01.08.2011

Allgemeines und unvermittelt einsetzende Behauptungen

Zunächst sei in der notwendigen Ausführlichkeit der Gedankengang des Buches nachgezeichnet.

Im Vorwort [7-11] gibt Judith von Halle eine Einstimmung auf die große Individualität Rudolf Steiners. In einer „persönlichen Vorbemerkung“ [13-27] blickt sie auf die Veröffentlichungen zum 150. Geburtstag und auf die Tendenzen selbst innerhalb der anthroposophischen Gesellschaft, Rudolf Steiner zu einem normalen Menschen, „Kind seiner Zeit“ usw. zu machen, zu einem

[...] Menschen wie du und ich, mit vermeintlichen Schwächen und Fehlern, über die man selbst – als aufgeklärter Anthroposoph der Gegenwart – natürlich erhaben ist und von denen man sich zu gegebener Zeit vor der Welt zu distanzieren weiß. – Eine Vorstellungskonstruktion von respektabler Hybris [...]. Das Sich-zu-eigen-Machen der Erkenntniswelt Rudolf Steiners bei gleichzeitiger Demontage ihres Schöpfers ist eine seltsame Form unserer kränkelnden seelisch-geistigen Verfassung geworden. [17]
Man zieht Rudolf Steiner eher auf das eigene Niveau herunter, anstatt sich zu bemühen, sich zu seinem hinaufzuarbeiten oder vielleicht zunächst erst einmal hinaufzuschauen. [20]


Sie wolle daher im folgenden auf Rudolf Steiner als einen Meister der Weißen Loge hindeuten.

Zu Beginn von Teil I trägt sie dann zusammen, was Rudolf Steiner an wenigem über die Weiße Loge gesagt hat, etwa, dass sie den Plan für die Erdenentwicklung ausarbeitet [29ff]. In Übereinstimmung damit stehe das Auftreten Rudolf Steiners und die Veröffentlichung der Geheimwissenschaft [36ff]. Die zwölf Meister würden je ein menschliches Wesensglied in seiner Vollkommenheit repräsentieren, wobei sich immer sieben auf Erden inkarnieren [39ff]. Träger der Inspiration des Bewusstseinsseelenzeitalters sei die Individualität Christian Rosenkreutz’, die Anthroposophie wiederum ist das wahre Rosenkreuzertum in seiner heutigen Form [42ff]. Dabei sei die Offenbarung höherer Weisheiten gefährlich und müsse weiterhin in Stufen und unterschiedlicher Weise erfolgen [45ff]. Immer wieder wartete Rudolf Steiner auf eine Frage, und alles, was er gab, sei Opfertat gewesen [48ff].

Durch einen einzelnen Meister wirke immer die gesamte Loge und durch sie hindurch wiederum eine noch höhere Wesenheit, es entstehe die Imagination einer Himmelsleiter, die ihren festen Grund im Geistigen habe [52ff]. Dann geht sie auf das ein, was Steiner über die Möglichkeit gesagt hat, sich ein Abbild des Ich des Jesus von Nazareth einzuverweben und ein „Christophor“ zu werden [56f], sowie über die Kopien des Ätherleibes, Astralleibes und Ich des Christus selbst [58ff] und zuletzt auch des physischen Leibes, des Phantoms [61ff]. Dann blickt sie auf die daraus sich ergebende Perspektive der künftigen Menschheitsentwicklung [64ff].

Im weiteren geht sie auf die verschiedenen Möglichkeiten ein, in der die Meister auf Erden erscheinen können, auf den Ausdruck „in demselben Leibe“ [69ff], auf die Inkorporation [72f] und auf das Erscheinen im Phantomleib [74ff].

Teil II (Zur okkulten Biographie Rudolf Steiners) beginnt sie mit dem Hinweis darauf, dass die Begründung der Anthroposophischen Gesellschaft mit der schwerwiegenden Trennung von der Theosophischen Gesellschaft einherging [83]. Dabei habe das Rosenkreuzertum dafür gesorgt, dass eine beginnende Zusammenführung der seit der lemurischen Zeit getrennten spirituellen Strömungen hätte eintreten können [84]. Doch Annie Besant handelte gegen die Meister des Ostens und die Loge, als sie sich mit Leadbeater verband und Krishnamurti zum wiederverkörperten Christus erklärte [85].

Damit der Plan der Weißen Loge dennoch weiter verfolgt werden könne, habe sich Rudolf Steiner „als zu der Zeit einziger inkarnierter Meister“ [!] den östlichen Meistern auf neue Weise zuwenden müssen, damit die Impulse des C.R. überhaupt noch wirksam werden konnten. Dies entspreche einer Meditationsskizze, die Rudolf Steiner an Ita Wegman gab und die R.St. und C.R. rechts und links vor dem Altar des Ostens zeige [86].

Dann verweist Judith von Halle auf eine Bemerkung Steiners, dass „jedes Mal, in jedem Jahrhundert, die rosenkreuzerische Inspiration so gegeben wird, dass niemals der Träger der Inspiration äußerlich bezeichnet wird.“ [GA 130, S. 233]

Man dürfe erst nach hundert Jahren äußerlich davon sprechen, da die Gefahr einer „fanatischen Heiligenverehrung“ bestehe und natürlich fortwährend okkulte astrale Attacken gegen eine solche Individualität gerichtet würden [87ff]. Judith von Halle begründet dann, dass seit Rudolf Steiners Tod zwar erst 86 Jahre vergangen sind, dass sich aber „einige okkulte Gesetze [...] innerhalb der letzten Jahrzehnte verändert haben“, was mit den Beschleunigungen im Zusammenhang von Ahrimans bevorstehender Inkarnation zusammenhänge. Die größte Gefahr liege heute darin, die Größe und wahre Bedeutung von Rudolf Steiners Individualität zu verkennen [91f].

Rudolf Steiner von der Schwarzen Loge zur Lüge verdammt?

Der zweite Grund für ihr Sprechen über „die okkulte Biographie Rudolf Steiners“ sei, dass man sich nun auf ein genaues Geburtsdatum festgelegt habe [93].

Während die Autobiographie vom 27. Februar spricht, findet sich der 25. Februar in einer handschriftlichen Aufzeichnung Rudolf Steiners und in einem Brief von Eugenie von Bredow. Die neuerliche Festlegung auf den 27. Februar beruht auf der Bewertung des Taufregisters und eines späteren Taufscheines. Da auf letzterem die laufende Nummer 25 stehe, werde behauptet, Rudolf Steiner habe sich verlesen. [95]

Judith von Halle geht von der von Steiner selbst genannten Geburtszeit 23.15 Uhr aus und schildert, wie unwahrscheinlich es ist, die nach jeder Geburt nötigen Prozesse, das schließliche Bemerken der Blutung des verbundenen Nabels, das Zurückrufen der Hebamme (von Steiners Schwester bestätigt) und das Holen der Paten mitten in der Nacht (falls sie nicht schon anwesend waren, wie G. Aschoff unterstellt) in 45 Minuten unterzubringen, um zu einer Nottaufe am 27. Februar zu kommen. [96ff]

Völlig unvermittelt und unbelegt sagt sie dann, Rudolf Steiner habe

„[...] in allerengsten Kreisen auf einen seine eigene Individualität betreffenden ganz außergewöhnlichen Umstand hingewiesen, auf den man durch geisteswissenschaftliche Forschungsbemühungen aufmerksam werden kann [...]: [...], dass sich das Leben Rudolf Steiners, seine okkulte Biographie, vollzog in einer gewissen Analogie zu dem Lebensgang des Christus Jesus. [99]


Dann kommt sie darauf, dass die Inkarnation dieser „Meister-Individualität“ von den gegnerischen Mächten bekämpft wurde [100ff]. Der Schreibgehilfe im Pfarrhaus zu Draskovec sei ein Werkzeug der Schwarzen Loge gewesen. Der Eintrag im Taufregister entstelle die Wahrheit gleich zweifach: Geburts- und Taufdatum wurden gleichgesetzt und statt Rudolf Josef Lorenz wurde Adolphus Josephus Laurentius eingetragen! Wäre der falsche Name Adolf bekannt geworden, hätte dies Steiners Auftrag gänzlich unmöglich gemacht. Was die Verfälschung oder Unterschlagung der wahren Lebensdaten gerade für hohe Individualitäten bedeute, zeige sich insbesondere auch an Kaspar Hauser [103ff].

Dann behauptet Judith von Halle wiederum völlig unvermittelt und unbelegt, dass die Individualität des Meisters der Weißen Loge, die „später Rudolf Steiner genannt wurde, nicht schon mit der Geburt des Knaben Rudolf Steiner zur Erde herabgestiegen war“, woraufhin sie den Anschlag auf Steiners Taufdaten mit dem betlehemitischen Kindermord, wodurch Herodes das Gefäß für den Christus vernichten wollte, parallelisiert [108f].

Es folgt die ebenso unvermittelte, unbelegte Behauptung, mit zwölf Jahren habe Rudolf Steiner eine „bewegende innere Schau“ gehabt: „Vor seinem inneren Auge enthüllte sich die Verfälschung seiner Lebensdaten“, worauf er nach Draskovec gegangen und Einsicht in das Taufregister genommen habe – so wie Christus als Zwölfjähriger zu den Pharisäern in den Tempel ging [111].

Fünf Tage nach Erhalt seines Matura-Zeugnisses, im Juli 1879, dringt Steiner dann auf einen Taufschein mit den nötigen Änderungen. Für Judith von Halle ist dies ein ungeheuerlicher Kampf mit dem Diener der Schwarzen Loge, in dem es Steiner nur gelang, den Namen richtigzustellen, nicht aber den Geburtstag, und sie parallelisiert dies mit der Versuchung Christi, in der Ahriman einen „unbeantworteten Rest“ davontrug, indem er weiterhin Herr der materiellen Gesetze blieb [112ff].

Und nun behauptet Judith von Halle, seitdem sei Rudolf Steiner verpflichtet, ja regelrecht „verdammt“ gewesen, „fortan zeitlebens selbst das falsche Geburtsdatum anzugeben“, denn man stelle sich vor, er nenne den 25. Februar und eines Tages schwenke jemand den „amtlichen Beweis“ in der Hand, dass Steiner ein Lügner sei. Genau dieses Szenario aber sei eingetreten, weil nun zum vielbeachteten Jubiläum Steiners wahrer Geburtstag eben doch nicht endgültig unbekannt blieb, heute zwei verschiedene Aussagen Steiners in der Welt sind – und Helmut Zander seine „Biographie“ unmittelbar mit dem Vorwurf einer bewussten Lüge beginnt [115f].

Die Theosophischen Meister tauchen auf

Dann wendet sich Judith von Halle der Schilderung von Rudolf Steiner als einem Meister der Weißen Loge zu [120ff]. Da man hier „an das Ende dessen [kommt], was mit dem bloßen Denkvermögen ermittelt werden kann“, füge sie zunächst eine Art „Schwelle“ ein (einen Pfingstspruch Rudolf Steiners) und schreibt:

Eine „Schwelle“ muss man, wenn man nicht auf die Nase fallen will, mit Bewusstsein überschreiten. [122]


Sodann sagt sie wiederum völlig unbelegt, dass „in der Esoterischen Schule von den sieben Meistern sehr wohl gewusst wurde“ und dass dieses Wissen weitgehend demjenigen entsprochen habe, was auch innerhalb der Theosophischen Gesellschaft gelehrt wurde. Helmut Zander liege mit seinem Vorwurf des Plagiats völlig falsch, weil man auf der gleichen Stufe geistigen Erkennens nun einmal auch die gleichen Dinge erkenne.

Insofern ist es nicht verwunderlich und schon gar nicht ein Beweis für die Unglaubwürdigkeit der folgenden aphoristischen Angaben, wenn man diese auch irgendwo in der theosophischen Literatur findet. [...]
Was nun hier in Andeutungen wiedergegeben wird, war unter den persönlichen Schülern Rudolf Steiners, je nach Grad ihrer Einweihung, mehr oder weniger bekannt. [123f]


Nachdem Judith von Halle erwähnt, dass es u.a. gemalte Abbildungen verschiedener Meister gab, die Steiner für gewisse meditative Übungen aufzustellen empfahl, kommt sie ganz unvermittelt darauf,

dass es zwei Meister gibt, welche man vor seinem inneren Auge im Süden erscheinen lassen darf. Diese sind der sogenannte Venezianische Meister und der Meister Hilarion.


Dann erwähnt sie Meister Morya und Meister Kuthumi im Osten und Christian Rosenkreutz und Meister Jesus im Westen. Der entscheidende Punkt aber ist, dass Rudolf Steiner kein einziges Mal von dem Venezianischen Meister und nur ein einziges Mal nebensächlich von Meister Hilarion gesprochen hatte! Diese Meister finden sich nur in der theosophischen Literatur, ihre Siebenheit wurde dann zuerst von dem berüchtigten C.W. Leadbeater mit den „sieben Ausstrahlungen“ in Verbindung gebracht und schematisiert, was dann von Annie Besant, Alice Bailey und in der übrigen Literatur von den „aufgestiegenen Meistern“ fortgesetzt wurde.[1]

Judith von Halle jedoch setzt mit einem ungeheuren Anspruch, unter nur beiläufiger Erwähnung ihrer Quellen bei Rudolf Steiner, vor allem aber unter völliger Verwischung dessen, was nicht bei Rudolf Steiner zu finden ist, ihre Schilderung der Meister-Individualitäten fort:

Von dem Meister Hilarion wissen wir – ich gebe hier nur wieder, was in die Öffentlichkeit hinausgedrungen ist –, dass er der Impulsator der vierten nachatlantischen oder griechischen Kulturepoche war. Und man darf vielleicht über dies hinausgehend noch bekannt geben, dass Hilarion der Repräsentant der Vervollkommnung der Empfindungsseele genannt werden kann und dass der Venezianische Meister die Vervollkommnung des menschlichen Astralleibes repräsentiert. [125]


Durch die Schilderungen Judith von Halles [125f] ergibt sich folgendes Bild. Alle Angaben, die nicht von Rudolf Steiner sind, sind orange hervorgehoben:

  • M. Morya: 6. Epoche - M. der Willensschulung - phys. Leib
  • M. Kuthumi: 3./4. Epoche - M. der Wahrheit / Wahrhaftigkeitsschulung - Ätherleib
  • Venzian. Meister - Astralleib 
  • Hilarion: 4. Epoche - Empfindungsseele 
  • M. Jesus / Zarathustra: 4./5. Epoche - M. des intimen Inneren der Seele - Verstandes-/Gemütsseele
  • C. Rosenkreutz: 5. Epoche - M. der bewussten Entscheidung - Bewusstseinsseele 
  • Serapis: "geht durch" - Ich 


Aus den Mitschriften von Schülern aus esoterischen Stunden des Jahres 1906 [GA 264, S. 206ff] ist z.B. nur folgendes bekannt:

Meister Morya: Kraft, stärkt den Willen; gibt Aufschluss über das Ziel der menschlichen Entwicklung, führt die Menschheit ihrem Ziele zu.
Meister Kuthumi: Weisheit; weist die Wege zu diesem Ziel.


Vor allem aber stellt eine Fußnote in der GA 264 ganz ausdrücklich klar:

Bis zur Trennung des ersten esoterischen Arbeitskreises von der E.S.T. [Esoteric School of Theosophy, H.N.] im Jahre 1907 nannte Rudolf Steiner vier Meister, die mit der theosophischen Bewegung besonders verbunden sind: die beiden Meister des Ostens, Kuthumi und Morya, und die beiden Meister des Westens, Christian Rosenkreutz und Meister Jesus. Nach der Trennung sprach er nur noch von den beiden Meistern des Westens.

Meister Serapis erscheint

Judith von Halle erwähnt dann [132] selbst die Notiz, die sich Friedrich Rittelmeyer nach einem Gespräch mit Steiner gemacht hatte:[2]

Über den Organismus dieser Meister hat mir Dr. Steiner einmal gesagt, dass zwei im Osten wirken, zwei im Westen und zwei in der Mitte; einer aber „geht durch“. Das letztere habe ich im Sinne der Vermittlung aufgefasst und unter diesem einen Meister – ich weiß nicht bestimmt, ob es Steiner selbst gesagt hat – den Skythianos verstanden. Die zwei Meister in der Mitte sind wohl mit Sicherheit Christian Rosenkreutz und der Meister Jesus.


Aber sie fährt fort, indem sie ausführt, Rittelmeyer bleibe hier sehr vage. Generell habe sich Steiner, wenn ein Schüler keine eigenen Forschungsergebnisse hatte, in der Antwort „zurückgehalten und sich höchstens auf ein paar karge, kryptische Bemerkungen beschränkt“. Nicht selten hätten „unberechtigte“ Fragen den Schüler daraufhin weiter abgeführt und zu voreiligen Schlüssen verleitet. Dies sei die strenge Art der esoterischen „Erziehung“ der Gegenwart, die den Schüler frei lasse und auf seine Selbsterkenntnis baue [133].

Judith von Halle erwähnt dies angeblich nur „am Rande“, doch hat sie all diese Ausführungen wohl vorbereitet, indem sie zuvor auf eine Frage von Alma von Brandis in Bezug auf die Zwölfheit der Meister verwies, die angeblich eigenständige Erkenntnisse bezeuge und auf die Steiner detailliert antwortete. Es sei dahingestellt, ob die Antwort an Rittelmeyer wirklich so wenig tiefgehend war und auch, ob Alma von Brandis wirklich eigene Erkenntnisse hatte oder das, was sie aus mehreren früheren esoterischen Stunden verstanden hatte, noch einmal zusammenfasste und bestätigt haben wollte – jedenfalls dienen von Halles Ausführungen ihr dazu, Rittelmeyers Aussagen völlig zu entwerten, um daraufhin ihre eigenen „Erkenntnisse“ einzuführen.

Die Formulierung „geht durch“ greift sie dann wie nachlässig auf, um sie unvermittelt zu einem zentralen Gedanken ihrer eigenen Ausführungen zu machen:

Die im ersten Teil der Aussage Rittelmeyers in Anführungszeichen gesetzte Formulierung allerdings mag durchaus ein originales Zitat Rudolf Steiners sein und sollte, auch wenn sie denkbar kurz und in gewisser Weise ebenfalls „kryptisch“ ist, nicht unbeachtet bleiben, wenn man auf die Wesensart des siebenten Meisters zu sprechen kommen will: „einer aber ‚geht durch’.“ – Einer aber geht durch. [134]


Und dann setzt sie mit ihren zentralen, völlig unbelegten Behauptungen ein:

Der siebente Meister ist in seiner eigentlichen Wesenheit und ganzen Meisterwürde, also seinem besonderen Auftrage entsprechend, erst ein einziges Mal auf der Erde erschienen und zur vollen Geltung gekommen. Und da dieses Auftreten erst knapp einhundert Jahre zurückliegt [...] hat man für die Individualität des siebenten Meisters bislang einen besonders abstrakt anmutenden „Platzhalter“ verwendet, nämlich den Namen Serapis. [134]


Sie weist dann darauf hin, dass es sich natürlich nicht um die ägyptische Gottheit handle, der Name aber dennoch passend sei, weil „sera“ lateinisch der Torbalken sei.[3] Vor dem inneren Auge erscheine sogleich das TAO, das Kreuz, an dem sich die Schlange emporwindet. Und diese klinge auch mit (lat. serpens). Der siebente Meister sei nicht wie die anderen an eine bestimmte Region oder Zeit gebunden, er gehe „mitten durch“ eine Epoche hindurch, die von einem anderen geleitet werde, auch gewissermaßen überhaupt durch die anderen sechs Meister und ihre Impulse. In diesem Sinne sei Steiners Antwort an Alma von Brandis zu verstehen:

Frage: Enthält einer davon zum Beispiel die Eigenschaften des physischen Körpers zur Vollkommenheit entwickelt, also daß er die Harmonie der physischen Organe repräsentiert, ein anderer die Harmonie der Temperamente (also Ätherkörper) im physischen Körper zum Ausdruck bringt, ein anderer das Wissen in sich harmonisch repräsentiert (Astralkörper), ein vierter die genannten Eigenschaften empfindungsgemäß ausdrückt, ein fünfter die genannten Eigenschaften verstandesmäßig ausdrückt oder repräsentiert, ein sechster sie vollkommen bewußt ausdrückt und die anderen sechs beherrscht
(die Worte „und die anderen sechs beherrscht“ korrigierte Rudolf Steiner in:
„und von den anderen sechs beherrscht wird“)
Manas als 8., Buddhi als 9., Atma als 10., Heiliger Geist als 11. und Sohn als 12., diese fünf Individualitäten sind unsichtbar zur Zeit?
Antwort: Der 7. ist der Diener der anderen 6, wird von ihnen beherrscht und der 7. beherrscht dann die anderen 5, d.h. sie zur Verkörperung bringend. Es sind immer sieben inkarniert. Inkarniert sich der achte, so wird der erste nicht inkarniert.
GA 264, S. 201.

Steiner wird Serapis und dieser der Ausnahme-Meister

Nachdem Judith von Halle ausgeführt hat, dass dieses Dienen aufzufassen sei wie die Fußwaschung Christi, enthüllt sie:

Dieser siebente Meister der Weißen Loge kann durch die okkulte Forschung gefunden werde – und ich gedenke diese Aussage zu gegebener Zeit vor der geistigen Welt zu verantworten – in der Person Rudolf Steiners. [137]


Mit keinem Wort erwähnt sie, dass sie im Anhang ein entsprechendes Dokument angeblich von Edith Maryon zitieren wird, sondern beruft sich hier ausschließlich auf ihre eigene „okkulte Forschung“.

Nun fügt sie hinzu, dass sich auch das „beherrscht werden“ auf das Dienen beziehe (weshalb in der erwähnten Meditationsskizze nicht Meister Jesus, sondern Rudolf Steiner neben Christian Rosenkreutz stehe). Und dann sagt sie, die fünf nicht inkarnierten Meister würden die „irdischen“ Meister durch die Kraft des sie durchwirkenden Sonnenwortes, des Heiligen Geistes, inspirieren, der siebente Meister aber träte unmittelbar mit dem Sonnenwort in Verbindung und könne auch wieder auf die fünf im Geistgebiet zurückwirken – wie das menschliche Ich-Wesensglied.

Eine solche Differenzierung ist bei Steiner nicht zu finden. Er selbst sagt (von Judith von Halle auch zitiert):

Und wie einstmals als in einem lebendigen Welten-Symbole die feurigen Zungen herniederschwebten auf die Gemeinde, so waltet das, was der Christus selber als den Heiligen Geist gesandt hat, als das Licht über der Loge der Zwölf. Der Dreizehnte ist der Führer der Loge der Zwölf. Der Heilige Geist ist der große Lehrer derjenigen, die wir die Meister der Weisheit und des Zusammenklanges der Empfindungen nennen. Sie also sind diejenigen, durch die seine Stimme und seine Weistümer in diesem oder jenem Strom auf die Erde zur Menschheit herniederfließen.
22.3.1909, GA 107, S. 255.


Nach Judith von Halle erkläre sich die ungeheure Wortfülle und -präzision Rudolf Steiners durch seine unmittelbare Verbindung mit dem Logos selbst. Und als „kosmischer Repräsentant der Vollkommenheit des Ich“ habe er auf das namenlose Wirkung eines hohen Eingeweihten gerade verzichtet und sein Werk „ganz im Zeichen des sich selbst vor der Welt verantwortenden Ich ausgeführt“ [140].

Samwebers Küchentisch und von Halles Deutung

„Als Ergänzung“ bringt Judith von Halle dann das, was Anna Samweber als denkwürdige Antwort Rudolf Steiners auf die Frage, wer er sei, berichtet [140ff]:

Seine Individualität ziehe sich wie ein roter Faden durch die ganze Erdenentwicklung und sei schon vor deren Beginn dagewesen. Er fuhr mit folgenden Worten fort: „Wenn Sie mit Liebe und Begeisterung darüber nachsinnen, dann werden Sie noch in diesem Leben erfahren, wer ich bin.“


Richard Ramsbotham weist in seinem schon zitierten Aufsatz „Chinese Whispers“ im Europäer in dankenswerter Klarheit darauf hin, dass dieser Hinweis voll und ganz auf die gewaltige Perspektive bezogen werden kann, die die Inkarnationen von Aristoteles und Thomas von Aquino mit umfasse und von der Steiner sieben Monate später während der Weihnachtstagung sprach. Eine Identifizierung mit „Meister Serapis“ dagegen wäre ganz undenkbar, denn Rudolf Steiner hat eben niemals von einem Meister Serapis gesprochen – und auch von dem Meister, der „durch geht“, nur einmal im privaten Gespräch mit Friedrich Rittelmeyer.

Judith von Halle knüpft dann an die Kurve an, die Rudolf Steiner auf den Küchentisch von Anna Samweber zeichnete („die etwas scherzhaft gerne als die sogenannte ‚kosmische Badewanne’ erkannt werden kann“) und weist darauf hin, dass die Gottestat auf Golgatha den Wiederaufstieg der Menschheit möglich gemacht habe, dass aber Steiner auch auf die erschütternde Möglichkeit des Scheiterns hinwies, wenn die Menschheit die Kräfte nicht anwende, die sie nun ganz aus dem eigenen Inneren herausholen müsse.

Dass an dieser Stelle der Entwicklung der Menschheit der siebente Meister der Weißen Loge vor aller Augen erschien, um die Mysterienschulen zu öffnen und um damit dem eigenständigen Erkennen jedes Erdenmenschen durch die Übermittlung eines potentiell für jeden Menschen zugänglichen und durchführbaren Schulungsweges auf die Beine zu helfen, war das dringendste Gebot der Stunde. [146]


Dann geht sie noch auf das Verhältnis Steiners zu Meister Jesus (Zarathustra) ein. Obwohl Steiner gegenüber Wilhelm Rath und Friedrich Rittelmeyer sagte, das Meister Jesus „der Gottesfreund vom Oberland“ gewesen sei, antwortete er Alfred Meebold auf die Frage, ob in ihm (Steiner) Meister Jesus wirke: „Ja, aber nehmen Sie es nicht persönlich“ [148ff].

Dies ist für Judith von Halle Anlass, auf eine weitere „gewisse Analogie“ mit dem Leben Jesu hinzuweisen. Als ein „Christophor“ sei Steiner schon von Kindheit an ein Träger des Abbildes des Jesus-Ich gewesen, in ihm habe von Geburt an der Geist des Zarathustra (Meister Jesus) gelebt. „Die Philosophie der Freiheit“ sei ein Zeugnis „jener Weisheit, die durch den in ihm lebenden Zarathustra-Geist für die Menschheit hingegeben werden konnte.“ [151]

Obwohl Judith von Halle anlässlich der Zeichnung auf Anna Samwebers Küchentisch gerade sagt, dass sich Rudolf Steiners Individualität „tatsächlich gewissermaßen noch über die Stufe der ‚Meister-schaft’ erhebt“ [143], verneint sie hier sogar die Leistung von Steiners eigener Individualität beim Verfassen der „Philosophie der Freiheit“ und schreibt sie dem „in ihm lebenden Zarathustra-Geist“ zu!

Ausnahme-Konstitution, Meister-Geist und ein ominöses Dokument

Nun kommt sie zu der Behauptung, dass diese „Geistesgaben des salomonischen Jesusknaben“ nur dadurch für die Bewusstseinsseele metamorphosiert werden konnten, dass Rudolf Steiner in eine „Wesensgliederkonfiguration“ hineingeboren worden sei, die einem Abbild des nathanischen Jesus entspreche. Hierzu gehöre „eine sehr zarte, wie durchscheinende Leibeskonstitution“, ein Hingegebensein an die Welt des Geistes, ein „eher der Hirtenströmung“ ähnelnder sozialer familiärer Hintergrund. Erst durch diese Konfiguration habe Steiner die Möglichkeit gehabt, sich mit allen Kräften selbst die Weisheit des Zarathustra ganz neu zu erobern [152f]. Sie erwähnt dann nochmals, dass Steiner mit zwölf Jahren angeblich sein Taufregister eingesehen und von da an sich ganz neu der Außenwelt zugewandt habe.

Und dann beendet sie diesen zweiten Teil des Buches mit der Behauptung, dass eben jener Moment, den Rudolf Steiner mit dem „Gestanden-Haben vor dem Mysterium von Golgatha“ bezeichnete, der Moment der „Taufe mit dem Heiligen Geist“, der „Aufnahme des Meister-Geistes“ gewesen sei.

Als derjenige Meister, der für die Vervollkommnung des Ich steht und der mit dem göttlichen Sonnenwort, dem Christus-Logos in unmittelbarer Verbindung steht, hatte Rudolf Steiner diesen Gang des Ringes in seiner Biographie durchzumachen. [155]


Judith von Halle setzt hier also gleich: Die Begegnung mit dem Christus, die Taufe mit dem Heiligen Geist, die Aufnahme des Meister-Geistes. Fortwährend behauptet sie einerseits, Rudolf Steiner sei der siebente Meister, andererseits habe er sich bis zum Jahr 1899 bereit gemacht, um dessen Geist aufzunehmen, den sie dann wiederum als Rudolf Steiners „höheres Ich“ bezeichnet [156].

In der im Anhang abgedruckten privaten Aufzeichnung, die angeblich von Edith Maryon stammt, heißt es:

Obwohl in Dr. Steiner selbst wohnt der sie­bente Meister inne. [...] Nun ist es aber Hr. Doktors Aufgabe, dass in ihm der siebente Meister seine Wirkung entfaltet, und die besteht darinnen, in unse­rer Zeit die Meister des Ostens und die Meister des Westens gleich zur Geltung kommen zu lassen [160].


Weiterhin heißt es, dass die Meister des Ostens und des Westens im Zeitalter Michaels nebeneinander hätten wirken sollen – insbesondere durch Annie Besant und Dr. Steiner –, so dass die Menschheit „in Freiheit die Kräfte der Mitte hätte aufbauen können“. Dann aber seien durch Besant und Leadbeater die Ziele der östlichen Meister verraten wurden, so dass diese zurücktreten mussten hinter die Meister des Westens. Sie hätten die sechste Kulturepoche vorbereiten sollen und die Schulung des Willens (M. Morya) und die Lehre der Wahrheit (M. Kuthumi) bringen. Dieses sei nun von Christian Rosenkreutz und Meister Jesus übernommen worden. Dr. Steiner stehe am Altar des Ostens, denn nun können die Meister des Ostens auch durch die Meister des Westens sprechen – dafür aber müsse sich Dr. Steiner noch vor Christian Rosenkreutz stellen [159ff].

Ungeheurer Anspruch ohne alle Belege

Soweit der Inhalt von Judith von Halles Buch. Die gedrängte Wiedergabe mag teilweise verwirrend sein, doch ähnlich verwirrend ist auch, wie sie selbst immer wieder unvermittelt neue unbelegte Behauptungen bringt, die aufeinander aufbauen, jedoch alle irgendeines Beweises ermangeln und eben auch nicht in Übereinstimmung mit Rudolf Steiners Äußerungen stehen.

Das ganze Problem ihrer Bücher beginnt damit, dass sie mit einem ungeheuren Anspruch auf Wahrheit und Geistesschau auftritt, so auch in diesem Buch wieder. Man lasse nur die folgenden Stellen auf sich wirken:

Denn über die Wahrnehmung der Nachlässe hinaus ist es in unserem Zeitalter – und gerade durch die von Rudolf Steiner initiierte Geisteswissenschaft möglich, einen Zugang zu den rein esoterischen Archiven zu finden, die Aufschluss über Rudolf Steiners geistige Identität geben können. [8]

Zweitens möge aus der oben gegebenen Darstellung hervorgehen, dass überhaupt – und schon gar in einem solchen öffentlichen Rahmen – lediglich die allerersten Sprossen der beschriebenen „Himmelsleiter“ genommen oder aufgezeigt werden können – was mir aber für den hier gegebenen Zusammenhang ausreichend erscheint. [55]

Insofern muss auch diese Publikation sehr zurückhaltend mit weiterführenden Details umgehen beziehungsweise sich auf Weniges und zum Teil leider auch nur Andeutendes beschränken. [90]

Von dem Meister Hilarion wissen wir – ich gebe hier nur wieder, was in die Öffentlichkeit hinausgedrungen ist –, dass er der Impulsator der vierten nachatlantischen oder griechischen Kulturepoche war. Und man darf vielleicht über dies hinausgehend noch bekannt geben, dass Hilarion der Repräsentant der Vervollkommnung der Empfindungsseele genannt werden kann und dass der Venezianische Meister die Vervollkommnung des menschlichen Astralleibes repräsentiert. [125]


Über die Frage, welchen Weg sie mit ihrer eigenen „Forschung“ überhaupt beschreitet, kann sie nichts Substantielles sagen. Dies aber zeigt, dass dieser Weg mit der strengsten Geistesschulung und Geistesforschung, den Rudolf Steiner gewiesen hat, also der anthroposophischen Geistes-Wissenschaft, nicht übereinstimmen kann. Ein Geistesforscher könnte ganz exakt und klar und Schritt für Schritt beschreiben und Rechenschaft darüber ablegen, wie er zu seinen Erkenntnissen kommt. Judith von Halle aber sagt in völligem Widerspruch dazu nur:

In jedem Falle aber werden wir uns in die geistige Welt hineinzuleben haben – auf welchem persönlich gestalteten Wege auch immer [...]. [8]


Auf die Problematik ihrer Ausdrucksweise wird der Leser schon aufmerksam geworden sein, als sie an einer zentralen Stelle, wo sie selbst sogar noch „eine Schwelle“ für den Leser einbaut (!), einfach nur salopp bis hochmütig hinzufügt:

Eine „Schwelle“ muss man, wenn man nicht auf die Nase fallen will, mit Bewusstsein überschreiten. [122]


Ein weiteres Beispiel der Art mancher Formulierungen ist folgendes:

Lazarus-Johannes [...] ist ja menschenkundlich betrachtet gewissermaßen ein Konglomerat [!] aus verschiedenen Wesensgliederanteilen verschiedener Individualitäten. [66]

Zu Rudolf Steiners Geburtstag(-Lüge)

Es ist geradezu ungeheuerlich, dass Judith von Halle dem unverbrüchlich der Wahrheit und Wahrhaftigkeit verpflichteten Geistesforscher Rudolf Steiner eine bewusste Lüge unterstellt! Angeblich soll er durch die Tat eines Dieners schwarzmagischer Mächte, der ein falsches Geburtsdatum dokumentiert haben soll, lebenslang gezwungen gewesen sein, von diesem falschen Datum zu sprechen. Eine wirklich abgründige Unterstellung!

Judith von Halles „Logik“ ist: Hätte Rudolf Steiner die „Wahrheit“ gesagt und hätten Gegner irgendwann den anders lautenden Taufschein in die Hand bekommen, so hätten sie Steiner als Lügner brandmarken können. Wie widersinnig diese Argumentation ist, müsste jedem wahrheitsliebenden Menschen unmittelbar einleuchten: Man kann die Lüge nicht mit der Lüge bekämpfen!

Judith von Halle behauptet, genau das von ihr skizzierte Szenario sei eingetreten. Helmut Zander bezichtigt Rudolf Steiner der Lüge, weil zwei Geburtsdaten kursieren und der nicht im „Lebensgang“ auftauchende 25. Februar angeblich das wahre, von Steiner verschwiegene Datum sei.

In Wirklichkeit sind die Szenarien polar entgegengesetzt: Zander unterstellt Steiner eine Lüge, weil er bewusst das Datum der Taufe (eines spirituellen Aktes) als Geburtsdatum ausgegeben habe. Judith von Halle unterschiebt Steiner eine Lüge, weil er gezwungen gewesen sein soll, sich an das falsche Geburtsregister zu halten, um Gegnern keinen Anhaltspunkt zu geben.

Durch die nach Judith von Halle angeblich notwendige Lüge hätte sich Steiner aber gerade der Lüge ergeben und Zander hätte ihm das dann ganz zu Recht vorwerfen können! Zander hat eben nicht „mit dem Taufschein in der Hand gewedelt“, sondern viel schlimmer behauptet, es sei Steiner bewusst gewesen, dass das Geburtsregister falsch sei, er habe diese Lüge aber mitgemacht. Das ist Zanders Szenario, und das ist auch Judith von Halles Szenario! Zander behauptet eine freiwillige Lüge, Judith von Halle eine erzwungene: Steiner habe zu einer echten Lüge gegriffen, um nicht irrtümlich eine angebliche Lüge unterstellt zu bekommen!

Diesem Szenario Judith von Halles möchte ich keinen Augenblick lang folgen. Rudolf Steiner war nie zu einer Lüge „gezwungen“ gewesen, und er hat auch nie gelogen! Wann er selbst welches Geburtsdatum für das wahre gehalten hat, müssen wir hier nicht untersuchen. Es genügt, die Vorstellung abzuwehren, Steiner habe bewusst gelogen.

Das „Dokument“

Judith von Halle druckt am Ende ihres Buches wie gesagt einen Text ab, der von der Bildhauerin Edith Maryon stammen soll und der einen Inhalt hat, den Judith von Halle vorher als „in okkulter Forschung gefunden“ suggeriert. Sie gibt keinerlei Quelle an. Obwohl sie drei Fotos einer durchaus älter wirkenden Aufzeichnung bringt, gibt es keinen Nachweis, dass diese Aufzeichnung von Maryon stammen würde und wie Judith von Halle in ihren Besitz gelangt sei. Warum nicht!?

Selbst wenn es eine authentische Aufzeichnung wäre, wäre es eine versuchte Wiedergabe von Steiners Worten, die wie alle Wiedergaben einiges falsch verstanden, verdreht, weggelassen oder in anderer Weise entstellt haben kann.

Selbst wenn der Inhalt dennoch richtig sein sollte, hat er nichts mit dem zu tun, was Judith von Halle daraus macht bzw. hinzuergänzt. So hat Rudolf Steiner zum Beispiel niemals von einem Meister Serapis gesprochen – auch der Text am Ende von Judith von Halles Buch tut dies nicht. Nur Judith von Halle selbst tut dies – und sie tut es mit ungeheurem Anspruch, einer suggerierten (Fast-)Allwissenheit und einer Vermischung ihrer eigenen Aussagen mit dem, was man bei Rudolf Steiner finden kann.

Sind diese Tatsachen allein schon höchst problematisch, so sind sie zugleich ein ungeheures Symptom dafür, dass es sich bei dem, was Judith von Halle offenbart, nicht um die reine Sphäre klarer, wahrheitsgetragener und freilassender Geistesforschung und -offenbarung handelt. Und dies eben ist das Grundproblem, das einen hindert, Judith von Halles Ausführungen überhaupt einen Glauben zu schenken.

Die Meister – oder was sonst?

Ebenso schwerwiegend wie die Vorstellung eines lügenden Rudolf Steiner ist es, sich weitreichenden Vorstellungen aussetzen zu müssen, Rudolf Steiner sei ein Meister der Weißen Loge, dessen Name nur in Aufzählungen der indischen Theosophischen Gesellschaft aufgeführt wurde, während Rudolf Steiner (a) diesen Namen nie erwähnte, (b) überhaupt eigentlich nur von vier Meistern namentlich sprach und (c) selbst dies nach 1908 überhaupt nicht mehr tat.

Also bereits lange vor der Begründung einer eigenen Anthroposophischen Gesellschaft sprach Rudolf Steiner nicht mehr von „den Meistern“! Warum aber tut es dann Judith von Halle!?

Tatsache ist doch, dass durch derart unüberprüfbare Behauptungen nicht das Geringste gewonnen ist! Allenfalls kann es zu einer neuen blinden Autoritätshörigkeit kommen, der keine innere Eigentätigkeit entspricht (und dies sowohl gegenüber Rudolf Steiner als auch gegenüber Judith von Halle!).

Tatsache ist doch, dass Rudolf Steiner mit dem Autoritätsprinzip radikal gebrochen hat und dass es auf dem anthroposophischen Weg darum geht, die eigene Seelentätigkeit so zu erkraften, dass man innerlich jene Kräfte findet, die einen im Lichte der Freiheit und der vollen Eigenaktivität weiterführen. Jede Suggestion irgendwelcher von außen eingreifender oder helfender Mächte steht diesem Weg entgegen. Sehr wohl gibt es helfende Mächte, aber das Wichtigste ist die innere Entwicklung, die ihnen überhaupt erst entgegengebracht werden muss, wenn man auf ihre Hilfe überhaupt hoffen will.

Statt öffentlich, unnachprüfbar und sehr zweifelhaft darüber zu spekulieren bzw. zu „offenbaren“, welche Meister-Individualität Rudolf Steiner angeblich gewesen sei, sollte das Augenmerk ganz auf den von ihm gewiesenen Weg gelegt werden, um den allein es Rudolf Steiner ging.

Judith von Halle hat im Nachwort ihres Buches um sachliche Kritik gebeten. Dies tut sie mit vollem Recht. In keinster Weise möchte ich sie als Person angreifen. Was aber zum Inhalt ihres Buch zu sagen ist, das habe ich hier versucht.

Schließen möchte ich mit einem Zitat aus dem Buch „Meine Lebensbegegnung mit Rudolf Steiner“ von Friedrich Rittelmeyer, einem Mann, der Rudolf Steiner näher war, als Judith von Halle es suggeriert. Man lese nur das ganze Buch! Ihm erzählte Rudolf Steiner sogar von seiner Verbindung zu ganz bestimmten Meistern.

Einmal später drängte es mich doch zu der Frage: „Wo sind denn jetzt eigentlich die ‚Eingeweihten’ der Menschheit, wo ein solches Werk wie das Ihrige auf dem Spiel steht?“ Da sagte er: „Jetzt kommt es darauf an, daß die höheren Wahrheiten durch das Denken der Menschen ergriffen werden.“ „Wenn Sie diesen Eingeweihten heute begegneten, würden Sie an ihnen vielleicht gar nicht das finden, was Sie suchen. Sie hatten ihre Aufgabe mehr in früheren Inkarnationen. Jetzt muß das Denken der Menschen spiritualisiert werden.“ [103]


Die Meister hatten ihre Aufgabe mehr in früheren Inkarnationen. Jetzt muss das Denken der Menschen spiritualisiert werden.

Anmerkungen


[1] Richard Ramsbotham: „Chinese Whispers“. Serapis, Rudolf Steiner und die Meister. Der Europäer, Februar 2011.

[2] Zitiert nach Richard Ramsbotham: „Chinese Whispers“, a.a.O.

[3] Das Wort ist meines Wissens nahezu ungebräuchlich, außerdem heißt lat. sera auch Riegel oder spät, später, zu spät.