26.05.2011

„Anthroposophie in Deutschland“ (2018)

Eine künftige Geschichte der „Anthroposophie in Deutschland“ wird unter Kapitel 9 „Rezeptionsgeschichte“ einen Unterpunkt 9.4 „Helmut Zander“ haben. Darin wird es heißen:


9.4. Helmut Zander

Die bis dahin größte Monografie der Anthroposophie wurde 2007 von dem katholischen Theologen und Historiker Helmut Zander (*1957) veröffentlicht: „Anthroposophie in Deutschland. Theosophische Weltanschauung und gesellschaftliche Praxis 1884-1945.“ Zu dieser Zeit lehrte er kurzzeitig als Privatdozent für Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Die fast 2.000 Seiten umfassende Monografie war in Teilen zugleich Zanders Habilitationsschrift.

Bereits 1995 hatte Zander die vergleichende Studie „Reinkarnation und Christentum. Rudolf Steiners Theorie der Wiederverkörperung im Dialog mit der Theologie“ veröffentlicht. Schon hier hatte Zander ganz vom katholisch-theologischen Standpunkt aus argumentiert und die Reinkarnation als unvereinbar mit der katholischen Dogmatik verworfen. Entsprechend geprägt blieb seine Sicht, als er dann in seinem Hauptwerk versuchte, den „bisherigen Forschungsstand“ zusammenzufassen und auszuwerten.

Obwohl das Werk zunächst nur in einer kleinen Auflage von 250 Exemplaren erschien, löste es sofort eine umfassende Diskussion aus. Hierbei traten dann die Mängel des Werkes schnell zutage. Einzelne Anthroposophen zeigten monographisch für einzelne Themenbereiche (so u.a. Halfen 2007, Selg 2007, Strawe 2007) oder aber umfassender (Ravagli 2009) die Fehler – falsche Aussagen bzw. Fehldeutungen – auf, andere wiesen grundsätzliche methodologische Mängel nach (vgl. unter vielen anderen wiederum Ravagli 2009, sowie vor ihm Swassjan 2007, daneben Meyer 2007, Röschert 2007, Niederhausen 2011, vollständige Bibliografie siehe Literaturliste).

In den genannten Kritiken wurde u.a. darauf hingewiesen, dass Zander für sich zwar beanspruchte, „aus der Außenperspektive“ zu schreiben, dass er aber eine bestimmte Methode – die historisch-kritische und hier wiederum die u.a. an O.G. Oexle anschließende extrem positivistische Strömung – verabsolutierte, während die Vielfalt anderer Herangehensweisen, insbesondere die heute längst etablierte und schon früh von Gadamer, Meinecke u.a. weithin bekannt gemachte hermeneutische Methodik vollkommen ausgeblendet wurde. Man kann sagen, dass Zander der letzte große Vertreter jenes radikalen Historismus war.

In den (populär-gesellschaftlichen) Medien wurde Zander im Erscheinungsjahr 2007 trotz der „Außenperspektive“ als „Experte“ für Anthroposophie gehandelt. Es folgten mehrere Berichte in den Printmedien, sowie Interviews auch im Hörfunk. Die Publizität Zanders ebbte dann schnell ab, um 2011 noch einmal kurz anzusteigen, als er im Jahr des 150. Geburtstages von Rudolf Steiner im Piper-Verlag eine populärwissenschaftliche Biografie veröffentlichte, die er im Untertitel „Die Biografie“ nannte.

Anlässlich dieser „Biografie“, in der er im wesentlichen die Fehldeutungen seines Hauptwerkes wiederholte, flammte die Diskussion um dieses erneut auf und zog sich in großer Schärfe bis in das Jahr 2013 hin. Vier Jahre zuvor hatten Historiker und führende Esoterik-Forscher Zanders Werk trotz der Materialfülle nicht der Erwähnung wert befunden. Im Sommer 2013 jedoch griffen schließlich weltweit etwa 20 Wissenschaftler in die Diskussion ein und bestätigten im wesentlichen die gesamte von anthroposophischer Seite vorgebrachte Kritik. Auslösend für das Ende der öffentlichen Berichterstattung wurde dann vor allem der Ausspruch des führenden Esoterikforschers Redgrave (USA), der in einem nachfolgend überall zitierten Fernseh-Interview sagte: „Ich verstehe nicht, wie ein Mann 15 Jahre seines Lebens opfern kann, um dann so etwas vorzulegen!“

Eine unmittelbare Folge dieses Diskussionsprozesses war der Zusammenschluss eines zunächst 14-, am Ende 23-köpfigen Forscherkollegiums, das Zanders Werk einer umfassenden Prüfung unterzog und in Zusammenarbeit mit dem Archiv am Goetheanum (Dornach, CH) und weiteren anthroposophischen Forschungseinrichtungen sowie Einzelpersonen alle falschen Angaben richtigstellen konnte. Insbesondere aber veränderte sich die Deutungsperspektive umfassend. Dieser Forschungsprozess zog sich über fünf Jahre hin, in deren Verlauf zunächst mehrere Monografien den Arbeitsstand dokumentierten, um dann im September 2018 in das hier vorliegende Werk zu münden.

In den letzten zwei Jahren vor Fertigstellung wurde die Forschung erneut von einer umfangreichen öffentlichen Diskussion begleitet. Im Zuge dieses öffentlich stattfindenden Diskurses wurde Steiner nicht nur vollauf „rehabilitiert“, sondern erreichte mit seiner Person und seinem Gesamtwerk überhaupt erstmals größere, über die anthroposophische Bewegung hinausgehende Anerkennung und öffentliches Interesse. Bereits 2017 musste der Rudolf Steiner Verlag etwa „Die Philosophie der Freiheit“ in einer ungewöhnlich großen 11. Auflage von 50.000 Exemplaren nachdrucken. Der Prozess der Steiner-Rezeption im Lichte einer vollen Anerkennung der Geistesforschung „nach naturwissenschaftlicher Methode“ ist seitdem in vollem Gange und dürfte auch im nächsten Jahrzehnt noch nicht seinen Abschluss finden.

So muss man sagen, dass gerade Zanders Hauptwerk das Verständnis für Rudolf Steiner als größten Esoteriker der Neuzeit und als Begründer der Geisteswissenschaft (Anthroposophie) eingeleitet hat. Selbstverständlich wäre ein solcher Prozess nie möglich gewesen, wenn sich nicht zeitgleich genau in diesen Jahren die Esoterik-Forschung rasant entwickelt hätte. Dieses in doppeltem Sinne historische Zusammentreffen führte dazu, dass innerhalb von sieben Jahren eine Entwicklung möglich wurde, die sonst wohl ein halbes Jahrhundert oder länger gedauert hätte.