23.08.2011

Eine Zinskritik – differenziert durch die Wirklichkeit selbst

Erwiderung auf einen Aufsatz auf den von mir außerordentlich geschätzten NachDenkSeiten. | Fortsetzung siehe: Die Zinskritik noch immer nicht verstanden.


Inhalt
Einleitung
Irrealer Josephspfennig und reale Zinsgewinner
Die Falschheit der verewigten Zinsformel
Die Frage der Umverteilung ... und die der „Risikoprämie“
Die Frage nach der Funktion des Geldes ... und die Grundkritik der Zinskritiker
Nur differenziertes Denken hilft uns weiter 


Einleitung

Jens Berger entwickelt in seinem Beitrag „Kritik an der Zinskritik“ viele wichtige Gedanken. Zusammenfassend könnte man sie wie folgt formulieren:

  • Der Zins ist eine berechtigte Prämie für den Geldgeber, der sein Kapital gibt, damit ein anderer damit Investitionen tätigen kann. Für ihn ist es „Warteprämie“, Inflationsausgleich und Risikoaufschlag (da die Rückzahlung niemals sicher ist). – Für den Geldnehmer ist es die Möglichkeit zu gewinnträchtigen Investitionen bzw. für Konsumenten zu vorgezogenem Konsum. Ohne den Zinskredit wäre z.B. ein Eigenheim Privileg für Erben und Spitzenverdiener.
  • Das Beispiel des ins Unendliche wachsenden Josephspfennig ist realitätsfremd, da es immer Krisen, Inflation, Währungsreformen und natürlich auch Steuern gab.
  • Es gibt keine exponentielle Steigerung der Geldmenge, die Zinseinnahmen fließen u.a. in Löhne der Bankmitarbeiter, auf die Sparbücher, als Steuern an den Staat, als Dividende an die Aktionäre. Das Geld kreist also, es stehen sich nicht exponentiell wachsende Geldmenge und immer mehr Kredite gegenüber.
  • Zinsen führen nicht zu einem Wachstumszwang, denn gerade niedrige Zinsen „kurbeln die Konjunktur an“.
  • Die Umverteilung von unten nach oben liegt nicht am Zins, da das Zinssystem sich nicht änderte, als z.B. in der Zeit zwischen 1945 und 1980 die Einkommens- und Vermögensunterschiede durch ein entsprechendes Steuersystem zunehmend verkleinert wurden. Das Aufklaffen der Schere wird durch eine neoliberale Politik verursacht.


Diese Gedanken müssen wiederum differenziert angeschaut werden. So richtig sie sind, übersehen sie doch gewisse Aspekte. Sie sehen insgesamt nur das Berechtigte des Zinses, das Unberechtigte sehen sie nicht, und dadurch werden sie wiederum einseitig.

Man kann die Zinsfrage von mindestens zwei Seiten anschauen: Vom Faktischen, von den Phänomenen her – und von der Frage nach Aufgabe bzw. Funktion des Geldes und des Zinses.

Irrealer Josephspfennig und reale Zinsgewinner

Der Josephspfennig ist zunächst nur ein gedankliches Phänomen. Jens Berger nennt es eine „Geschichte“, es ist aber nicht einfach eine Geschichte, sondern die konsequent zu Ende gedachte Konsequenz der Zinseszinsformel. Dieser Josephspfennig würde heute ein Vermögen bilden, das hunderten von Milliarden Goldkugeln vom Gewicht der Erde entspricht. An dieser rein gedanklichen Überlegung müsste vollkommen klar werden, dass diese Zinseszinsformel ein Irrsinn ist.

Der Einwand, dass das Vermögen sich ja „in Wirklichkeit“ nicht in dieser Weise vermehrt, weil es wieder besteuert wird oder sogar ganze Währungssysteme zusammenbrechen, trübt den Blick dafür, dass die Formel an sich falsch ist, denn ihre Konsequenz ist genau dasjenige, was in reiner Form nur im Gedankenexperiment erscheint.

Ist es nicht eine ähnliche Argumentation der Atomkraftbefürworter, die sagen: Der „größte anzunehmende Unfall“ ist nur ein reines Gedankenexperiment – in der Realität wird er nie auftreten, denn es gibt ganz, ganz viele andere Einflüsse, die diesen allergrößten Unfall in der Realität unmöglich machen?

Gut – der Josephspfennig ist unmöglich. Aber besagt dies etwas gegen die vollkommene Falschheit einer Formel, die ein Vermögen für immer und ewig sich „von selbst“ vermehren ließe, und das noch exponentiell!? Nein, sondern die Formel ist und bleibt falsch.

Der Zins als Leihprämie usw. kann durchaus berechtigt sein – aber die abstrakte, verewigte Zinsformel ist falsch, und dass sie von der Realität fortwährend korrigiert werden muss, ist genau dafür der beste Beweis! Die Wirklichkeit selbst sagt: Diese Formel ist falsch!

Es bleibt eine reale Tatsache, dass ein Millionär (woher auch immer er sein Vermögen hat) jährlich ein völlig leistungsloses Durchschnittseinkommen bezieht – und ein Milliardär das Tausendfache. Es müssen für jeden einzelnen Milliardär also unzählige Menschen ein tausendfaches Durchschnittseinkommen mit-erarbeiten, Jahr für Jahr!

Deswegen gibt es sehr wohl und ganz zweifelsfrei eine fortwährende Umverteilung durch den Zins – und die Frage ist nur, inwieweit dieser durch ein progressives Steuersystem, durch Vermögenssteuern usw. immer wieder rückgängig gemacht wird oder nicht.

Die Falschheit der verewigten Zinsformel

Bei den verewigten Staatsschulden ist es heute so, dass der Staat allein an Zinsen (getilgt wird ja gar nicht!) heute bereits mehr gezahlt hat, als er jemals an Kredit-Gesamtsumme aufgenommen hat! Auch diese Tatsache zeigt den Irrsinn der Zinseszinsformel. Und auch hier spielt es keine Rolle, dass ja „wir alle“ Eigentümer von Staatsanleihen sind, insofern also eigentlich „bei uns selbst verschuldet“ sind. Denn Fakt ist, dass dies kein Nullsummenspiel ist, sondern dass die obersten fünfzehn Prozent die „Zinsgewinner“ sind und real leistungslose Einkommen beziehen, die andere erarbeiten.

Das Problem ist und bleibt das „von selbst“ wachsende Vermögen. Dort, wo es in Löhne, Steuern, Dividenden usw. fließt, ist es kein Problem, aber dort, wo es nirgendwohin fließt, also bei den Superreichen, deren Vermögen sich auch abzüglich der Steuern noch immer von selbst vermehrt – und je größer diese Vermögen sind, um so stärker und schneller.

Immer wieder geht es nur um eines: Um das Ewige, das Abstrakte, das Formelhafte – dies ist es, wo das Falsche und Realitätsferne beginnt. Selbstverständlich kann ein Kreditgeber einen Zins bekommen. Aber was ist, wenn der Kredit nicht ausgefallen ist, aber dennoch nicht zurückgezahlt werden kann? Was ist, wenn der Kreditgeber über den Zins mit den Jahren weit mehr als seine eigentliche Kreditsumme bekommt, und immer so weiter? Was ist, wenn der Schuldner gerade nur so „lebendig“ gehalten wird, dass er immer weiter die Zinsen zahlen kann (und muss), ohne je tilgen zu können?

Die Formel ist falsch. Die Realität greift durch Insolvenzverfahren ein. Mächtige Interessen verhindern aber so weit wie möglich immer wieder Staatsinsolvenzen und erzwingen die weitere Geltung der falschen Formel. Insolvenz und Schuldenschnitt zeigen aber gerade, wie die Formel in Wirklichkeit aussehen müsste: Wenn der Schuldner genug gezahlt hat, hat er seine „Schuldigkeit“ getan. Die Prämie ist gezahlt, der Zins muss allmählich gegen Null gehen. Der Zins selbst müsste sich mit der Zeit „abzinsen“! Nicht der Zins müsste konstant bleiben, sondern sein maximaler Ertrag, also der maximale Profit und der maximale Schuldendienst! Statt dass der Gewinn mit der Zeit exponentiell wächst, müsste der Gewinn mit der Zeit immer mehr schrumpfen.

Die Frage der Umverteilung

Es ist irrelevant, wodurch Vermögen von unten nach oben umverteilt wird – leistungslose Einkommen (ohne Bedürftigkeit) sind immer falsch. Aber wodurch wurden denn die Einkommensunterschiede in der Zeit bis 1980 teilweise wieder ausgeglichen? Durch eine nach oben ausreichend weitgehend und ausreichend stark zunehmende Besteuerung. Diese konnte also die Umverteilung durch den Zins und ungerechte Einkommensverhältnisse weitgehend mildern. Aber auch dies bedeutet: Das Steuersystem muss die Wirkung des Zinses fortwährend bekämpfen. Ist ein relativer Erfolg dieses Kampfes etwas ein Beweis dafür, dass das Bekämpfte nicht falsch ist? Nein, sondern nur dafür, dass das Falsche über eine gewisse Zeit doch wiederum relativ korrigiert werden konnte.

Die geringer werdenden Einkommensunterschiede bedeuten auch nicht, dass der Zins die Reichen nicht noch reicher gemacht hätte, sondern dass in diesen Jahrzehnten bis 1980 der allgemeine Wohlstand stärker wuchs als das Vermögen der Reichen. Dass der Rest nicht völlig abgehängt wurde, bedeutet aber nicht, dass die Reichen nicht dennoch fortwährend reicher wurden – von selbst, durch den Zins –, sie wurden es.

Die Zinsformel wird falsch, wo sie sich über die eigentliche Wirklichkeit hinaus fortsetzt. Dies tut sie, wenn sie sich zeitlich verewigt – oder wenn sie sich betragsmäßig ins Unendliche ausdehnt. Wenn der Zins wirklich eine Prämie für den Verzicht auf eigene Investitionen wäre, so muss man sagen: Der Superreiche möge doch einmal selbst versuchen, seinen ganzen Reichtum „gewinnbringend“ zu investieren! Dann wird er real erfahren, was Unternehmensrisiko, Grenznutzen usw. bedeutet! Die Bank mag ein Risiko haben, wenn sie Kredite verleiht, aber doch nicht der Millionär, der pünktlich die Zinsen auf seinem Konto erwartet! Die realen Unternehmer übernehmen das Risiko, die Banken übernehmen es auch noch ein wenig – aber doch niemals der einzelne superreiche „Sparbuchinhaber“!

... und die der „Risikoprämie“

Einzelne Kredite werden immer wieder ausfallen. Die anderen Kreditnehmer müssen dieses Risiko mit übernehmen! So ist der Zins berechnet. Das bedeutet aber: Nicht die Bank trägt das Risiko, sondern die Kreditnehmer. Allein durch die Streuung der Kredite ist bereits gewährleistet, dass die Bank nie pleite gehen kann – außer bei einer erschütternden gesamtwirtschaftlichen Krise. Aber auch hier geht die Bank zuletzt pleite (sofern sie ihre profitgierigen Wettspiele im Investmentbereich, also auf einem ganz anderen Gebiet, nicht übertreibt) – und der Millionär zuallerletzt. Bis dieser Fall überhaupt einmal eintritt, haben alle anderen pleite gemacht – und solange fand und findet die fortwährende Umverteilung statt.

Welches Interesse soll ein Millionär eigentlich haben, sein Vermögen noch weiter zu mehren? Es reicht doch vollkommen, lebenslang ausgesorgt zu haben! Die Annahme, der Zins sei eine Prämie für den Verzicht auf eigenes Investieren, wird also hier vollkommen sinnlos! Um das Richtige und das Falsche des Zinses zu durchschauen, muss man in all diesen Facetten ein wirklich lebendiges Denken entwickeln.

Der Millionär dürfte allein die Sicherheit haben, dass sein Geld bei der Bank sicher ist – im Gegensatz zum Sparstrumpf zuhause, wo die Räuber kommen können. Die Bank dürfte eine Risikoprämie erheben, mit der sie letztlich verhindert, dass sie am Unternehmerrisiko teilnimmt. Wenn aber dieses Risiko ausgeschaltet ist, dürfte nicht auch noch der Millionär ein Recht auf „Von-Selbst-Mehrung“ seines Vermögens haben! Nur die Bank, die garantiert, dass das Vermögen nicht verlorengeht – und sie garantiert ja außerdem, dass der Millionär es jederzeit ausgezahlt bekommen kann! Wenn der Millionär aber kein Recht auf diese Selbstvermehrung hätte, dann bräuchte die Bank den Zins nicht an ihn weitergeben. Und dann müsste der Zins auch gar nicht so hoch sein! Nochmals: Der Zins müsste nicht so hoch sein, wenn er nicht auch die Riesenvermögen fortwährend mehren müsste.

Die Frage nach der Funktion des Geldes

Und damit sind wir nun auch bei der Frage, welche Funktion das Geld hat. Es konkurrieren und es widersprechen sich die Funktion als Besitzmittel und als Tauschmittel.

Es bleibt ein Fakt, dass Geld in der Hand des einen nicht in der Hand des anderen sein kann. Wenn einer der Geldbesitzer ist, muss der andere es von ihm leihen. Tatsächlich kann man in der Zinsfrage die Verteilungsfrage nicht ausblenden – und Jens Berger gibt dies ja auch zu, wenn er auf das Falsche der neoliberalen Politik verweist. Diese aber hat die Bekämpfung der fortwährenden Umverteilung von unten nach oben gerade beendet – und damit auch der falschen Zinsformel wieder zu voller Geltung verholfen.

Das Geld in der Hand der Superreichen fehlt den anderen. Jens Berger sagt, es sei berechtigt, dass Menschen, die investieren wollen, eine Prämie für das geliehene Geld zahlen müssen. Er blendet dabei aber aus, dass sie gar kein Geld leihen müssten, wenn sie selbst welches hätten! Und es hätte nun einmal jedermann mehr Geld, wenn sich nicht insbesondere die Riesenvermögen fortwährend von selbst vermehren würden. Alle anderen müssen diese extreme Vermehrung erarbeiten! Wäre dies nicht notwendig, müsste man gar kein Geld leihen, man besäße es selbst...! (Und damit gäbe es Jens Bergers „Privileg der Erben und Spitzenverdiener“ in dieser Form gar nicht. Kredite mögen dieses Privileg durchbrechen – der Zinseszins stärkt es gerade, weil er auf seine Weise Privilegien und Spitzenverdiener hervorbringt!).

Zugleich entziehen die Superreichen ihre Vermögen dem Wirtschaftskreislauf, weil sie das Geld zwar „für sich arbeiten lassen“, also verleihen, es aber nicht ausgeben. Niemand kann ab einem bestimmten Vermögen noch alles verkonsumieren – und die Superreichen tun dies ja auch nicht, denn sonst wären sie ja nicht mehr superreich. Reichtum bedeutet, es wird nicht konsumiert. Genau dieses Geld fehlt aber im Wirtschaftskreislauf. Statt es auszugeben, wird es verliehen. Statt zu Einnahmen anderer zu werden, wird es zu Schulden anderer. Diese großen Vermögen ersticken die Wirtschaft gerade dadurch, dass sie nicht ausgegeben werden. Wenn sie auch wieder ausgegeben (oder aber investiert) würden, wäre alles in Ordnung – aber sie werden nur verliehen, und andere müssen dafür arbeiten, dass diese Vermögen sich noch weiter vermehren.

... und die Grundkritik der Zinskritiker

Das ist die Grundkritik der Zinskritiker: dass die wahre Funktion des Geldes nicht der Besitz, sondern der Austausch ist. Das Geld ist nicht der Knochen des Wirtschaftslebens, sondern sein Blut. Wenn es sich irgendwo vermehrt und feststeckt, dann ist etwas falsch – deswegen sprechen die Zinskritiker z.B. vom Krebsgeschwür des sozialen Organismus. Man könnte auch Thrombose sagen. Das Geld wird irgendwo „gehortet“ und lässt den gesamten Wirtschaftsprozess stocken, ersticken.

Die Kritiker verweisen darauf, dass es keine Leihprämie geben darf, wenn die Funktion des Geldes gerade in seiner Zirkulation besteht! Dann nämlich müsste es gerade umgekehrt eine „Nicht-Ausleih-Strafe“ geben. Dies ist der Negativzins, von dem die Kritiker sprechen und auf den ganz organisch und in sich logisch ein viel wirklichkeitsgemäßeres Wirtschaftssystem aufgebaut werden könnte. Die NachDenkSeiten hinterfragen fortwährend falsche Dogmen. Warum findet dies seine Grenze bei dem Begriff der „Leihprämie“?

Die Zinskritiker verweisen mit Recht auf das Bild einer Straßenkreuzung, die von jemandem blockiert wird, der eine Durchgangsgebühr verlangt. Dies ist die Wirklichkeit des Zinses heute. Sie basiert auf dem Begriff des Geldes als Besitz. Der Blockierer auf der Straßenkreuzung könnte sein Handeln durchsetzen, wenn er einen Anspruch auf den Besitz der Kreuzung erheben könnte.

Wenn man einmal einsieht, dass in einem menschengemäßen Wirtschaftssystem niemand einen absoluten Besitzanspruch auf Geld und Vermögen erheben könnte, dann könnte erkannt werden, warum der Zins als Leihprämie einen Widersinn darstellt. Geld stellt ein Tauschmittel und damit einen Rechtsanspruch auf Gegenleistung dar. Wer Geld rechtmäßig erworben hat, hat es durch Leistung erworben (oder war bedürftig) und hat mit diesem Geld einen Anspruch auf Gegenleistung (oder einseitige Leistung). Diesem Recht steht aber auch eine Pflicht gegenüber, nämlich diesen Anspruch in absehbarer Zeit auch einzulösen, das heißt, sein Geld/Vermögen auszugeben, zu konsumieren, Gegenleistung in Anspruch zu nehmen. Die Wirtschaft geht zugrunde, wenn die Geldbesitzer die angebotenen Leistungen nicht in Anspruch nehmen! Während andere Menschen, die das Geld nicht besitzen, diese Leistungen nicht in Anspruch nehmen können. Die Geldbesitzer ersticken die Wirtschaft, wenn sie ihren großen Reichtum nicht in großen Konsum verwandeln. Geld ist kein Besitz, Geld ist ein Recht – und eine Pflicht.

Nur differenziertes Denken hilft uns weiter

Man mag dennoch für Geld, das jemand leihen möchte, einen Zins erheben – und sogar als „Leihprämie“. Aber für das Geld, das niemand leihen will oder kann, müsste es umgekehrt einen negativen Zins geben, der dieses Geld dem Kreislauf ebenfalls wieder zurückführt – von selbst. Das Geld dürfte sich nicht von selbst vermehren, am Ort des Reichtums, sondern es müsste dort von selbst weniger werden, nämlich von selbst zurückfließen zu anderen Orten.

Der Vermögende soll sein Vermögen selbst verwenden – entweder durch Konsum oder durch Investition. Und mag er sogar noch für verliehenes Geld eine Prämie verlangen. Doch das nicht verliehene, sondern nur bei der Bank „angelegte“ Geld (und auch das im Sparstrumpf zuhause) müsste von selbst weniger werden und vergänglich sein, so wie alle anderen Werte des Wirtschaftskreislaufs.

Die Zinsformel in ihrer Absolutheit ist falsch – sie legitimiert leistungslose Einkommen und leugnet die wahre Funktion des Geldes. Während Geld in Wahrheit ein Rechtsanspruch mit entsprechender Pflicht ist, pervertiert die absolute Zinsformel diese wahre Funktion des Geldes in ein krasses Unrecht. Dies ist der Kern der Zinskritik, in der sich alle ihre Vertreter einig sind.

Man darf die Zins-Kritik und die Umverteilungs-Kritik nicht gegeneinander ausspielen. Beide sind berechtigt. Ich habe in meinem Aufsatz die Zinskritik differenziert: Definitiv falsch ist die abstrakte, verewigte Zinsformel. Und sie wirkt um so unheilvoller, je stärker die Umverteilung von unten nach oben wirkt, ohne bekämpft zu werden. Umverteilung nach oben führt gerade dazu, dass die Zinsformel immer falscher wird. Es ist so wie mit Einsteins Relativitätstheorie. In einem überschaubaren Bereich ist die Zinsformel relativ gültig bzw. sinnvoll, hilfreich für eine bestimmte Form der (Kredit-)Wirtschaft. Doch an den Grenzen dieses Systems offenbart sich deutlich, dass die Formel falsch ist – und an diesen Grenzen immer falscher wird.

Zum Wachstumszwang zuletzt nur so viel: Selbstverständlich begründet der Zins einen Wachstumszwang. Wenn der Kreditgeber mehr zurückhaben will, als er überhaupt gegeben hat, ist der Zwang zum Wachstum offensichtlich. Je höher die Zinsen, desto stärker der Wachstumszwang. Warum wird die Konjunktur bei niedrigen Zinsen „angekurbelt“? Weil dann das Geld immerhin „billiger“, der Zwang erträglicher ist. Niemand hat gesagt, dass bei dem ungeheuren Wachstumszwang nicht auch ungeheuer viele auf der Strecke bleiben. Gerade der Wachstumszwang fordert ja Opfer! Ohne Wachstumszwang bräuchte es überhaupt keine Opfer geben - der Zwang aber fordert sie. Muss Griechenlands Wirtschaft etwa nicht wachsen, um den Schuldendienst zu leisten? Dass die Wirtschaft gerade zusammenbricht und alles nicht „funktioniert“, ist kein Gegenbeweis für den Zwang...

Es kommt in unserem gesamten gesellschaftlichen Zusammenleben nicht darauf an, sich theoretisch zu streiten und diese oder jene Gedanken zu entwickeln. Es kommt darauf an, die realen Prozesse zu erleben. Dann kommt man zu einem lebendigen Denken, das mit der Realität verbunden bleibt bzw. eine immer tiefere Verbindung zu ihr erringt. Hören wir auf, theoretisch zu argumentieren und beginnen wir, die realen Prozesse zu erleben.