsstelle Kulturimpuls› am Goetheanum ergeben, und ich kann nur bedauernd festhalten: Wäre er mit seinem profunden historischen Wissen und seiner undogmatischen Offenheit doch früher begegnet! Meine Deutung der Anthroposophie wäre dann in jeder Hinsicht verständnisvoller ausgefallen.“ Ich muß gestehen, daß mir diese Sätze als die einzigen durchdachten in Zanders Buch vorkommen. [...] Zanders Bedauern des Nichterfüllten stellt genau die Grenzlinie dar, an welcher das Textkritische ins Textkarmische umschlägt. [...]

Überhaupt verfehlen Zanders Dankabstattungen an seine anthroposophische Gehilfenschaft ihren Eindruck nicht. Er findet (S. 1718) sehr warme Worte für die Dornacher Hospitalität: „In den letzten Jahren war ich immer häufiger auf dem Dornacher Hügel. Meine erste Anlaufstelle, die Rudolf Steiner-Nachlaßverwaltung, die mir bei meinen ersten Anfragen verschlossen blieb, hat sich unter Walter Kugler auch Außenkontakten weit geöffnet, und ich verdanke den dortigen Gesprächen im Zusammenhang mit Besuchen von Studierenden manche Einblicke in Detailfragen der Archivbestände und von Steiners Biographie.“ Diese Freude sollte aber nicht ungetrübt bleiben. Zander weiter: „Irritierenderweise hat mir aber niemand, auch nicht bei Gesprächen auch unter vier Augen, auf den Zahn gefühlt oder beherzt nach meinen Arbeitsfeldern und Interessen gefragt [Hervorhebung von mir – K S.].“ [...]

Gleichsam als Entschädigung für diesen Ärger bittet ihn nun aber die Wochenschrift Das Goetheanum zu einem Gespräch,[4] in dem das auf dem Dornacher Hügel Versäumte unter anderem durch folgende exorbitanten Fragen nachgeholt wird:

1. Ist die Wahrheit, die Erkenntnis überhaupt zu dogmatisieren?
2. Wie sehen die Grundlagen, wie die Umsetzung aus?
3. Gibt es anthroposophische Dogmen?
4. Welche?
5. Wie sind sie aufzuheben?

Es wäre nicht erstaunlich, wenn Zander selbst hier etwas verdattert gewesen wäre: Die Fragen, die er erwartet, bleiben aus – und nun gleich eine ganze Weihnachtsbescherung! Die Fragen sind gut. Vor allem die letzten drei, deren vorwärtsdrängendes Tempo an ein Wettrennen denken läßt. Gibt es anthroposophische Dogmen? (Auf die Plätze.) Welche? (Fertig.) Wie sind sie aufzuheben? (Los.) Rennbahn: die „Wochenschrift für Anthroposophie“.

Darauf Zander, Experte und Spielführer:

„Das härteste Dogma ist die Bindung an Steiners Werk, sowohl methodisch als auch hinsichtlich der Inhalte [Hervorhebung von mir – K. S.].“

Positiv: Die Anthroposophie wäre gar nicht so schlecht. Noch besser wären die Anthroposophen. Wenn sie sich nur nicht so an Steiners Werk klammern würden! [...]

  • [4] „Alles immer im Rahmen“. Gespräch mit dem Historiker Helmut Zander, in: Das Goetheanum, 27/2007.

Auf einmal wird der Grund von Zanders Erfolg bei gewissen Anthroposophen ersichtlich. Was lange Jahrzehnte ein anthroposophisches Geheimnis war, das nur wenige und tapfere bisweilen ausplauderten, wird hier mit offenem Visier, vor allem aber ohne Skrupel und Zweifel verkündet. Die Pointe der Zanderschen Geschichte der Anthroposophie liegt darin, daß sie selbst nicht außerhalb dieser Geschichte, sondern ein bestimmter Teil von ihr ist. [...] Zanders Geschichte der Anthroposophie gehört zum Karma der Anthroposophie. (In erweiterter Perspektive auch zum Karma der Universität.) Sie bewegt sich im Rahmen des anthroposophischen Geschehens (Karmas) und bringt eine darin verborgene Tendenz zum Vorschein. Ihr historischer Vorteil gegenüber dem Werk anthroposophischer Autoren wie etwa Christoph Lindenberg ist, daß sie der genannten Tendenz den letzten Schliff gibt. Man kann sie, unter der Assistenz von Rudolf Steiners Vortrag am IV. Internationalen Kongreß für Philosophie in Bologna (1911),6 als ein Zerrbild der Anthroposophie erkennen, welches dieser von außen her entgegentritt, auf daß sie sich an ihm ihrer wahren Substanz und Essenz bewußt werde.

Nur in diesem Kontext kann die Behauptung richtig, und nicht als Provokation, verstanden werden, daß Zanders Unterschied zu den klassischen Gegnern der Anthroposophie darin besteht, daß er, im Unterschied zu ihnen, Anthroposoph ist. Er ist ein Anthroposoph aus der Art und Zahl derer, die das Lebenswerk Rudolf Steiners seit langem bewußt oder unbewußt, intendiert oder aber mit den besten Vorsätzen torpedieren. Sein Unterschied etwa zu einem Walter Kugler scheint nur graduell und in einer stärkeren Potenz zu sein. Der Vorrang des nicht-anthroposophischen Anthroposophen Kugler vor dem anthroposophischen Nichtanthroposophen Zander besteht hingegen darin, daß er, gemeinsam mit seinen Gesinnungsgenossen, bereits alle Themen des Zanderschen Buches vorweggenommen oder zumindest anvisiert hat. Zanders Herz würde gewiß für einen Anthroposophen schlagen, der zu folgendem Satz imstande ist: „Zweifellos, es gibt Äußerungen im dreihundertbändigen Werk Steiners, die treiben uns Veteranen der Anti-Vietnam-Generation den Schweiß aus allen Poren und mitten auf die Stirn.“[7]

  • [7] W. Kugler, Das Feindbild Steiner, Verlag Freies Geistesleben: Stuttgart 2001, S. 15.

Was not tut, ist eine Anamnese. Die kann man aber nur erhalten, wenn man den abstrakten Zanderschen Historismus durch den konkreten anthroposophischen ersetzt und einer ahnungslosen Anthroposophie-Geschichte eine sinnvolle vorzieht. Zander durchkämmt seine Datenbank mit inadäquaten Mitteln und tappt völlig daneben. Es sieht alles so aus, als hätte ein Karikaturist seine Kräfte in der Freskomalerei zu üben versucht. Fragt sich nur, ob und wann eine Geschichte der Anthroposophie geschrieben werden kann, die auch die Geschichte einer Krankheit wäre, an deren Verlauf man schon vor Jahren hätte ersehen können, wie dieser Morbus, falls verschleppt, unaufhaltsam auf einen „Zander“ zulaufen mußte. Vielleicht wäre diese Geschichte die einzige Chance des Kranken: nicht wieder gesund zu werden, sondern schnellstens zu sterben, aber einen Tod, nach dem es wieder Leben gibt. Ich versuche, einige allgemeine Charakteristika jener Tendenz skizzenhaft darzustellen, in der Überzeugung, daß eine gründliche Studie nicht lange auf sich warten lassen wird.8 Worum es mir geht, sind Fakten als Symptome im streng anthroposophischen Sinn, also die Symptome einer bestimmten Richtung innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft, an denen sich ein allmähliches „Zanderwerden“ der Anthroposophischen Gesellschaft nach Maßgabe der Durchsetzungsfähigkeit dieser Richtung diagnostizieren läßt. Unter dem lehrreichen Kafka-Motto: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“

Am 26. Mai 1935 hat Albert Steffen in sein Tagebuch folgende Sätze eingetragen:

„Aber wir in Dornach sind nicht dazu da, Lehrstühle für Dr. Steiners Erkenntnisse einzurichten, sondern selbst zu erkennen und zu schaffen. Die geistige Welt wandelt sich, und mit ihr die Werke, die aus der Schau derselben geschaffen werden. Das Eingeständnis des Nicht-Erkennenkönnens (d. h. die Behauptung, Rudolf Steiner wäre der einzige Geistesforscher) würde das Ende von Dornach sein. Nichts ist abgeschlossen, das will ich allen denen immer wieder sagen, welche stille stehen wollen. Der einzige Ausweg ist, Rudolf Steiners Wesen, wie es sich weiter wandelt, zu erfassen. Dann ist man sich und ihm treu und überdies Christus, dem Auferstandenen. Dann kommt man mit seiner Huldigung auch nicht zu spät. Wenn man nicht an den Auferstandenen glaubt und ihn erlebt, so bleibt man durch die Huldigung zurück.“

In einer Geschichte der Anthroposophie nach symptomatologischer Methode wird diesen Sätzen der prioritäre Platz eines Brutherdes eingeräumt werden, von dem aus der ganze Schlamassel seinen Anfang nahm. [...] Es würde das Ende von Dornach sein, wenn „wir“ auf Rudolf Steiners Erkenntnisse, nicht aber auf „unsere“ eigenen angewiesen wären. Diese Sätze hatten Zukunft. Kaum zu glauben, daß so etwas bereits 1935 gedacht und gesagt werden konnte. Interessant ist dabei, daß man es noch fertigbrachte, so zu sprechen und bei seiner Treue zur Anthroposophie und seiner Liebe zu Rudolf Steiner zu bleiben. [...]

Selbstverständlich galt das anthroposophische Gefühl dem hingeschiedenen Dr. Steiner. Der Dichter und Führer Steffen hingegen lebte, und er durfte sich ausgerechnet als Lebender der Notwendigkeit erwehren, aus Dornach einen Lehrstuhl für Dr. Steiners Erkenntnisse zu machen. In der Gefühlswärme, mit der dies aufgetragen wurde, übersah man die Abkehr von der Sache.[11] Gefühle, zumal in deutscher Fassung,[12] reimen sich aber schlecht mit Wissenschaft. Zwar tritt die Anthroposophie im Menschen „als Herzens- und Gefühlsbedürfnis“ auf, doch hat sie als Erkenntnisweg vom Gefühl begleitet, keineswegs aber durch das Gefühl ersetzt zu werden. Weil die Sache Anthroposophie unter Steffens Führung überwiegend mehr gefühlt, als gedacht wurde, verschleierten Gefühlsergüsse die Abkehr von ebendieser Sache. [...]

  • [11] Damals, 1935, hat Karl Ballmer anläßlich einer von Steffen gehaltenen Festrede zum Geburtstag Rudolf Steiners, in der die gleiche Stimmung zum Ausdruck kam, ungemein scharf reagiert: „Des Herrn Steffen und anderer Eitelkeit und Anmaßung verunmöglicht jedes saubere und rechtschaffene Studium der Anthroposophie, wenn sie ihrer eigenen schöpferischen Befähigung auch nur die allermindeste Bedeutung beimessen in Ansehung der überwältigenden Größe des Werkes Rudolf Steiners. Herr Steffen und seine Gesinnungsgenossen schieben sich als Parasiten vor das Werk Rudolf Steiners. Herr Steffen unternimmt nichts Systematisches, das Studium und die Verbreitung dieses Werkes zu fördern. Sein Dilettantismus ist die Katastrophe der Gesellschaft, die in Wahrheit aufgehört hat, als die von Rudolf Steiner gestiftete weltweite Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft eine geistige Wirklichkeit zu sein“ (Nachlaß, unveröffentlichtes Manuskript).
  • [12] „Bei den Deutschen wird das Ideelle gleich sentimental.“ Goethes Gespräche, hrsg. von F. Biedermann, Leipzig 1909, Bd. 2, S. 205.

Im Vorwort zur 1992 erschienenen englischen Übersetzung von Rudolf Steiners Das Karma der Unwahrhaftigkeit warnt der Anthroposoph Rudi Lissau den englischen Leser davor, Rudolf Steiner ernst zu nehmen. Steiners Äußerungen zum Kriegsthema seien ob ihres chauvinistischen Charakters mit extremer Vorsicht aufzunehmen, da er, als „Produkt seiner Zeit“, in diesem Punkt des öfteren der emotionalen Aufgewühltheit seiner Zuhörer erlegen sei. Parallel dazu machte sich der bekannte Steiner-Biograph Lindenberg anheischig, Steiner zu „entzaubern“, wie es sich allein für die Epoche Weberscher und Bultmannscher „Entmythologisierungen“ ziemte. Auf Lindenberg geht die Gepflogenheit zurück, unter Steiners Äußerungen jene, die von seinem Hellsehen herrührten, von denen zu unterscheiden, die er als schlichter Mensch („armer Eltern Kind“) getan habe. Im letzteren Fall genießen sie dann selbstverständlich keine okkulte Immunität, unterliegen aber einer um so schärferen Fehlerkontrolle. Lindenberg darf mithin trotz all seinen anthroposophischen Konzessionen und Halbheiten als Bahnbrecher jenes Arbeitsfeldes gelten, auf dem heute Zander seine ultimae rationes abharkt.

Dann aber brach die erste ernste Affäre aus. Nun schien es endgültig anerkennenswert, im Gleichschritt mit der Zeit zu gehen. Die Zeit war gerade daran, eine Eiterbeule aufzustechen, und die pflichteifrigen Veteranen der Steffen-Anthroposophie erwiesen sich als einsatzbereit. War nun Doktor Rudolf Steiner wirklich ein Rassist und Antisemit oder aber doch keiner? Die Frage glänzte nicht durch Originalität; seit dem Ersten Weltkrieg war sie in beiden Richtungen instrumentalisiert worden, je nach den Konjunkturschwankungen auf dem ideologischen Markt, wo Rudolf Steiner des Antisemitismus respektive Philosemitismus oder gar jüdischer Abstammung bezichtigt wurde. Es waren aber eher sporadische und polemisch aufgezogene Versuche gewesen, die es mit der Zeit zu systematisieren und „wissenschaftlich“ zu fundieren galt. Ganz im Sinne Zanders, der nur das vor ihm (und für ihn) Gemachte durch die forsche Handhabung der Zoom-Option aufs 2000-fache vergrößert hat, auf daß etwa die Süddeutsche Zeitung über der Anthroposophie den Stab brechen konnte. Also: Das Echo bei den lernfreudigen Adepten war entsprechend solid und beeindruckend. Die Anthroposophische Gesellschaft in Holland hat sich von Steiners Rassismus öffentlich distanziert. Zugleich wurde die bereits erwähnte Kommission holländischer Juristen beauftragt, Steiners Gesamtausgabe zu durchforsten. Die Ergebnisse stimmten gar nicht so pessimistisch, wie man hätte vermuten können: Aus just 150 einschlägigen Stellen des Steinerschen Gesamtwerkes wurden „nur“ für heute zweifelsfrei strafbar erklärt, weitere 50 allerdings als „mißverständlich“ klassifiziert („eine leichte Form von Diskriminierung“ oder „mißverständliche Äußerungen“: „im letztgenannten Fall ist eine gründliche Kenntnis der Anthroposophie erforderlich“), während die übrigen 88 nominierten Zitate in die Gruppe „unbedenklich“ fielen. [...]

Die Rassismus-Affäre (an deren Spätfolgen die Anthroposophische Gesellschaft auch heute noch herumlaboriert) schien die letzten Hemmungen im Verhältnis der up to date sein wollenden Anthroposophen zum rückständigen Steiner beseitigt zu haben. Seither sind sie weitaus dialogbereiter, worin sich aber auch schon die dritte der obengenannten „Konstruktionen“ abzeichnet, mit welcher das turbulente 20. Jahrhundert von all seinen Vergangenheiten Abschied genommen und sich einer neuen Epoche gefügt hat. Standen sie während der Steffen-Ära noch völlig unter dem Duktus des Führerkultes,[13] horchten sie in der Folgezeit, der Ära von Grosse bis Schmidt-Brabant, angestrengt darauf, woher der Zeitwind weht, so scheinen sich die heutigen Progressiven durch nichts mehr davon abbringen lassen zu wollen, mit einer wenn auch befristeten, dafür aber amtlich beglaubigten Aufenthaltsgenehmigung in der Kulturgemeinschaft des Establishments zu rechnen. [...]

  • [13] Karl Ballmer im Brief an Marie Steiner, Roman Boos, Werner Teichert vom 6. Februar 1948 (unveröffentlicht): „Das anthroposophische Führerprinzip. Schwyzerhüsli-Stil: Ein Fräulein sagt: ‹Wir existieren in der Anthroposophischen Gesellschaft, weil Albert Steffen sie führt›.“ – Beim Lesen des oben erwähnten Albert Steffen Buches konnte ich vom seltsamen Gefühl eines déjà vu nicht loskommen, dessen Original mir dann rasch in Erinnerung kam. „Heute bekomme ich manchmal einen Schock, wenn mir plötzlich bewußt wird, wieviel Größe sich dauernd unter der Natürlichkeit und stillen Güte Steffens verbirgt – nur, um den anderen in den Stand der Freiheit zu setzen“ (S. 169). Die Einsicht kam beim Überfliegen des Inhaltsverzeichnisses. Kapitelüberschriften wie: „Ein Kind gratuliert Albert Steffen“ oder „Albert Steffens Sendung“ oder „Künder der Menschlichkeit“ oder „Albert Steffen und die Musik“ oder „Albert Steffen und die Naturforschung“ oder „Junger Vogel vor Albert Steffens Haus“ wetteifern in der Monumentalität des Absurden schon nicht einmal mehr mit Huldigungen Lenins, Hitlers oder Stalins, sondern des nordkoreanischen Kim Il-Sung.

Was noch vor Jahren nur eine Tendenz war, ist heute nahezu Mainstream. Beliebte man zur Zeit Schmidt-Brabants gegenüber den direkten oder indirekten Angriffen und Diffamien gegen Rudolf Steiner noch eine Vogelstraußpolitik zu treiben, so nehmen die heutigen Exponenten der hier beschriebenen Richtung eine entschiedenere Haltung ein. Drei Beispiele für ihre durchaus systematische Tendenz würden wohl ausreichen:

1.) In Das Goetheanum (08.06.2004) hat Andreas Heertsch, der ehemalige Leiter des Zweiges am Goetheanum, einen Beitrag veröffentlicht, dessen Untertitel allein manchem buddhistischen Koan dessen Wert streitig machen würde: „Kann man ein Anthroposoph sein, ohne sich als Schüler Rudolf Steiners zu sehen?“ Heertschs Antwort ist bejahend. Er glaubt, seinen Optimismus durch das folgende Argument zu bekräftigen: „Zu eng“, meint Heertsch, wäre es, die Quelle des anthroposophischen Wissens nur bei Rudolf Steiner zu suchen, gibt es doch außer Steiner die „Michaelschule“ samt ihren Lehrern und Schülern. Es dürfte ein rettender Instinkt gewesen sein, der den Zweigleiter Heertsch daran hinderte, sein Argument etwa durch die Adressenangabe www.michaelschule.com plausibler zu machen.14

  • [14] Ausführlicher in meinem Artikel: „Fünfzig tausend Anthroposophien?“, in: Das Goetheanum, 15.9.2004. www.menschenkunde.com/pdf/swassjan/swassjan_50000_anthroposophien.pdf

2.) Im Nachrichtenblatt Nr. 27 zu Das Goetheanum vom 6. Juli 2003 ist unter dem Titel: „‹Rücksichtslose› Aufrichtigkeit“ ein Interview mit Nana Göbel (damals seit kurzem Generalsekretärin der AAG in Deutschland) erschienen. Dem Gespräch ist eine redaktionelle Notiz  vorangestellt, in der zu lesen ist: „Nana Göbel zu begegnen ist ein Erlebnis.“ Zwei Äußerungen Nana Göbels in diesem Interview geben zu denken.

Einmal heißt es: „Erfreulicherweise sind einige Elemente der Waldorfpädagogik oder auch der biologisch-dynamischen Landwirtschaft mittlerweile allgemeine Selbstverständlichkeiten geworden, für die man die Quellen nicht mehr kennt – und das ist auch gut so.“

Das andere Mal, bezüglich der Rede von der krisenhaften Situation der Anthroposophie (die, laut Frau Göbel, „teilweise Hysterie“ ist, „teilweise stimmt“): „Für mich ist klar, daß es keinen Sinn macht, uns besser zu wünschen, als wir sind.“

Diese beiden Äußerungen fügen sich dermaßen offenkundig aneinander, daß sie in einem einheitlichen Zusammenhang, ja in einem Atemzug gelesen werden müssen. Dafür braucht nur der erste Satz einer Leseart unterzogen zu werden, die literaturwissenschaftlich als Verfremdung bezeichnet wird (mit dem Ziel, das sonst nicht mehr scharf Wahrzunehmende auffällig zu machen). Ich verfremde also den Satz in der folgenden Parallelführung: Erfreulicherweise sind einige Elemente des christlichen Glaubens oder auch der christlichen Esoterik mittlerweile allgemeine Selbstverständlichkeiten geworden, für die man die Quellen nicht mehr kennt – und das ist auch gut so (näheres in W. Solowjows Kurzer Erzählung vom Antichrist).

Will man dies nun in der Tat als gut empfinden, so ist nicht nur für Frau Göbel, sondern auch für alle ihr Gleichgesinnten klar, daß es „keinen Sinn macht, uns besser zu wünschen, als wir sind“. Und das ist auch gut so.

3. Bodo von Plato, Vorstandsmitglied der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, ist in seinem Bericht „Anthroposophische Bewegung, anthroposophische Gesellschaft und Freie Hochschule für Geisteswissenschaft – Situation und Perspektiven“, den er während der Generalversammlung der Gesellschaft in Frankreich vom 16. und 17. März 2002 in Verrières-le-Buisson abgestattet hat, zu folgenden Ergebnissen gelangt:[15]

  • [15] Der vom Redner durchgesehene Text erschien in Les Nouvelles de la Société anthroposophique en France, Mai-Juin 2002. Da ich den Fall in einem früheren Artikel bereits ausführlich behandelt habe, kann ich ihn hier nur kurz rekapitulieren. Vgl. „Was schlucken Anthroposophen?“, in: Der Europäer, Jg. 7, Nr. 2/3, Dezember-Januar 2002/2003. www.menschenkunde.com/pdf/swassjan/swassjan_was_schlucken_Anthroposophen.pdf

Rudolf Steiner, so v. Plato, lebte in einer Zeit des Umbruches, in der neue Werte zu erscheinen begannen. Er war „ein leidenschaftlicher Kritiker“ dieser Werte, manchmal bis zum Exzeß. Trotzdem sind es ausgerechnet diese Werte (nicht seine), die sich durchgesetzt und der Physiognomie des 20. Jahrhunderts ihr Gepräge gegeben haben. Nach Steiners Tod setzten seine Jünger in den 1920er, 30er, 40er Jahren seinen Stil (Zeitkritik) fort. Keiner hat sich dabei gesagt: „Nun, wir werden in eine andere Richtung schauen, anders arbeiten, einen anderen Stil entwickeln.“

Dieser Mangel beginnt erst jetzt beseitigt zu werden. In B. v. Platos Worten: „Es wäre nutzlos, ja selbst sektiererisch, zu unterscheiden zwischen Anthroposophen und Nichtanthroposophen; heute geht es im Gegenteil darum, zu unterscheiden zwischen denjenigen, die arbeiten, und denen, die nicht arbeiten. Ich mache mich verständlich: diejenigen, die arbeiten, sind die, die sich selber ernst nehmen, die wissen, daß wir in einer Zeit leben, in der es keine Referenz mehr gibt, nicht einmal mehr auf Rudolf Steiner.“ Diese Logik stimmt hoffnungsfroh: Wer arbeitet, nimmt sich selber ernst, nicht aber Rudolf Steiner.

B. v. Plato weiter: „Die Menschen haben im allgemeinen die Tendenz, ihren Blick auf große Persönlichkeiten – und die Anthroposophen insbesondere auf Rudolf Steiner – zu richten, denn er war gewiß groß, er ist groß. Und das ist auch gut so [Das ist sogar doppelt gut so. Siehe oben bei Nana Göbel – K. S.] Das ist richtig. Aber dadurch heißt das dann irgendwo, daß man sich selber nicht ernst nimmt.“ Man erfährt also, was man zu tun hat, um sich selber ernst zu nehmen. Man muß, erstens, arbeiten, und dann muß man sich noch von großen Persönlichkeiten abwenden, denn: Nimmt man sie ernst, so nimmt man sich selber nicht ernst, beziehungsweise: nimmt man sich selber ernst, so nimmt man sie nicht ernst. Originalton Steffen: „Aber wir in Dornach sind nicht dazu da, Lehrstühle für Dr. Steiners Erkenntnisse einzurichten, sondern selbst zu erkennen und zu schaffen.“ [...]

Nach der Logik: So wenig Steiner wie möglich, dafür aber möglichst viel von „uns“. In Info3 (10/07) hebt Wolfgang Held, der „Verantwortliche für Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit am Goetheanum, Dornach“, die Notwendigkeit hervor, zu unterscheiden, „wo Rudolf Steiner als Eingeweihter, wo mit Alltagsbewußtsein und damit als Kind seiner Zeit spricht und handelt“. Held: „Wenn Jens Heisterkamp danach fragt, wie die Verantwortlichen Rudolf Steiner schützen können, dann meine ich: durch eine Auseinandersetzung, in der wir lernen, zwischen dem ewigen und dem situativen, dem aus den Höhen inspirierten und dem zeit- oder kontextgebundenen Rudolf Steiner zu differenzieren.“

Also: Da liegt die Gesamtausgabe Rudolf Steiners. Zur Frage steht, wie „die Verantwortlichen“ sie schützen können. Antwort eines solchen Verantwortlichen: dadurch, daß die Spreu (das Zeit- oder Kontextgebundene) vom Weizen (dem Ewigen) gesondert wird. Das Erstaunliche ist dabei, daß Held nicht verrät, wer diese löbliche Aufgabe eigentlich durchführen soll. Bleibt nur, sich auf die Logik zu verlassen: Offensichtlich einer, der dies kann. [...] Denn eines ist eindeutig: Jeder, der dies zu können meint, stellt sich zumindest auf eine Ebene mit Rudolf Steiner und seinen Fähigkeiten, was in adäquaten Termini zu bewerten bereits in weitaus andere Kompetenzen fallen würde als die erwähnte.[16]

  • [16] Merkwürdig ist, dieser obskuren Unterscheidung zwischen „ewig“ und „zeitgebunden“ bei einem anthroposophischen „Verantwortlichen“ zu begegnen. Der Theologe Zander kann mit Fug und Recht darüber schmunzeln, nachdem er das angeblich „Ewige“ bei Steiner als „zeitgebunden“ entlarvt zu haben glaubt. Den Rest der Arbeit, die Entsorgung des „Zeitgebundenen“, werden die Anthroposophen schon selbst leisten können.

Hier ist der Schlüssel zu den „erfreulichen Stimmen“ aus dem Goetheanum zu Zanders Studie zu suchen. Denn Zander hat nichts anderes gemacht, als daß er zu dieser Befreiung von Steiner „auf dem wissenschaftlichen Boden“ (Held) beigetragen hat, von dem der Mitarbeiter der „Forschungsstelle Kulturimpuls“ Robin Schmidt nur schwärmen kann. [...]

Keiner hat dies klarer gesehen als der Rezensent der Süddeutschen Zeitung, der anläßlich des Zanderschen Buches von einer großen Chance für die Anthroposophen spricht. Es gilt, diesen messerscharfen Sätzen noch einmal zuzuhören, eingedenk dessen, daß Kinder und Journalisten die Wahrheit reden:

„Helmut Zanders Untersuchung birgt für die Anthroposophen eine große Chance. Seine Belege für Steiners Eklektizismus sind derart schlagend, daß ein generelles Verleugnen seiner Befunde Indiz für eine geradezu gruselige Engstirnigkeit wäre. Wenn man aber zugibt, daß Steiner nicht vom Weltgeist diktiert bekam, sondern sich von zeitgenössischen Quellen inspirieren ließ, dann könnte man sein ganzes Werk kritisch befragen. Na und? Worin läge das Skandalon? Der Skandal ist doch, daß viele bis heute nicht dazu bereit sind, das zu tun.“


Tatsächlich viele? Und wenn es umgekehrt wäre? Wenn es wenige oder sehr wenige wären? Und der Skandal also entsprechend geringer? [...]

Zwei Anthroposophien treten uns somit entgegen: eine, die insofern Form zu sein vermag, als sie in Bewegung und Bewegung ist, und eine andere, die als Nur-Form zur Salzsäule geworden ist und deren Exponenten sich nichts sehnlicher wünschen, als nur sich selbst ernst zu nehmen. Zander fuhrwerkt in dieser zweiten herum, meint aber, sie sei die einzige. Diese schiefe Optik teilt er mit jenen Anthroposophen, die, weil sie selber in der zweiten sind, nichts von der ersten hören wollen. Die Trennlinie zwischen den beiden liegt im massiven Nichtverstehen des Mysteriums der Erkenntnis, das durch bloße Gefühle oder in leeren Intellektformen verhunzt wird. Insofern erübrigt sich die Opposition von Anthroposoph und Nichtanthroposoph als ein altes Überbleibsel aus der politischen Theologie von Freund und Feind für eine wachsende Zahl tatsächlich. Was heute, im Angesicht einer nach Canossa aufgebrochenen Anthroposophie gilt, sind nicht mehr Anthroposophen und Nichtanthroposophen, sondern immer deutlicher und in zunehmendem Maße: Nichtanthroposophen, die sich für Nichtanthroposophen, und Nichtanthroposophen, die sich für Anthroposophen halten.

Anthroposophische Gesellschaft oder  vergesellschaftlichte Anthroposophie?

Liegt die Betonung im Wortgefüge Anthroposophische Gesellschaft auf dem ersten oder dem zweiten Wort? Anders: Ist hier die Gesellschaft anthroposophisch oder sind die Anthroposophen gesellschaftlich? Das Fatale an Zanders Schwergewichtler ist, daß er die Anthroposophie nach einem gesellschaftlichen Kriterium bewertet, das hinsichtlich der Anthroposophie von keinerlei Geltung ist. [...]

Hat die Anthroposophische Gesellschaft überhaupt einen Sinn, so nur im Lichte, das von der anthroposophischen Soziallehre auf sie fällt. Es wäre schief, wenn Rudolf Steiners Kernpunkte für jegliche Gesellschaft, nur nicht für die eigene Geltung besäßen. Das bedeutet, daß die Anthroposophische Gesellschaft nicht nur ein Domizil oder Begegnungszentrum für die Anthroposophen ist – sie will auch Ur- und Vorbild dessen sein, was Gesellschaft überhaupt heißt. Es bedeutet ferner, daß die Betonung in der Anthroposophischen Gesellschaft auf anthroposophisch liegt, und daß sich diese Gesellschaft unmöglich nach der Gesellschaft richten kann, die aus der Sackgasse herauszuführen ihr Wille und ihre Aufgabe ist. [...]

Man hätte ihr kein schlimmeres Los wünschen können, als in jene kranke Gesellschaftsform hinüberzuwachsen, die gesund zu machen doch ihr eigentliches höchstes Anliegen und ihr Können wäre. Geschieht dies, so findet sie sich auf einmal unter all die Anwärter versetzt, die um einen Platz an der Sonne kämpfen. Worauf sie nun überhaupt noch aus sein kann, ist, einfach anerkannt zu werden. [...] Was diese Gesellschaft rückhaltlos fordert, sind Integrationsprozesse, durch die alles, was in Sichtweite kommt, verschmilzt und den established standards entspricht. [...]

Fürwahr eine heikle Sache: sich das Ahrimanische zum Vorbild nehmen und auf den Namen „Anthroposophie“ hören. Man stellt auf Anhieb die einzige Erschwernis fest, die dann um jeden Preis loszuwerden ist, wenn man sich ein ruhiges anthroposophisches Leben wünscht. Die Erschwernis trägt den Namen: Steiner. [...]

Man stelle sich ein Christentum vor, das inmitten der Zeit des Untergangs der antiken Welt nicht die Welt christlich, sondern nur sich selbst weltlich hätte machen wollen, und zwar im ganzen Ausmaß von Verfall und Zersetzung. Daß diese Analogie bei den Betroffenen Unbehagen oder gar Ärger auslösen wird, ist wohl zu erwarten; die Frage ist, ob sie auch Verständnis auslöst. Denn es kann doch nicht im Ernst so sein, daß eine Sache, zumal vom Range der Anthroposophie, coram publico auf den Kopf gestellt wird, mit der Versicherung, das sei auch gut so.

Hiermit stellt sich in aller Schärfe die Frage: Kann man die Anthroposophie vertreten, ja überhaupt Anthroposoph sein, ohne sich an die anthroposophischen Grunderkenntnisse, vor allem aber die anthroposophische Konkretheit zu halten? Es ist ganz in Ordnung, wenn mit Floskeln wie „Sinnangebot“, „Kontextualisierung“, „Deutungsoptionen“ usw. akademisch Karriere gemacht wird; der Fall Zander bildet in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Findet man diese oder schlimmere Floskeln nun aber auch in Texten anthroposophischer Autoren, so liegt es nahe, auf mißlungene Karrieren zu schließen. [...]

Kann man denn anders Anthroposoph werden, als dadurch, daß man diese Kontexte nicht generell, sondern als ahrimanisch oder luziferisch zu erkennen versteht? Lehrreich ist in dieser Hinsicht die Logik, mit der B. v. Plato seine Vision der anthroposophischen Situation und Perspektiven im oben angeführten Beispiel verdeutlicht: Steiner war ein Kritiker seiner Zeit. Er kritisierte ihre Werte und stellte ihnen seine eigenen entgegen. Aber nicht seine Werte, sondern die seiner Zeit haben sich inzwischen durchgesetzt. Und als Anthroposophen müssen wir wirklichkeitsgemäß sein; das heißt: uns nicht mehr an Steiners Werte halten, die es heute nirgends gibt, sondern an die, die heute in unserer Welt bestehen usw. Es ist nur ein einziges Wort, das vom Hersteller dieser Konstruktion verschwiegen wird, weshalb es überhaupt nur möglich ist, sie vor einem anthroposophischen Forum zu vertreten. Das Wort ist: ahrimanisch. Es hätte eigentlich heißen müssen: Nicht Rudolf Steiners Werte, sondern die Ahrimans haben sich durchgesetzt. Wir leben heute in einer Welt, die von ahrimanischen Werten geprägt ist, und wir treffen unsere Wahl: in Erwartung einer weltgeschichtlichen Inkarnation. Heute Anthroposoph sein, heißt mithin: sich von dieser Welt nicht verschlingen lassen und Zeuge der Wahrheit sein. [...]

Der Student der Anthroposophie versteht sich selbst besser, wenn er sich als eine dramatis persona des Buches Theosophie versteht, nämlich als Seele, die in der Mitte zwischen Leib und Geist lebt. Die Seele empfängt den Geist, lebt ihn, während er sich am Leib spiegelt, und dieses Leben steht dann vor zwei Möglichkeiten: Entweder wandelt sie den Leib mit der Kraft des in ihr lebenden Geistes in Geist um. Oder sie fährt sich im Leiblichen fest und vertut die Kraft des Geistes. So steht auch der Student der Anthroposophie zwischen Anthroposophie und Gesellschaft und läßt ein Karma durch sich in Erfüllung gehen, durch welches entweder die Gesellschaft wieder zu Kräften kommt oder die Anthroposophie vergeht. [...]