24.05.2011

Zanders Polemik und seine Gedanken

In dem Aufsatz „Autorität und Erlösung“ (NZZ vom 26.2.2011) schreibt Zander folgendes:

Bisher hast du nur dich selbst erlöst, nun kannst du als ein Befreiter alle deine Genossen in der Sinnenwelt mit befreien. – Zurück ins Herzstück von Steiners Überzeugungen mit diesem Zitat aus dem Schulungsweg. Der eingeweihte Theosoph, der durch viele Reinkarnationen gegangen ist, braucht keinen Erlöser mehr. Selbsterlösung sieht Steiner als einen Akt radikaler religiöser Autonomie. Ein starkes Subjekt hat er schon seit seiner philosophischen Frühphase vor 1900 gleichsam verinnerlicht. Von einem Philosophen erwartet er, durch „das Denken“ am Weltganzen teilzuhaben. Zusammen mit dem nietzscheanischen Übermenschen taucht dieser Philosoph in der Theosophie und Anthroposophie wieder auf, jetzt als religiöser Homo faber. Dabei weiß Steiner durchaus, wie gefährdet dieses starke Subjekt ist, weil es am Tropf „des Denkens“ hängt oder weil es – theosophisch – im großen Geistigen aufgeht wie ein Tropfen im Ozean.
Dass er mit dem autonomen Subjekt die Erzhäresie des Christentums propagiert, die Selbsterlösung, hat Steiner nie geschert; vermutlich ist er sich anfangs der Dramatik dieser Frontstellung nicht einmal bewusst. Denn er zieht mit dieser Vorstellung nur die Konsequenzen seiner Subjekt-Theorie im Gewand der theosophischen Reinkarnationslehre: Der Mensch kann und er muss in wiederholten Erdenleben an sich arbeiten, er kann und muss sich erlösen. Geschenk, Gnade, Vergebung sind in dieser Logik so etwas wie Anzeichen fehlender intellektueller Zivilcourage.
Einige christlich geprägte Gemüter erschraken heftig vor dieser Radikalität. Aber Steiner war mit dieser Überzeugung nichts als konsequent. Warum sollte der am Ende seines Entwicklungsweges gottgleiche Eingeweihte nicht auch selbst seine Erlösung in die Hand nehmen? Noch seiner anthroposophischen Kirche, der 1922 gegründeten Christengemeinschaft, dekretierte er, dass die persönlichen Folgen der Sünde, also diejenigen, die wir selbst „bearbeiten„ können (im Gegensatz zu den „kosmischen„ Folgen, die unsere Kräfte übersteigen), durch „Selbsterlösung“ und unter Nutzung der „Christus-Kraft“ im Laufe verschiedener Reinkarnationen abzugelten seien. Das Wort „Vergebung“ streicht er aus dem Vokabular der Christengemeinschaft. In Steiners autonomem Subjekt kulminieren Selbstbestimmung und Leistungszwang.
Dieses autonome Subjekt prägt heute, wenn ich es richtig sehe, das anthroposophische Menschenbild stärker als früher. Viele Anthroposophen verstehen sich immer weniger als demütige Empfänger einer übersinnlichen, für die meisten unerreichbaren Erkenntnis. Man rückt Freiheit und Selbstbestimmung in den Vordergrund. Der autoritäre Steiner, der große Eingeweihte, wirkt, wenn man das Zeitalter der Selbstverwirklichung ausruft, wie von vorgestern.

Von offenbarten Geheimnissen und Erkenntnismut

Zanders lange Ausführungen kreisen um den Vorwurf der Selbsterlösung. Als dogmatischer Theologe hat er natürlich mitten im Text auch das entscheidende Verdikt versteckt: Erzhäresie des Christentums. Wohlan, also! Christen aller Gemeinden, vereinigt euch! Stehet fest im Glauben, fallet nicht ab, sondern wendet euch mit Grausen von diesem schlimmsten aller Häretiker!

Es ist möglich, dass Zander mit solchen Worten bei einigen „christlich geprägten Gemütern“ auf Bauernfang gehen kann – nämlich genau jenen, die vor Steiners Radikalität ohnehin „heftig erschrecken“ würden. Aber war jemals das „heftige Erschrecken“ ein Maß für die Wahrheit? Sagte nicht Christus selbst: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ – und erschraken die Menschen nicht sogar schon vor den Engeln, die er vor sich her sandte?

Mit den Engeln können heute selbst sehr „christlich geprägte Gemüter“ nicht mehr viel anfangen – von ganz sentimentalen Vorstellungen lieblicher Abziehbildchen abgesehen. Welche Engel-Vorstellung hat Helmut Zander? Nein, die Boten Gottes haben im Denken der Menschen keine Realität mehr. War es dagegen nicht Rudolf Steiner, der mit neuer Vollmacht radikal und real von den Engelshierarchien sprach? Der das Wissen um die ungeheuren Taten der Engel erneuerte? Wie könnte dann nicht jenes Wesen die allergrößte Bedeutung haben, dessen Boten und Diener die Engel nur sind?

Der Christus ist die zentrale Wesenheit in der Menschheits- und Weltentwicklung. Rudolf Steiner hat hier allergrößte Perspektiven eröffnet, die aus „christlich geprägten Gemütern“ wahrhaft tief innerliche Christen, wahrhaft durchchristete Menschen werden lassen könnten! Wenn sie diese Perspektiven nur in ihr Denken aufzunehmen vermöchten!

Wo beginnt die Gnade, wo endet sie? Es ist bereits Gnade oder Segen oder wie immer man es auch nennen mag, mit solchen Anschauungen überhaupt in Berührung zu kommen! Denn es sind nicht subjektive, persönliche „Anschauungen“, es sind wirklichkeitsgesättigte Imaginationen der geistigen Realitäten! Wohl dem, der sie als solche erkennt und dann staunend beginnt, sich in sie zu vertiefen, wissend, dass er sich hier den Geheimnissen der göttlichen Welt nähert, die heute zu wissen dem Menschen bestimmt sind. Und nicht nur wissen, sondern wirklich in sich aufnehmen sollen die Menschen diese Geheimnisse – sie sollen durch sie andere Menschen werden.

Und demgegenüber: Wehe denen, die diese Geheimnisse zurückweisen, weil sie ihnen „zu schwer im Magen liegen“ oder weil sie den, der bestimmt war, sie zu verkünden, verkennen! Es wäre ihnen besser, sie wären nie geboren worden, denn sie weisen göttliche Wahrheiten zurück – und werden nach dem Tod auch in der geistigen Welt in Blindheit verbleiben. Diese Blindheit aber führt schließlich zum Seelentod...

Hier schon steht man vor der großen Verantwortung des Menschen. Zander kann mit alledem nichts anfangen, sieht darin nur eine Bedrohung – eine Bedrohung der bekannten, vertrauten, gewussten Lehren, eine Bedrohung auch seines „christlich geprägten Gemütes“. Wäre er doch nur gemüts-stark! Denn auch diese Verantwortung wird dem Menschen nicht auferlegt, aufgelastet, sondern sie wird ihm geschenkt, ist reine Gnade! Sie wird dem Menschen zu-gemutet. Der Mensch soll Mut haben, diese Verantwortung zu tragen. Aber man darf sich auch fragen, wer mehr Mut hatte. Die göttliche Welt hatte, wenn man es einmal so sagen darf, den größten überhaupt denkbaren Mut, als sie dem Menschen diese Verantwortung ... schenkte.

Wir sehen heute, wie ungeheuerlich dieser Mut war: Die meisten Menschen weisen diese Verantwortung zurück. Es sind zarte, angeblich „christlich geprägte“ Gemüter, die bereits vor der leisesten Verkündung von der Größe des Gottesreiches erschrecken und ohnmächtig zu zittern beginnen. Ihre Ohnmacht können sie nur dadurch verdecken, dass sie sich zu einer Schein-Macht aufschwingen und rufen: Fort mit den Engeln! Wir wollen nichts wissen von geistig-wesenhaften Hierarchien! Verbrennt diesen Erz-Häretiker!

Der letzte Ausruf war früher, vor einigen Jahrhunderten. Im Geiste aber lebt er fort. Die Menschen sind nicht stark genug für die Wahrheit. Der Mut Gottes war vergeblich. War er vergeblich?

Von einfachsten Wahrheiten und tiefen Fragen

„Ich habe euch noch viel zu sagen; aber ihr könnt es jetzt nicht tragen.“ Dieses Christuswort aus dem Johannes-Evangelium (16,12) gibt die ganze innere Situation auch des Menschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts wieder, ja es ist in den letzten 2000 Jahren, vor allem aber in den letzten einhundert Jahren, schlimmer geworden.

Und das liegt an dem menschlichen Hochmut. Die Wissenschaft braucht seit Laplace nicht mehr die „Hypothese Gott“. Aber auch die christlich geprägten Gemüter ruhen heute ganz im Verstand und haben es nicht nötig, sich in die göttlichen Geheimnisse und Rätselfragen zu versenken. Der heutige Verstandesmensch hat seine fertigen Wahrheiten. Man braucht es nicht „Dogmen“ zu nennen, aber es läuft darauf hinaus. Ganz einfache, simple „Wahrheiten“ sind es, mit denen sich die „christlich geprägten Gemüter“ zufriedengeben. Gott hat seinen Sohn gesandt, die Vergebung ist uns sicher. Das ist die Grundüberzeugung eines Helmut Zander – und noch einfacher können es auch die Aufkleber in der New Yorker U-Bahn nicht verbreiten.

Mit einem Hochmut sondergleichen geht der Theologe Zander gegen Rudolf Steiner vor, der ein Leben lang, in über 6.000 Vorträgen und vielen Schriften von den Geheimnissen der göttlichen Welt sprach – und immer wieder von Dem, der um der ganzen Welt willen durch den Tod ging.

Man muss sich doch allen Ernstes fragen: Geht es denn bei dem Streit überhaupt um Ihn? Bemerkt Zander überhaupt, dass es um Ihn geht? Dass wir Menschen, wenn wir kleinlich um „christliche Wahrheiten“ streiten, in Wirklichkeit um Seine Wahrheit streiten? Wo ist denn für Zander Christus mehr als ein Dogma? Als ein bequemes Ruhekissen? Als eine simple Verstandeswahrheit? „Christus ist für uns gestorben, die Vergebung ist uns sicher.“

Was hat es denn mit dem Tod des Christus auf sich? Was genau bedeutete das Ereignis auf Golgatha? Was geschah damals? Diese Fragen stellt Zander sich doch gar nicht mehr – und vielleicht hat er sie sich auch nie gestellt! Die meisten „christlich geprägten Gemüter“ wissen doch, was man dazu denken muss: Gott hat seinen Sohn gesandt, der alle Sünden auf sich nahm. Alle, die schon geschehen sind, und auch alle zukünftigen.

Wenn es denn so einfach wäre! Wie ist denn das Verhältnis zwischen dem neuen Bund, den Gott mit den Menschen nach der Sintflut schloss – und dem neuen Bund, den Gott schloss, indem er seinen Sohn sandte? Warum war nicht schon nach Noah „alles gut“? Vergisst Gott so schnell? Er hatte den Menschen doch vergeben, einen neuen Bund geschlossen? Nun also wiederum einen? Einen, bei dem sogar sein Sohn sterben musste?

Welche realen Vorstellungen knüpft Zander an diese Fragen? Sind es für ihn überhaupt Fragen? Oder sind das alles für ihn nicht mehr weiter hinterfragte Dogmen im Stile von: „So ist es eben! Lasst uns nicht darüber nachdenken, lasst uns lieber dankbar sein, dass es so ist. Die große Gnade verbietet eigentlich, darüber nachzudenken!“ – Nein, diese große Gnade gebietet gerade, möglichst tief darüber zu denken! Man erweist sich der Gnade erst als würdig, wenn man sich tief in sie versenkt, um sie in ihrem ganzen Ausmaß immer mehr zu erkennen.

Und erst, wenn man tief, tief nachdenkt – besonders wenn man ein „christlich geprägtes Gemüt“ hat bzw. ist –, wird man zu Erkenntnissen kommen. Die Erkenntnisse nämlich warten, bis man sie ertragen kann. Man kann dann immer noch erschrecken, aber man ist dann so stark, dass man sich nicht mehr abwendet. Solche Erkenntnisse sind wie Engel – sie kommen nicht zu jedem. Zur Zeitenwende erschien der Engel den Hirten auf dem Felde – und diese, mit ihren einfachen Gemütern, erwiesen sich seiner Verkündung als würdig. Sie nahmen sie auf in ihre Herzen und folgten ihr und fanden das Kind.

Heute verkünden die Engel wiederum den Einen, diesmal in der Sprache eines Menschen, der würdig war, die hohe Wahrheit in Worte zu fassen, weil er sich dazu fähig gemacht hatte. Der Auferstandene ist es, dessen Geheimnisse und gnadenvolle Taten heute in menschlichen Worten an Menschen herangetragen werden. Wer Ohren hat zu hören, der merke auf! Aber die Menschen wollen es nicht hören. „Das Licht kam in die Welt, aber die Welt nahm es nicht auf.“

Erkenntnisse als Gnade

Erkenntnisse sind reine Gnade – aber man muss die Gnade auch aufnehmen, sonst geht sie an einem vorüber und man bemerkt sie gar nicht. So, wie der Messias ungesehen an den Juden vorüberging, die ihn sogar ans Kreuz brachten. Welche Wahrheiten lässt Helmut Zander heute kreuzigen, weil er sie abweist?

Wir haben also überall Gnade – in den Taten des Christus, in der Gegenwärtigkeit des Auferstandenen, in dem Herankommen dieser göttlichen Tatsachen an den Menschen auch in Gedankenformen ... aber Zander redet nur von Gnade. Er will seine simple, für frühere Gemüter richtige und ausreichende Gedankenform bewahren – und sieht nicht, in welche ungeheure Tragik er sich verstrickt, weil er gerade dadurch Den zurückweist, der das Leben selbst ist, die Wahrheit selbst ist – aber eine lebendige, wachsende Wahrheit. „Ich habe euch noch viel zu sagen; aber ihr könnt es jetzt nicht tragen...“

Zander glaubt, dem Christentum, den christlichen Wahrheiten, einen Dienst zu erweisen, indem er an einer ihrer Formen festhält. An einer einzelnen, simplen, nicht einmal mehr lebendig empfundenen und innerlich erlebten Gedankenform. Es ist für ihn „die“ Wahrheit, und er besinnt sich noch nicht einmal darauf, dass auch in früheren Jahrhunderten ganze christliche Strömungen schon ganz anders von Christus gedacht und Ihn erkannt haben. Christus, der Herr der Elemente, wie ihn etwa die Kelten sahen, diese Menschen mit ihrer der realen Weltengeistigkeit so nahen Kultur. Wie kam es, dass gerade sie den Christus so tief innerlich in sich aufnehmen konnten? So real? So voll wirklich, dass viele aus ihrer Mitte bis tief nach Europa gingen, um ihr Christentum zu verkünden, wohl wissend, dass es bereits ein anderes Christentum gab, das römische?

Für Zander ist das eine Wahrheit, was die Kirche – und zwar eben diese römische Papstkirche – als wahr gefunden, beschlossen und verkündet hat. Andere Wahrheiten sind eben weniger wahr oder auch überhaupt nicht wahr, möglicherweise sogar die Erzhäresie des Christentums...

Schon bei den Erkenntnissen gilt: Jede Erkenntnis ist Gnade und Zumutung zugleich. Wenn man eine Gnade nicht erkennt und nicht annimmt, dann lädt man eine Schuld auf sich. Man muss das nicht in den römisch-katholischen Denkformen verstehen, die wirklich ganz vom römischen Rechtsdenkens geprägt sind. Es hat nichts mit Recht und Vergeltung zu tun, sondern es sind ganz objektive Tatsachen. Die Schuld besteht in einem objektiven Versäumnis. Und wenn ich etwas versäumt habe, kann ich es nicht wieder ungeschehen machen. Ich kann es zwar soweit wie möglich wiedergutmachen, indem ich mein Versäumnis nachhole – aber dazu müsste ich das auch wirklich tun!

Wenn man eine wahre Erkenntnis zurückweist, macht man sich eines Versäumnisses schuldig. Das ist ein objektives Geschehen, was zunächst nur für einen selbst Bedeutung hat. Die wahre Erkenntnis kann nicht an einen herankommen. Obwohl sie reinste Gnade ist – sie kann einen nicht erreichen, weil man selbst sie zurückweist.

Durch solche Gedanken erst nähert man sich langsam an die Realitäten der Frage der „Selbsterlösung“ an. Die göttlichen Wahrheiten vermögen nichts, wenn der Mensch sie nicht aufnimmt. So weit aber geht die Gnade nicht, dass sie den Menschen sogar gegen seinen freien Willen etwas denken lässt, was er nicht denken will. Dann nämlich wäre die Gnade keine Gnade, sondern furchtbarer Zwang, der die Menschen bis ins Denken hinein zu Marionetten werden ließe! Weil aber die Gnade die Freiheit des Menschen einschließt – und diese Freiheit sogar die allergrößte Gnade Gottes ist! –, so muss sie auch warten, bis der Mensch ihr so weit entgegenkommt, dass er sie, die Gnade, aufnimmt. Das zumindest muss der Mensch aus sich heraus tun: das Geschenk annehmen.

Die Erlösung, das Gemüt und das Denken

Der Mensch, der eine Gnade nicht annimmt und sie nicht erkennt, versäumt etwas. Er wird die Folgen tragen müssen – es wird keine Strafe sein, sondern es werden objektive Folgen sein. So wie eine Blume, die das rund um sie herum in der Erde befindliche Wasser zurückweist, verwelken muss. Da gibt es zwar noch den Gärtner, der sie gießen könnte, aber auch dieses Wasser muss ja über die Erde zu ihr dringen. So ist es auch mit der Gnade. Und mehr noch: Hier gibt es gar keinen Unterschied zwischen Erde und Gärtner – Christus ist der Gärtner, und er ist fortwährend gegenwärtig, und seine Wahrheiten wollen fortwährend an den Menschen herankommen. Aber der Mensch muss sie aufnehmen wollen...

Was nützen diese Wahrheiten, wenn man sie weiß? Sie nützen gar nichts, denn sie sind nicht zum „wissen“ gedacht. Es geht um Realitäten. Die christlichen Wahrheiten sind Realitäten, und sie wollen den Menschen real verwandeln. Sie haben die Kraft zu einer solchen Verwandlung, sie schenken ihre verwandelnde Kraft dem Menschen – wenn er sie aufnehmen will und ihnen „Wohnung gibt“.

Man besinne sich nur einmal tief auf die Gedanken des Paulus über den zweiten Adam. Wenn der Mensch sich mit Christus verbindet, so findet er die Kraft, in sich einen zweiten Menschen auferstehen zu lassen, Schritt für Schritt...

Aber ist denn daran das Denken unbeteiligt? Absolut nicht! Über Jahrhunderte genügte der Glaube an „Erlösung“ und „Vergebung“, um Menschen bis ins Innerste zu verwandeln, wahrhaft zu Christen werden zu lassen, zumindest sehr weitreichend. Heute ist dieser Glaube zu einem simplen Dogma geworden, das keine Verwandlungskraft mehr hat. Denn heute wird dieses Dogma nahezu nur noch in selbstbezogenem, egoistischem Sinne verstanden: Ich bin in Christo erlöst. Frühere Jahrhunderte erlebten in dieser Gnade Gottes noch den erschütternden Aufruf, es dieser Gnade gleichzutun, Christus nachzufolgen und wahrhaft christlich zu werden, das heißt aber: den Nächsten wie sich selbst zu lieben, zumindest immer wieder darum zu ringen.

Was ist heute davon übrig? Wenn überhaupt noch etwas, dann die Vorstellung, man würde dies nach wie vor versuchen. In Wirklichkeit ist doch alle innere Seelenkraft verschwunden, die ganze Kraft des realen Gemütes früherer Jahrhunderte. Es geht doch um seelische Realitäten! Das muss man doch sehen und auch empfinden können! Heute entwickelt der Gedanke: „Ich bin durch Christus erlöst“ keinerlei verwandelnde Kraft mehr! Auf diese verwandelte Kraft aber kommt es einzig und allein an, denn diese Kraft ist die Kraft des Christus! Mit anderen Worten: Heute ist die Wahrheit der Erlösung bloßer Gedanke geworden – damit aber ist die Wahrheit selbst irreal geworden, sie hat keine Realität mehr.

Auch hier geht es nur um die Realität im Menschen selbst. Die Wahrheit ist die gleiche, aber der Mensch kann sie nicht mehr erfassen. Er erfasst sie als toten Gedanken, aber der tote Gedanke wird nicht mehr zu einer lebendigen seelischen Entwicklung. Der tote Gedanke ist die zweite Kreuzigung Christi. Christus ist auferstanden und der Auferstandene ist gegenwärtig, aber er darf nicht mehr wirken, weil die Menschenherzen ihm keine Wohnung mehr geben, sondern die lebendige Wahrheit als tote Vorstellung in ihr Gehirn bannen!

Es wäre ein unendlicher Zirkel, ein regressus ad infinitum, wenn man nun wieder sagen würde: Aber Christus wird mich trotzdem erlösen. Wenn es nötig wäre, würde er auch mein Denken so lebendig machen, wie es sein muss, um ihn zu erkennen. Nein, eben nicht! Die größte Gnade ist die menschliche Freiheit, und wenn die „Christen“ den Christus nur noch als tote Vorstellung in sich aufnehmen wollen, dann verharrt die Gnade und wartet, gekreuzigt im Gehirn...

Die von Zander nicht gestellten Fragen

Für Zander sind dies alles überflüssige oder unverständliche oder häretische Gedanken. Er hält an dem Dogma „Erlösung“ fest und kümmert sich nicht darum, ob mit der Erlösungstat Christi nicht vielleicht doch noch reale Implikationen verbunden sind, die die Menschenseele betreffen und sie unmittelbar angehen und sie zu irgendetwas aufrufen. Hatte nicht schon der Vorverkünder, der Täufer, aufgerufen: Ändert euren Sinn! Und war nicht das ganze Leben Christi als Mensch auf Erden ein einziger Aufruf? Und Zander glaubt, er könne all dies in die fertige, simple Vorstellung der geschehenen Erlösung packen und sich vorstellen, dass der Mensch nach Christus schlicht und einfach erlöst ist, zumindest, wenn er daran glaubt?

Zander macht die welterschütternde Erlösungstat des Christus zu einem seelen-einschläfernden Dogma im Stile der New Yorker U-Bahn-Aufkleber! Der Christus wollte gerade aufwecken, die Dogmatiker, die in den Jahrhunderten danach beanspruchten, ihn verstanden zu haben, schläfern ein!

Wenn es so einfach wäre, dass die Menschen – zumindest, wenn es sich um „christlich geprägte Gemüter“ handelt – seit der Herabkunft und Auferstehung von Gottes Sohn „erlöst“ sind, wozu dann überhaupt das ganze Geschehen? Was ist die Erlösungstat Christi? Warum konnte Gott die Menschen nicht einfach so erlösen? Warum musste er seinen Sohn senden? Für den theologischen Dogmatiker ist die Antwort offenbar: Damit die Menschen die Erlösung erkennen! Damit wird die Tat Christi zu einer bloßen Zeichentat. Wie man es auch dreht und wendet, die Dogmatiker von der simpel verstandenen „geschehenen Erlösung“ kommen an die Widersprüche ihres eigenen Dogmas und an die wirklichen Realitäten nicht heran.

Auch für den Dogmatiker Zander erwartet doch „Gott“ etwas vom Menschen. Zumindest das, dass er die Erlösung erkenne. Aber worum geht es überhaupt bei der „Erlösung“? Von was soll der Mensch denn erlöst werden? Von was soll er erlöst werden, worin er jetzt noch gefangen oder verstrickt ist? Offenbar von der Sünde bzw. von seinen persönlichen, während des Lebens begangenen Sünden. Man sieht, wie gerade die simple Erlösungs-Vorstellung nicht loskommt (nicht erlöst wird!) von den römisch-juristischen Vorstellungen über die christliche Wahrheit.

Der Mensch begeht fortwährend Sünden, indem er gegen die christlich-göttlichen Gebote handelt. Diese Sünden aber werden ihm wiederum verziehen, wenn er daran glaubt, dass er in Christus erlöst ist.

Daran schließt sich mit voller Gewalt unmittelbar das Theodizee-Problem an: Warum ist das Böse in der Welt? Warum lässt Gott das Böse zu? Warum lässt er zu, dass wir böse sein können? Dass wir Sünden begehen? Und warum sind wir erlöst, wenn wir an Christus und seine Erlösung glauben? Will Gott uns nur auf die Probe stellen, ob wir auch glauben können? Der Mensch begeht Sünden, Gott erlöst ihn, indem er seinen Sohn schickt, und testet aber, ob wir brav genug sind, an unsere Erlösung auch zu glauben, die unmittelbar dann eintritt, wenn wir an sie glauben, vorher aber eben doch noch nicht so ganz richtig?

Die Fragen und Implikationen zeigen das ganze Ausmaß der Naivität solcher Vorstellungen. Sie sind nicht falsch, aber sie sind viel zu naiv und oberflächlich, um die Realität zu erfassen und eines modernen Menschen würdig zu sein. Es geht doch immer um wirkliche Realitäten! Selbst in diesen simplen Dogma-Vorstellungen sitzt ein letzter Rest von Realitäten, wenn es darum geht, dass man glauben soll und dass erst dieser Schritt etwas „bewirkt“, was vorher eben noch nicht Wirklichkeit werden kann. Wie ein letzter Hauch deutet auch dies noch auf seelische Realitäten, auch wenn es wirklich nur noch wie ein automatischer Mechanismus vorgestellt wird.

Heute aber wollen die wirklichen Realitäten an den Menschen herankommen! Heute wollen die wirklichen Erkenntnisse, die realen christlichen Geheimnisse vom Menschen aufgenommen werden. Heute will der Auferstandene selbst nicht mehr kindliche Gemüter – denn diese gibt es nicht mehr –, sondern erwachsene Geister. Der heutige Mensch ist zur Erkenntnis fähig, und diese Erkenntnis wird ihm zugemutet, wenn er ein wirklicher Christ werden will. Andernfalls wird er – und in Zukunft immer mehr und mehr – nur noch ein armseliger Tropf sein, der sich wie der Wagner in Goethes „Faust“ oder wie die Zeugen Jehovas an seinem allereinfachsten Weltbild festhält und glaubt, die ganze Welt sei darin beschlossen. Der Trieb des Menschen nach simplen, fertigen, bequemen Vorstellungen und seine Furcht vor weit werdendem, geiststarkem, wahrheitssuchendem Erkenntnisstreben, sie sind doch erschütternd!

Selbst-Gefangenschaft und das Geheimnis des Menschen

So denkend kommen wir auch an die Wahrheit der „Selbsterlösung“ heran. Sie kann überhaupt nicht verstanden werden, wenn man nicht zuerst in voller Tragweite die heutige Wirklichkeit der „Selbst-Gefangenschaft“ erkennt! Denn bevor man überhaupt von Erlösung, Selbsterlösung oder was auch immer sprechen kann, muss man darauf schauen, was denn der Zustand vor dieser Erlösung ist!

Dieser Zustand besteht nicht nur in all den Versäumnissen gegenüber den christlichen „Geboten“, sondern auch in den Versäumnissen gegenüber der umfassenden Erkenntnis des christlichen Mysteriums. Es geht nicht nur um äußere, sondern auch um innere Versäumnisse. So wenig, wie es reicht, dass ich einem Bettler 10 Cent gebe, um die „christlichen Gebote“ zu erfüllen, so wenig reicht es, zu glauben, dass ich „in Christus erlöst“ sei, um die christlichen Geheimnisse zu erfassen. Beide Versäumnisse hängen miteinander zusammen, und hier geht es wiederum um objektive Schuld. In dem Maße, in dem der Mensch wirklich in die christlichen Geheimnisse erkennend hineinwächst, in dem Maße wächst er auch in die geist-reale moralische Welt hinein, die man äußerlich „christliche Gebote“ nennt. Und umgekehrt!

So groß also, wie das wirkliche Geheimnis der Liebe ist – unfassbar, unermesslich –, so groß ist auch das Geheimnis der Erkenntnis! Nur eine völlig abstrakte, sich selbst blind machende Vorstellung kann glauben, man könne das eine „haben“, ohne das andere zu verwirklichen. Wie kann man nur glauben, dass die Erlösung so einfach sei, wie Zander und andere sie sich vorstellen, um nur nicht irgendwelche inneren Schritte machen zu müssen?

Darin aber liegt das Geheimnis der „Selbsterlösung“: Dass mit dem Menschen gerechnet wird! Dass der Mensch kein kindliches Geschöpf Gottes ist, das irrt und sündigt und dann gnädig dennoch erlöst wird – und am Ende der Zeiten mit all seinen Unvollkommenheiten in den Himmel erhoben wird... Sondern dass der Mensch wahrhaft Mensch werden soll. Dass er ein großes Geheimnis in sich birgt, ja dass er überhaupt das größte und tiefste Geheimnis Gottes ist, dass er dieses Geheimnis – und damit sich selbst – aber überhaupt erst wahrmachen muss.

Das ist das große Geheimnis des Menschen – und es ist reine Gnade, dass es dieses Geheimnis gibt und dass die göttliche Welt dem Menschen zutraut, ein Wesen zu sein, das sich entwickeln darf! Reinste Gnade, aber Zander macht daraus ein Monster, indem er den Mantel der Verdammung über das Wort „Selbsterlösung“ wirft!

Ist nicht jedes Kind ein Geschöpf Gottes und entwickelt sich, wird mehr und mehr eigen, bis es sich von den Eltern löst, um seine Wege zu gehen? Möchte Zander auch dies als „Selbsterlösung“ verdammen? Ist aber nicht dies auch mit gemeint, wenn Christus sagt: „So ihr nicht werdet, wie die Kinder...“ Das Kind ist das Urbild des sich entwickelnden Menschen. Das Kind trägt noch die ganze Kraft der Entwicklung in sich – auch dies durch die Kraft des Christus, der der Hüter des Geheimnisses der Entwicklung des Menschen ist.

Und gibt es nicht unzählige Gleichnisse Christi, die auf dieses Geheimnis hinweisen? Die törichten und die fleißigen Jungfrauen? Die Gäste der königlichen Hochzeit? Das anvertraute Pfund? Wie kann man all dies auf die simple Vorstellung reduzieren, damit sei immer nur gemeint, dass die einen „zum Glauben kommen“ und die anderen nicht!? Wer das tiefe Geheimnis der Vorbereitung der Seele nicht erkennt, der geht an einem solchen Gleichnis vorüber, um es ebenfalls zu einer bequemen, toten Vorstellung einzuschrumpfen!

Die Mystiker wussten, dass es darauf ankommt, Christus in der eigenen Seele zu gebären. Warum aber sollte es darauf ankommen, wenn man schon durch den Glauben erlöst ist? Dann wäre es doch ganz unnötig, ja vielleicht sogar schon eine Häresie, von einer solchen Geburt zu sprechen ... wahrscheinlich sogar die Erzhäresie der – Selbsterlösung!?

Erlösung „gratis“ und andere Begriffslosigkeiten

Wer nicht erkennt, wie „Selbsterlösung“ und Gnade untrennbar miteinander verbunden sind, der versteht das christliche Geheimnis überhaupt nicht. Er klammert sich an das Dogma der Fremderlösung, nämlich rein einseitig durch Christus, und reduziert die eigene Bedeutung auf den „Akt des Glaubens“, der wiederum in wirklich naivster Weise als simpler Akt des „Ja-Sagens“ vorgestellt wird. Aber wer wollte nicht „Ja“ sagen, wenn man die „Erlösung“ sozusagen gratis bekommt? Vielleicht besteht die Abneigung mancher Menschen gegen das „Christentum“ gerade in der Abneigung gegen solche hoch-naiven Vorstellungen, die eine Beleidigung für jedes tiefere spirituellere Wissen sind, das, wenn auch unbewusst, in jeder menschlichen Seele verborgen liegt?

Die „Selbsterlösung“, von der Rudolf Steiner spricht, ist nicht jene „Selbsterlösung“, die Zander sich vorstellt. Für Zander ist die „Selbsterlösung“ von vornherein eine Sünde. Man könne sich nämlich gar nicht an Christus vorbei erlösen, es ist also im Grunde eine Illusion. Ja, es ist eine Illusion und eine Erzhäresie, und damit werden alle Menschen, die ihr anhängen, definitiv unerlöst in der Hölle leiden. Das ist Zanders Vorstellung.

Steiners Begriff ist, dass der Mensch fähig ist, seine Seele zu entwickeln – und dass die göttliche Welt ihm diese Entwicklung zutraut und zumutet; vor allem aber: dass diese göttliche Welt dem Menschen diese Möglichkeit und jene dazu gehörende Fähigkeit ... geschenkt hat. Die erste Voraussetzung, die Steiner macht, wenn er von „Selbsterlösung“ spricht, ist also jene: Sowohl die Möglichkeit, als auch die Fähigkeit zur Entwicklung ist das größte Geschenk der göttlichen Welt, denn es ist das eigentliche Geheimnis des Menschen. Die zweite Voraussetzung, die Steiner macht – zumindest in den letzten zwanzig Jahren seines Lebens, in denen er sein ganzes Lebenswerk und seine großartigen Schilderungen geistiger Wirklichkeiten entfaltet –, ist, dass die Möglichkeit und die Kraft zu dieser Entwicklung sich ganz konkret dem Christuswesen verdankt. Das ist Steiners Erkenntnis.

Sieht man nun, dass Zanders Verdikt auf Steiners Begriff gar nicht anwendbar ist, dass es ins Leere geht?

Wer sich jedoch keine eigenen Gedanken dazu macht, geht Zanders toten Vorstellungen in die Falle. Die Gleichheit der Worte hindert ihn, reale Begriffe zu bilden und reale geistige Wirklichkeiten zu erfassen.

Steiners „Subjekt“ hängt nicht am „Tropf des Denkens“ oder geht „im großen Geistigen auf wie ein Tropfen im Ozean.“ – Dagegen ist Zander durch sein totes Denken, im Grunde ein Nicht-Denken, völlig aus dem Geistigen herausgefallen und wandelt wie ein toter Stein auf der trüben Erde.

Damit hängt zusammen, dass Zander auch von der Reinkarnation keinen Begriff bilden kann. Für ihn verflüchtigt sich die Individualität gerade im Laufe von so vielen Inkarnationen! Das wäre ungefähr so, als wenn ein Kind sagt: Ich will nicht Jahr um Jahr älter werden, meine Individualität verflüchtigt sich ja immer mehr! Für Zander ist die Individualität nur „gesichert“, wenn der Mensch nach einem Leben mit all seinen individuellen Unvollkommenheiten und Versäumnissen in den Himmel kommt. Und sei es, nachdem er schon als Baby gestorben war. Außerdem geht es ihm um den Körper, den der Mensch in diesem Leben hatte, während auch das Ablegen des Leibes nach jeder Inkarnation einer Verflüchtigung der Individualität gleichkommt.

Wenn jemand solche naiven Vorstellungen von Reinkarnation und dem „Wert“ eines Lebens hat, dann kann man ihn doch nicht mehr ernst nehmen, wenn er aus diesen Voraussetzungen heraus meint, über „Selbsterlösung“ etwas sagen zu können!? Jedes einzelne Leben hat unendliche Bedeutung und ebensolchen Wert, aber diese Bedeutung und dieser Wert liegen nicht in dem Körper, den ein Mensch hatte, und seine Individualität hängt in keinster Weise von diesem Körper ab!

Gnade und Leistungszwang – eine selbstgemachte Polarität

Zander polemisiert: Der Mensch „kann und muss sich erlösen“. Steiners Gedanken würden einem „Leistungszwang“ entsprechen, Geschenk, Gnade und Vergebung seien so etwas wie Anzeichen fehlender intellektueller Zivilcourage. Extremer kann man das eigene Unverständnis nicht dokumentieren! Dabei ist es Zander selbst, der in den Denkformen von „Schuld und Vergebung“ von „Gnade und Leistung“ verhaftet bleibt. Jedes Denken in solchen simplen Polarisierungen geht an der christlichen Wahrheit aber vorbei. Das ist die Ursünde des römischen Katholizismus, dass es diese an Recht und Vergeltung orientierten Gedankenformen in das Christentum hineingetragen hat!

Zander wirft Steiner vor, er lege über alles das „Tuch“ seiner anthroposophischen „Weltanschauung“ – dabei ist er es, der über die Rätselfrage der christlichen Geheimnisse das Tuch seines polarisierenden und zugleich viel zu oberflächlichen Denkens wirft und die wirklichen Fragen damit erstickt!

Erst wenn man sich fähig macht, solches Denken in Gegensätzen zu überwinden, kommt man dazu, ganz anders denken zu können. Dann werden innerer Seelenmut und Vergebung zu aufeinander bezogenen Aspekten der gleichen Wirklichkeit. Dann ist der Schritt, die Entwicklung der Seele in die Hand zu nehmen, fern von jedem „Leistungszwang“ keine Selbsterlösung, sondern der Entschluss, der Gnade entgegenzugehen. Dann erkennt man in der geschenkten Möglichkeit der Seelenentwicklung zugleich den Aufruf und die innere Notwendigkeit, diese Möglichkeit zur Erfüllung zu bringen. Dann empfindet man es immer mehr als „Sünde“, diese Möglichkeit nicht mit aller Kraft zu ergreifen. Dann ist die innere Entwicklung nicht ein „Leistungszwang“, sondern das höchste christliche Gebot – das so freilassend ist, dass es niemals auch nur ausgesprochen wurde, weil der Mensch es in Freiheit finden muss!

Zander verhält sich im Denken (bzw. seinen fertigen Vorstellungen) wie ein Kind, das sich trotzig auf den Boden wirft und ruft: Ich will mich nicht entwickeln! Eure mir geschenkte „Möglichkeit“ ist doch in Wirklichkeit nur Leistungszwang! Ich „kann und muss“ mich entwickeln! Nein, diesem Fluch schwöre ich ab und vertraue auf die schon geschehene Erlösung! Christus wird mich schon entwickeln, oder aber Entwicklung ist überhaupt nicht notwendig!

Oder auch: Wie wenn der Mann im Gleichnis von dem anvertrauten Pfund dem Christus vorwerfen würde: Du hast mir dieses verfluchte Pfund anvertraut und mich damit unter einen unerträglichen Leistungszwang gesetzt! Nimm es zurück, ich will es nicht!

Zander polemisiert weiter: „Noch seiner anthroposophischen Kirche ... dekretierte er, dass die persönlichen Folgen der Sünde ... unter Nutzung der ‚Christus-Kraft’ im Laufe verschiedener Reinkarnationen abzugelten seien.“

Es ist Zanders Denken, dass in diesen Kategorien verbleibt, nicht Steiner. Dennoch muss sogar Zander die „Christus-Kraft“ erwähnen! Fern von jeder Ehrfurcht vor den Realitäten, von denen hier gesprochen wird, unterstellt er jedoch, diese Kraft werde selbstisch „genutzt“, um dem „Leistungszwang“ zu entsprechen und karmische Folgen „abzugelten“. Tatsache aber ist, dass es um objektive Folgen geht.

Die Wirklichkeit der Erlösung

Nehmen wir nur das rein Innerliche: Eine Seele, die einmal gelogen hat, ist nicht mehr die gleiche wie zuvor – und sie kann es auch nicht mehr ändern, sie kann nicht zurück ins „Paradies“. Sie kann immer nur vorwärts und kann trotz der Lüge um so energischer den Weg zum Guten wählen. Das erfordert reale Kraft – und Steiner sagt nichts anderes, dass diese reale Kraft letztlich die Kraft des Christus ist bzw. ohne Ihn nicht entfaltet werden kann. Paulus wies darauf hin, dass der Mensch vieles wünschen kann, dass aber ohne Christus der Geist zwar „willig“ sein, aber doch dem schwachen Fleisch verhaftet bleiben wird. Genau um diese Realitäten geht es.

Die Erlösung ist eben nicht „geschehen“, sie hat sich nicht in vollem Umfang ereignet, so dass der Mensch nun etwa erlöst sei. Sondern es ist ein Keim gelegt worden, und der Mensch muss dieser Gnade entgegengehen, er muss die Gnade aufnehmen, muss sich wie im Gleichnis der königlichen Hochzeit würdig machen, das heißt aber: Er muss die Entwicklung seiner Seele in die Hand nehmen. Dass er dies kann, verdankt er ebenfalls der Erlösungstat des Christus. Tun muss er es aber trotzdem.

Wer mit Hilfe der Kraft Christi die von den göttlichen Welten geschenkte Möglichkeit der Entwicklung ergreift, macht sich auf den Weg, der geschehenen Erlösung entgegenzukommen und diese so zu einer auch ihn umgreifenden vollen Wirklichkeit zu machen. Das ist die „Selbsterlösung“. Es ist ein Entwicklungsweg, der ohne Christus nicht möglich wäre, auf dem der Christus einen in jedem Augenblick begleitet und auf dem der Auferstandene mehr und mehr erkannt wird, weil man sich mit Ihm real verbindet, mehr und mehr.

Das ist das christliche Mysterium. Es wurde in vielen Jahrhunderten von vielen Menschen empfunden. Heute soll es tiefer und tiefer erkannt werden.

Man muß wahrhaftig eigentlich recht wenig christlichen Sinn haben, wenn man das Christentum so interpretiert, wie es viele machen, die da glauben, sich echte Christen nennen zu dürfen, und die andere, zum Beispiel anthroposophische Christen, verketzern. Man muß wenig christlichen Sinn haben. Es darf ja vielleicht die Frage erlaubt sein: Ist es denn wirklich christlich, zu denken, daß ich alles tun darf und der Christus eigentlich nur in die Welt gekommen ist, um mir das alles abzunehmen, um mir meine Sünde zu vergeben, so daß ich mit meinem Karma, mit meiner Sünde nichts mehr zu tun habe? Ich glaube, es ist ein anderes Wort anwendbar auf eine solche Denkweise als das Wort „christlich“; vielleicht wäre das Wort „bequem“ besser als das Wort „christlich“. Bequem wäre es ja allerdings, wenn man bloß zu bereuen hätte, und ausgelöscht wäre dadurch für sein ganzes späteres Karma alles das, was man in der Welt verbrochen hat. Nein, aus dem Karma ist es nicht ausgelöscht, aber davon kann es ausgelöscht werden, wohin wir wegen der menschlichen Schwäche, durch die luziferische Verführung, nicht selbst dringen können: von der Erdenentwickelung. Und das tut der Christus. [...]
Das Gefühl wird entstehen in der Menschheit, wenn sie es ernst nimmt mit dem Christus, daß man sich dieses Christus, der in uns lebt, würdig erweisen soll dadurch, daß man es immer gewissenhafter und gewissenhafter nimmt mit diesem Christus, diesem kosmischen Prinzip in uns. Ja, man kann es recht gerne glauben, daß diejenigen den Christus nicht als kosmisches Prinzip nehmen wollen, die bei jeder Gelegenheit ihr Vergehen bereuen wollen, erst hübsch lügen über die Mitmenschen, und dann austilgen möchten diese Lügen. Derjenige, der sich des Christus in seiner Seele würdig erweisen will, der wird erst prüfen, ob er eine Sache sagen darf, auch wenn er augenblicklich von ihr überzeugt ist.
15.7.1914, GA 155, S. 190ff.

Postskriptum I: Ein Exkurs in Zanders Kontext

Zander liebt ja die Kontexte, die ihm, einmal konstruiert, die wissenschaftliche Objektivität verbürgen. So sei nun auch hier ein Kontext hergestellt, der zeigt, welches Erbe Zander angetreten hat und welche Anschauungen sein Denken bestimmen.

Nach dem Vortrag vom 2. März 1920 wurde an den Ausgängen eine Gegnerschrift verteilt. Vermutlich handelt es sich um die vom „Quell-Verlag“ der Evangelischen Gesellschaft in Stuttgart unter dem Titel „Die Anthroposophie Rudolf Steiners“ herausgegebene Pamphletschrift (Nr. 7 aus der Reihe „Prüfet die Geister. Blätter zur Abwehr gefährlicher Irrtümer“ o.J.). Dort schreibt der anonyme Verfasser: „Aber auf diesen Höhen, wo der Wahn der Selbsterlösung die Gemüter umnebelt, weht eisige Luft. Wie warm und wohl ist uns ums Herz in der Nähe unseres Erlösers, des Herrn Jesus Christus. Der geschichtlichen Persönlichkeit und dem Kreuzestod unseres Erlösers wird Steiner nicht im mindesten gerecht. [...] Und das phantastische Gerede über die Tat von Golgatha zeugt von völliger Verständnislosigkeit für den Kreuzestod Christi, der als freiwillige Hingabe des heiligen Gottessohnes für arme verlorene Sünder uns die Gewissheit eines gnädigen persönlichen Gottes gibt. Was nützt das dunkle Gerede vom Astralleib der Erde, der im Augenblick von Golgatha in andern Farben aufleuchtet(!) einem schuldbeladenen Menschen, dessen Seele nach einem gnädigen Gott schreit? [...].“
GA 335, S. 368, Anmerkung 75.


Zander ist zwar „Wissenschaftler“, daher wird man bei ihm diese Sprachformen nicht finden – aber er steht in der Tradition dieser Vorstellungsart, die offenbar so unterschiedlichen Strömungen wie dem römisch-katholischen Macht-Christentum, den Zeugen Jehovas oder eben hier der Evangelischen Gesellschaft des Jahres 1920 eigen ist. Diese Vorstellungsart will die Menschenseele mit der Überzeugung durchtränken, er sei ein „armer verlorener Sünder“. Mit dem heutigen Bewusstsein bemerken wir sofort den üblen Subtext. Er hielt die Menschen in einer ungeheuren seelischen Abhängigkeit von den Kirchenoberen und von den eigenen Gewissensqualen, die Predigten und Texte wie dieser in die Seelen infiltrierten.

Statt den Mut zu einer inneren Entwicklung aufzurufen und zu unterstützen, wurde die Sündhaftigkeit und totale Abhängigkeit von „Erlösung“ und „Vergebung“ betont. Man hat den starken Eindruck, dass diese sogenannten „Seelenhirten“ gar nicht wollten, dass ihre Schäfchen bessere, moralischere Menschen wurden. Sie sollten sich nur ganz untergetaucht in die Sünde empfinden... Und der Erlöser („unser Erlöser, der Herr Jesus Christus“) wurde angepriesen, als müsse man die Leser des Pamphlets unbedingt noch „auf Linie“ bringen, diesen Erlöser auch wirklich tief demütig zu verehren. Nicht etwa freiwillig sollte die Ehrfurcht sein, sondern man musste sie den Schäfchen sogar noch in einer apologetischen Schrift mit aller Deutlichkeit „aufdrücken“. Vor allem durfte man sie nicht ihrem eigenen Urteil überlassen, sondern musste um jeden Preis verhindern, dass auch nur ein Funken Interesses für die Anthroposophie erwachte! (Und wir wissen, dass erst recht Zanders katholische Kirche seit Jahrhunderten eine Meisterin dieser psycho-invasiven Machtausübung ist).

Selbst wenn man zuvor überzeugter Kirchenchrist war, würde man beim Lesen eines solchen Blättchens „zur Abwehr gefährlicher Irrtümer“ den unmittelbaren Drang verspüren, diese hoch-autoritäre Kirche und ihre süßlich zwingenden Suggestionen mit fliegenden Fahnen zu verlassen!

In dieser Tradition aber steht Zander. Der Mensch ist sündig. Christus ist der Erlöser. Denkt nur immer daran, bei Tag und bei Nacht! – Man kann den Menschen das schuldbeladene Bewusstsein aber nicht von außen einbläuen, erst recht nicht mehr heute. Wieviele Menschen gibt es heute wohl noch, die sich als „verlorene Sünder“ empfinden oder gar „nach einem gnädigen Gott schreien“? Und was ist mit allen anderen? Was sagt der Theologe Zander dazu? Braucht es das Schuldbewusstsein, um erlöst zu werden? Und was ist dann mit all den Menschen, die nicht an Gott glauben? Oder braucht es das Schuldbewusstsein nicht, weil alle Menschen erlöst sind? Dann kann man also weiter sündigen?

Zander wird mit diesen Aporien nicht fertig. Vor einigen Jahrzehnten konnte man die Menschen noch zum Sündenbewusstsein zwingen – und die Aporie umgehen. Heute geht das nicht mehr. Und die Frage stellt sich: Was ist mit den zahllosen Menschen ohne Sündenbewusstsein, ohne Glauben an den Erlöser? Gilt die Erlösung allen Menschen oder nur den „bekennenden Sündern“? Wie beantwortet Zander, der Katholik, diese Frage?

Postskriptum II: Die Verwandlung des Denkens ... und Willens

Die niederländische Anthroposophin Mieke Mosmuller gibt in ihrem tief beeindruckenden Buch „Der Heilige Gral“ eine Schilderung der realen Vorgänge, die sich ereignen, wenn sich das Denken von allem Sinnlichen und Leiblichen befreien lernt - und damit von der „Erbsünde“. Ihre Schilderungen zeigen, wie dieses Geschehen der Selbsterlösung zutiefst mit dem gnadevollen Wirken Christi zusammenhängt. Einen kleinen Auszug aus ihrem Buch findet man hier

In Romanform finden sich die Geheimnisse von Selbsterlösung und Gnade, dem realen Gnadewirken des Christus, eindrücklich in ihrem Buch „Inferno“. Auch hier ein Auszug, um einen ersten Eindruck zu geben.