24.07.2011

Auszug aus "Das Menschliche Mysterium"

Mieke Mosmuller: Das Menschliche Mysterium. Lebenskräfte, Bildekräfte, Gestaltung des menschlichen Leibes. Occident Verlag 2011 (234 S., 22,50€). | > Buchbesprechung. | Buchbestellung frei Haus

Aus dem Kapitel "Der Weg des Rosenkreuzers und der Mystik" (S. 69-82)

Bevor die Betrachtungen nun wirklich in den Leib hineinführen können, ist es notwendig, noch einmal ganz klar zwischen dem Weg des Rosenkreuzers und dem Weg der Mystik zu unterscheiden.

Durch mystische Versenkung kann der Mensch viele übersinnliche Erkenntnisse gewinnen. Es ist der Weg in das Innere des Menschen. Unvorbereitet führt dieser Weg jedoch zu einer Mischung aus seelischen und leiblichen Erkenntnissen, durchwoben vom eigenen Ich. Deshalb war im Mittelalter die große Forderung an die Mystiker, den Egoismus völlig zu überwinden. Für unser Vorstellungsleben bleiben dies aber abstrakte Worte, die man leicht sagen kann, ohne in die Wirklichkeit des Gesagten unterzutauchen. Rudolf Steiner brachte den Rosenkreuzerweg als Gegensatz zur Mystik, oder besser gesagt, als sichere und notwendige Vorbereitung zur Mystik.

Der Kern des Rosenkreuzerweges liegt darin, dass der Weg in die geistige Welt zuerst nach außen führt, in den Kosmos hinein, in die Welten außerhalb des menschlichen Innern, außerhalb der egoistischen Seele, außerhalb des undurchschaubaren Leibes. Dieser Weg wird dadurch gegangen, dass der Mensch eine starke, unerhört kräftige Konzentration des Denkens aufbringt. Das kann er durch Meditation, wie oben für die Rosenkreuzmeditation beschrieben. Das kann er auch durch die Entwicklung des ‚heiligen Begreifens’, eines Denkens, eines Begreifens, das so vollkommen losgelöst vom sinnlichen Wahrnehmen und Denken lebt, dass es sich mit Moralität, mit moralischem ‚heiligem’ Begreifen verbindet, eins damit wird. Das ist eine ungeheure Anstrengung des Denkens – dieses braucht so viel Kraft, dass es in sich selbst völlig einsichtig wird, d.h. seine eigenen Inhalte und Anstrengungen anschauen kann.

Hier liegt eine Quelle ‚tätiger Missverständnisse’, denn die Energie, die da aufgewendet werden muss, wird gewaltig unterschätzt. Auch die ‚Beobachtung des Denkens’ (angeregt durch die Ausführungen Rudolf Steiners in seiner ‚Philosophie der Freiheit’) wird entweder für Untersuchungen des Denkens nach gewöhnlich ‚wissenschaftlicher’ Methode gehalten [R. Ziegler], oder sie wird zu simplen Übungen vereinfacht [z.B. J. Strube]. Man findet auch dann etwas Reales, und das Einfache wirkt anziehend; aber vergessen oder übersehen werden dann ganz und gar die gewaltige Anstrengung und Verzögerung, die im Denken gefordert werden, wenn es sich für die Spiritualität im Sinne der Rosenkreuzer bereit machen will. Der Mensch bleibt entweder im wissenschaftlichen Denken, oder er steigt in die beim gewöhnlichen Denken stattfindenden Leibesverrichtungen hinunter.

Man muss jedoch über sich hinaus, sich von seinem alltäglichen Selbst buchstäblich loslösen. Das erfordert diese bis ins Unendliche zu steigernde Konzentration und Andachtskraft. Man muss lernen, sich aus seinem Blut ‚abzusondern’, sich nur in seinem zentralen Nervensystem zu halten. Dies ist das leibliche Korrelat der Anstrengungen zur Erlangung des reinen Denkens. Es darf während der Übung keine einzige Berührung der Gedankenkräfte mit dem Blut mehr geben. Die reine Seele trennt sich vom leiblichen Ich, sie erhebt sich außerhalb des Ego zu ihrem reinen Willen, ihrem reinen Ich. Sie hält sich nur im zentralen Nervensystem, fern vom Ich-Blut. Das ist die Bedeutung der Konzentration, der Entwicklung zum sinnlichkeitsfreien Denken, das ist die Grundlage, der Untergrund. [...]

Solange man noch eine Beeinflussung des Denkens durch Handbewegungen bemerkt, ist der Nerv im ZNS noch mit dem Blut verbunden. Strebt man in diesem Zustand nach einer Ausschaltung des Denkens, so bringt man in mystischer Weise den Verstand zum Schweigen, aber ohne bewusste Überwindung des Ego im Blut, das selbstverständlich ganz unbewusst wirkt. Der Übende wechselt – durch das Abdämpfen des Verstandes – zu einem anderen Nervensystem, er lernt, ein Bewusstsein im sympathischen Nervensystem zu haben, was er eigentlich nicht haben darf. Mit diesem kann er sich nach außen wenden, der äußeren Natur zuwenden und da die Kräfte wahrnehmen, die vom Verstand überdeckt werden. Er kann mit Hilfe von Bildvorstellungen auch nach innen schauen lernen und so mit karmischen Kräften im Blut in Berührung kommen. Und weil unser Leib ungeheuren Einflüssen der zunehmenden elektromagnetischen Wirkungen ausgesetzt ist, werden auch diese Wirkungen angeschaut, teilweise als solche erkannt, teilweise unerkannt.

Deshalb ist der Rosenkreuzerweg für den Abendländer der geeignete Weg. Es ist der Weg der Konzentration des sinnlichkeitsfreien reinen Denkens bis zur Loslösung des Nerven vom Blut. Die Eindrücke im ZNS spiegeln sich in sich selbst, laufen in sich selbst zurück, wodurch sie angeschaut werden können. Der Egoismus bleibt im Blut, das Denken wird egoismusfrei. Dadurch aber wird es zum Gefäß für das Moralische, das es erfüllt. Hat dieses selige, heilige Denken genügend Bestand, kann es sich mit dem reinen Willen in sich selbst halten, so wird eine neue Mystik möglich [vgl. GA 128].

Das reine Ich kann sich dann im reinen Denken halten, und zugleich kann der Mensch lernen, seine Sinne vorstellungsfrei zu betätigen. Es tritt dieselbe Tätigkeit ein, die auch der unvorbereitete Mystiker praktiziert. Nur ist das Denken nicht – wie in der von Dorian Schmidt beschriebenen Bildekräfteforschung – in den Leib zurückgelenkt und dadurch zum Schweigen gebracht, während das Haupt wach bleibt, sondern es bleibt völlig losgelöst vom Körper im sinnlichkeitsfreien Denken als reiner Wille erhalten. Die Gedankenkonzentration (Meditation) hält das Denken vom Blut losgelöst, das sinnlichkeitsfreie Denken befreit sich auch noch aus dem Gehirn. Der Kopf wird also nicht vom Willen zum Denken entlastet, sondern ein gesteigerter Denk-Wille erhebt sich ‚über’ den Kopf. Es stülpt sich gleichsam der gewöhnliche Mensch nach oben um: Zuerst ist da das reine Kraftdenken, dann das reine Ätherherz, und ganz ‚oben’ treibt der höhere Wille. Das ist etwas ganz, ganz anderes als: ‚Wenn die Willensgrundlage für das Denken nachlässt, lässt auch die Denkbereitschaft nach. Dem Kopf können dann die Gedanken so entschwinden wie das Wasser aus einem Becher entschwindet, wenn der Abflussstopfen weggenommen wird.’ [D. Schmidt]. Dies ist die Bewegung der Mystik ohne vorangegangene Erhebung zum reinen Willen, zum reinen Denken, das über dem Kopf bleiben soll, wenn die Gedanken schweigen.

Auf dem rosenkreuzerischen Weg ist also eine Art umgekehrter Mensch außerhalb des Leibes ungeheuer tätig und werden zugleich die rein geistigen Sinneswahrnehmungen rein, ohne Gedanken, aufgenommen – den ganzen Körper, den ganzen Menschen durchdringend, bis zur vollständigen Sättigung [vgl. GA 322]. Durch die Tore der Sinne kann sich der Mensch in sein Inneres versenken, und er kann das systematisch vollziehen. Er kann den Ausgangspunkt in seinem reinen Willen nehmen und so bewusst allmählich immer ‚leiblicher’ werden, im Geiste, während er das Ich im reinen Denken hält. [...]

Unser Denken wird von einem Willen getrieben, der moralisch ist, der seine Wurzel in der geistigen Welt hat, im ‚höheren Devachan’, wie man sagt. Daraus stammt unser jetziger Wille, der auch ‚Ich’ heißt, der sich aber frei vom Leibesblut geistig bewegt. Dieses Ich ist vollkommen sinnlichkeitsfrei. [...]

Das befreite Ich ist das reine Ich, das sich mit seinem freien Willen in Tätigkeit versetzen kann, indem es das Denken in Gang setzt und sogar den ganzen Erkenntnisprozess willentlich und erkennend durchschaut und erzeugt. [...]

Wir haben uns jetzt also mit aller uns zur Verfügung stehenden Kraft außerhalb unseres Körpers gebracht, so dass wir den Körper als ‚Du’ erleben, nicht mehr als ‚Ich’. Das höhere Ich betätigt sich in der konzentrierten Denkkraft oberhalb, außerhalb des Leibes, und zugleich fangen wir an, ganz behutsam, vorsichtig und systematisch objektiv in den Leib hineinzusteigen. Das eigentliche Denken bleibt außerhalb im Ich, der tätige Astralleib, vom heutigen Ich losgelöst, geht als schauende, fühlende Willenskraft in den Leib hinein. Wir arbeiten nicht mit dem Verstand, wir arbeiten mit einer schauenden Willenskraft, die nur Tätigkeit und Wirklichkeit kennt. Wir verwachsen nicht mit demjenigen, was wir untersuchen, obwohl wir uns damit vereinigen. In der Vereinigung bleibt der objektive Standpunkt erhalten.