16.05.2011

Zander über den Wissenschaftsbegriff Rudolf Steiners

Eine Auseinandersetzung mit Zanders Kernthese anhand seiner eigenen Worte.


Inhalt
Akademisches Geschwurbel
Schwärmerisches Grundgefühl?
Naturwissenschaft und Religion – was will Zander eigentlich?

Akademisches Geschwurbel

Zanders „Annäherung“ an Rudolf Steiners Wissenschaftsbegriff ist so anmaßend wie lächerlich. Sein Urteil steht von vornherein fest, und an diesem festgeklammert stolpert er sich von (akademisch-gestelzter) Formulierung zu Formulierung.

In der Einleitung seines „Opus magnum“ sagt er:

[7:] Ein weiteres Charakteristikum der Theosophie war ihr Wissenschaftsanspruch (Kap. 9), vermittels dessen sie hermeneutische Gewissheit durch empirisches Wissen zu ersetzen suchte, um sich als ‹moderne› Weltanschauung im Sinne naturwissenschaftlicher Verfahren und ihrer objektivierbaren Ergebnisse zu etablieren. Die Theosophie beanspruchte, den Mehrwert einer ‹objektiven› ‹übersinnlichen› Dimension dem naturwissenschaftlichen Materialismus entgegenzusetzen und ihn so überbieten zu können. Im Rahmen dieser Dialektik von Unterwerfung unter die naturwissenschaftliche Methodologie bei gleichzeitigem Anspruch auf inhaltliche Überbietung sind die entscheidenden wissenschaftstheoretischen Fragen zu stellen: nach dem Verhältnis zur religiös imprägnierten ‹romantischen› Naturphilosophie und zum religiösen Empirismus des Spiritismus.


Schon Thomas Meyer [o] weist darauf hin, dass Zander hier nichts als akademisch-sinnlose Wortspiele bringt. Worin läge denn eine Überbietung des Materialismus!? Auch hat Steiner das Verhältnis zwischen Natur- und Geisteswissenschaft immer als ein Komplementäres, nicht Konkurrierendes, betrachtet (siehe unten).

Die Wendung „Unterwerfung unter die naturwissenschaftliche Methodologie“ zeigt eindeutig, dass Zander nicht das Geringste von dem anthroposophischen Ansatz begriffen hat. Ein Sinn für das, was Steiner „nach naturwissenschaftlicher Methode“ nannte, geht ihm vollkommen ab. Steiner meinte damit die vollkommen klar bewusste Wachheit (einschließlich einer erworbenen Urteilskraft bzw. Unterscheidungsfähigkeit) in Bezug auf „seelische Beobachtungsresultate“.

Dagegen liegt bei Zander selbst jene „Unterwerfung unter die naturwissenschaftliche Methodologie“ vor, von der er spricht. Er unterwirft sich einer gewissen heutigen Methodologie, und diese Wissenschaft kennt nichts als den äußeren Zugang zu ihrem Forschungsobjekt. Und so wie schon deren Begründer Francis Bacon die Natur „auf die Folter des Experiments spannen“ wollte, um ihr ihre „Geheimnisse zu entreißen“, so hat auch der „Historiker“ Zander bereits seine fertige Hypothese, der die „Fakten“ dann mysteriöserweise gehorchen und sie immer wieder zu belegen scheinen. Seinen eigenen Anteil daran, seine verzerrende Brille, bemerkt er dabei gar nicht.

In der Naturwissenschaft haben die Teilchen-Physiker inzwischen entdeckt, dass sogar bei den naturwissenschaftlichen „Fakten“ der Naturwissenschaftler die entscheidende Rolle bei dem Ausgang eines Experiments spielt. Zander blendet diese Möglichkeit völlig aus – dabei ist diese Möglichkeit gerade bei ihm zu einer durch und durch extremen Tatsache geworden.

Weitere Fragen wären:

Was ist denn für Zander „hermeneutische Gewissheit“? Von Hermeneutik hat doch gerade er nicht die blasseste Ahnung! Stattdessen reitet doch er auf den rein äußerlich vorfindlichen Worten („empirisches Wissen“) herum, um sie dann munter in das Prokrustes-Bett seiner Vor-Urteile zu zwingen. Und welch ein Wunder: Sie passen alle hinein! Ja, wenn man sie so entstellt, wie Zander es tut – Beispiele finden sich allein in dem von mir Zusammengestellten nahezu endlos –, dann würde sogar der Papst zum Materialisten...

Was wäre für Zander „objektiv“ und „übersinnlich“? Er setzt alle solche Worte immer wieder in Anführungszeichen und will damit darauf hinweisen, dass es diese Kategorien für ihn nicht gibt. Für ihn.

Was meint Zander mit „Mehrwert“? Dieses Wort scheint für ihn einer der absoluten Lieblingsbegriffe zu sein. Das ist nicht verwunderlich: Einerseits klingt auch dieses Wort herrlich akademisch, andererseits ist es für seine Zwecke hervorragend zur Abwertung geeignet. Denn in seiner Diktion besagt es: illusionärer Mehrwert, ein Kartenhaus aus Täuschungen, Plagiaten und so weiter.

Schwärmerisches Grundgefühl?

Sehen wir uns sein Kapitel „Wissenschaft“ an. Der Beginn ist wie folgt:

[859:] Steiner war von der Naturwissenschaft – im Singular, wie er immer sagte – fasziniert: von ihren Entdeckungen, ihren Erklärungsmöglichkeiten, ihren Erfolgen in der technischen Umsetzung. ‹Die Wissenschaft hatte die Methode ausgearbeitet, mit all den wunderbaren Werkzeugen, welche die neuere Zeit geschaffen hat, das Physische zu erforschen. Sie hat nicht nur mit dem Mikroskop die kleinsten Lebewesen erforscht, nein, diese Wissenschaft hat mehr getan. Sie hat es fertig gebracht, den Planeten Neptun, lange bevor er gesehen wurde, auszurechnen! Die Wissenschaft ist heute auch imstande, Weltkörper zu photographieren, die wir nicht sehen können. Sie kann mit Hilfe der Spektralanalyse ein Schema des Zustandes der Himmelskörper geben, und sie hat in ungemein interessanter Weise gezeigt, wie die Weltkörper durch den Raum eilen mit einer Geschwindigkeit, von der wir vorher keine Ahnung hatten. ... Die Wissenschaft hat es dazu gebracht, auch die Bewegung dieser Himmelskörper mit einer besonders interessanten Methode zu messen. Dies ist ein Beweis dafür, wohin uns diese Erkenntnis führen kann.› (GA 53,31) Dieses Zitat aus dem Jahr 1904 steht exemplarisch für den Prinzipal eines schwärmerischen Grundgefühls, das ihn von frühester Jugend bis an sein Lebensende begleitet hat.


Auf derselben Seite sagt Zander zwei Sätze später:

[859:] Sein Wissenschaftsbegriff implizierte in weiten Bereichen die normative Geltung naturwissenschaftlicher Methoden und Ergebnisse [...].


Was soll das überhaupt heißen: „normative Geltung“? Bei Steiner war nichts normativ. Steiner anerkannte die naturwissenschaftlichen Forschungsergebnisse, weil und insofern es eben wirklich Forschungsergebnisse waren. Er sah aber auch die Begrenzungen dieser Forschung und ihrer Aussagefähigkeit – und die Fehler in den Deutungen ihrer Ergebnisse!

Im „Bologna-Vortrag“ äußert sich Steiner ganz klar zu den unterschiedlichen Aufgaben von Natur- und Geisteswissenschaft und zu der Begrenztheit bzw. der wahren Natur des naturwissenschaftlichen Forschungsgebietes:

Das heißt aber doch nichts anderes als: das Ich steht mit seiner mathematischen Vorstellung nicht außerhalb der transzendent mathematischen Gesetzmäßigkeit der Dinge, sondern innerhalb. Und man wird deshalb zu einer besseren Vorstellung über das "Ich" erkenntnistheoretisch gelangen, wenn man es nicht innerhalb der Leibesorganisation befindlich vorstellt, und die Eindrücke ihm "von außen" geben läßt; sondern wenn man das "Ich" in die Gesetzmäßigkeit der Dinge selbst verlegt, und in der Leibesorganisation nur etwas wie einen Spiegel sieht, welcher das außer dem Leibe liegende Weben des Ich im Transzendenten dem Ich durch die organische Leibestätigkeit zurückspiegelt. [...] Und man könnte dann nicht mehr sagen, das "Ich" müsse sich selbst überspringen, wenn es in das Transzendente gelangen wollte; sondern man müßte einsehen, daß sich der gewöhnliche empirische Bewußtseinsinhalt zu dem vom menschlichen Wesenskern wahrhaft innerlich durchlebten, wie das Spiegelbild sich zu dem Wesen dessen verhält, der sich in dem Spiegel beschaut. –

Durch eine solche erkenntnistheoretische Vorstellung würde nun der Streit zwischen der zum Materialismus neigenden Naturwissenschaft und einer das Spirituelle voraussetzenden Geistesforschung in eindeutiger Art wirklich beigelegt werden können. Denn für die Naturforschung wäre freie Bahn geschaffen, indem sie die Gesetze der Leibesorganisation unbeeinflußt von einem Dazwischenreden einer spirituellen Denkart erforschen könnte. Will man erkennen, nach welchen Gesetzen das Spiegelbild entsteht, so ist man an die Gesetze des Spiegels gewiesen. Von diesem hängt es ab, wie der Beschauer sich spiegelt. Es geschieht in verschiedener Art, ob man einen Planspiegel, einen konvexen oder einen konkaven Spiegel hat. Das Wesen dessen, der sich spiegelt, liegt aber außerhalb des Spiegels. So könnte man sehen in den Gesetzen, welche die Naturforschung ergibt, die Gründe für die Gestaltung des empirischen Bewußtseins; und in diese Gesetze wäre nichts einzumischen von dem, was die Geisteswissenschaft über das innere Leben des menschlichen Wesenskernes zu sagen hat. Innerhalb der Naturforschung wird man mit Recht sich immer wehren gegen ein Einmischen rein spiritueller Gesichtspunkte. Und auf dem Felde dieser Forschung ist es nur naturgemäß, daß man mehr sympathisiert mit Erklärungen, die mechanisch gehalten sind, als mit spirituellen Gesetzen. Eine Vorstellung wie die folgende muß dem in klaren naturwissenschaftlichen Vorstellungen Lebenden sympathisch sein: "Die Tatsache des Bewußtseins durch Gehirnzellen-Erregung ist nicht wesentlich anderer Ordnung als die Tatsache der an den Stoff gebundenen Schwerkraft" (Moritz Benedikt). Jedenfalls ist mit einer solchen Erklärung exakt methodologisch das naturwissenschaftlich Denkbare gegeben. Sie ist naturwissenschaftlich haltbar, während die Hypothesen von einem Regeln der organischen Vorgänge unmittelbar durch psychische Einflüsse naturwissenschaftlich unhaltbar sind. Der vorhin charakterisierte erkenntnistheoretische Grundgedanke kann aber in dem ganzen Umfange des naturwissenschaftlich Feststellbaren nur Einrichtungen sehen, welche der Spiegelung des eigentlichen seelischen Wesenskernes des Menschen dienen. Dieser Wesenskern aber ist nicht in das Innere des physischen Organismus, sondern in das Transzendente zu verlegen. Und Geistesforschung wäre dann als der Weg zu denken, sich in das Wesen dessen einzuleben, was sich spiegelt.

Selbstverständlich bleibt dann die gemeinsame Grundlage der Gesetze des physischen Organismus und jener des Übersinnlichen hinter dem Gegensatz: "Wesen und Spiegel" liegen. Doch ist dies gewiß kein Nachteil für die Praxis der wissenschaftlichen Betrachtungsweise nach den beiden Seiten hin. Diese würde bei der charakterisierten Festhaltung des Gegensatzes in zwei Strömungen fortfließen, die sich gegenseitig erhellen und erläutern. Denn es ist ja festzuhalten, daß man es in der physischen Organisation nicht mit einem von dem Übersinnlichen unabhängigen Spiegelungsapparat im absoluten Sinne zu tun hat. Der Spiegelungsapparat muß eben doch als das Ergebnis der sich in ihm spiegelnden übersinnlichen Wesenheit gelten. Der relativen gegenseitigen Unabhängigkeit der einen und der anderen von obigen Betrachtungsweisen muß ergänzend eine andere, in die Tiefe gehende, gegenübertreten, welche die Synthesis des Sinnlichen und Übersinnlichen anzuschauen in der Lage ist. Der Zusammenschluß der beiden Strömungen kann als gegeben gedacht werden durch eine mögliche Fortentwickelung des Seelenlebens zu der charakterisierten intuitiven Erkenntnis. Erst innerhalb dieser ist die Möglichkeit gegeben, den Gegensatz zu überwinden.

8.4.1911, GA 35, S. 139ff.

Naturwissenschaft und Religion – was will Zander eigentlich?

Das obige Zitat, in dem Zander Steiner ein „schwärmerisches Grundgefühl“ unterstellt, setzt sich folgendermaßen fort:

[859:] Noch 1921 wollte der [es muss heißen „er“, H.N.] „durchaus festgehalten“ wissen, „daß der Ursprung und die Quelle der Anthroposophie in naturwissenschaftlichen Erwägungen liegt“ (GA 342,173). Veränderungen stellen nur Modulationen dieses Cantus firmus dar.


Die Quelle ist eine Besprechung im Rahmen des ersten Priesterkurses. Auf dieser Besprechung nach dem fünften Vortrag am 15.6.1921 ging es um eine zwischen Christian Geyer und Hermann Heisler aufgekommene Streitfrage, ob Anthroposophie Religion sei:

Emil Bock: Pastor Geyer sagt: Die Anthroposophie ist überhaupt keine Religion, sie ist nur Wissenschaft und kann insofern wie jedes Weltbild die Religion befruchten, während auf der anderen Seite wenigstens eine Schrift von Herrn Dr. Heisler so verstanden worden ist, die Anthroposophie soll die Religionsübung ablösen; und in den Diskussionen, die man kennt, war immer die Antithese da. [...]

Hermann Heisler:
Die Antithese kam dadurch zustande, daß Geyer sagte, wenn ich alles das annehme, was Dr. Steiner sagt, hätte das für mein religiöses Leben gar keine Bedeutung. – Und daraufhin sagte ich: Das ist falsch, denn Anthroposophie ist gewiß keine Religion, aber sie wird notwendig Religion, wenn sie richtig erfaßt wird, und bildet die Religion. – Wenn die Theologie richtig ist, so strebt sie nach Religion; es ist ganz gleichgültig, was ich für eine Theologie habe; und ebenso ist es mit der Anthroposophie.


Und in diesem Zusammenhang sagt Steiner dann das folgende:

Sehen Sie, es muß durchaus festgehalten werden: Das ist im allgemeinen Kulturgang notwendig, daß der Ursprung und die Quelle der Anthroposophie in naturwissenschaftlichen Erwägungen liegt. Das ist das erste, das muß festgehalten werden. So daß man also nicht vertreten könnte, daß Anthroposophie etwa direkt an die Stelle der Religion treten kann oder daß Anthroposophie als solche nur eine Religionserneuerung ist. Das, was von mir Ihnen gegenüber betont worden ist, ist, daß man Anthroposophie braucht zur Religionserneuerung und daß eine besondere religiöse Strömung gesucht werden muß, die Anthroposophie brauchen kann. Das muß scharf hervorgehoben werden. [...]
Sehen Sie, bei Geyer ist zu berücksichtigen, daß er vor allen Dingen mit seiner Kirchenbehörde nicht in Widerspruch kommen will. Geyer ist durchaus nicht auf dem Standpunkt, daß er für sich nicht auch wesentlich religiöse Impulse von der Anthroposophie erwartet. Im Gegenteil, er hat sehr viele religiöse Impulse von der Anthroposophie bekommen und zweifellos auch für die Predigt Impulse bekommen. Aber das, was er da sagt, muß er heute sagen, weil man eben, wenn man nicht diesen Trennungsstrich zieht, hinausgeworfen wird [aus der Kirche].
15.6.1921, GA 342, S. 173f.


Das heißt also: Er muss scharf hervorheben, dass Anthroposophie keine Religion ist. Die „naturwissenschaftlichen Erwägungen“ bestehen in nichts anderem als in der Grundlegung der Anthroposophie in vollster Bewusstseinsklarheit (siehe oben). Zugleich muss Steiner betonen, dass Anthroposophie sehr wohl die tiefsten religiösen Impulse geben kann.

Zander nun muss beides leugnen: Dass Anthroposophie berechtigte religiöse Impulse geben könne und dass sie wissenschaftlich sei. Zugleich behauptet er sowohl die „Faszination“ Steiners für die Naturwissenschaft und dass Anthroposophie eine Religion sei! Mit dieser lächerlichen Karikatur kann man natürlich alles entwerten...

Und so legt Zander Steiner immer alles zum Schlechteren aus, dreht ihm aus allem einen Strick. Nochmals ausführlich:

Dass Steiner die Leistungen der Naturwissenschaft auf ihrem Gebiet neidlos und bewundernd anerkannte, ist ohne Zweifel – das tat er auf jedem Lebensgebiet. Hätte er es aber weniger getan, hätte Zander ihm daraus um so mehr den „theosophischen Strick“ gedreht... Aber dass Anthroposophie nicht wissenschaftlich ist, stand für ihn ohnehin außer Zweifel. Zugleich behauptet er, Anthroposophie sei Religion. Einen Passus wiederum, wo Steiner gerade dies scharf zurückweist, unterschlägt er, benutzt aber einen Satz daraus, der ihm „belegen“ helfen soll, das Steiner von der Naturwissenschaft fasziniert war. Wenn Steiner betont, dass die Anthroposophie aber sehr wohl berechtigte religiöse Impulse gebe, weist Zander dies wiederum zurück, denn als katholischer Theologe muss er auch das natürlich ablehnen...

Was Steiner auch tut – er macht es falsch und wird von Zander ins Gegenteil interpretiert. Die Anthroposophie darf nicht wissenschaftlich sein - aber Steiner darf von der Naturwissenschaft in "schwärmerischem Grundgefühl" fasziniert sein. Die Anthroposophie muss Religion sein, aber sie darf keine berechtigten religiösen Impulse geben. Mit anderen Worten: Steiner darf ein naturwissenschaftlich-religiöser Schwarmgeist sein, dem im übrigen aber jede Berechtigung auf naturwissenschaftlichem oder religiösem Gebiet abgesprochen werden muss.

Die Frage ist nur: Woher nimmt Zander angesichts seines eigenen Erkenntnis-Pessimismus das Recht, über die Frage höherer Erkenntnis, über Reinkarnation usw. irgendein Urteil haben zu können?