16.12.2011

Rudolf Steiners spirituelle Biographie

Buchbesprechung: Mieke Mosmuller: Rudolf Steiner. Eine spirituelle Biographie. Occident Verlag, 2011. 592 Seiten, 39,90 €. | Buchbestellung frei Haus.


Das „Steiner-Jahr“ neigt sich seinem Ende zu. Drei Biografien sind erschienen, die wiederholt besprochen wurden, und vieles mehr ist geschehen. Und bei sehr vielem entstand die Frage: Geht es um Aufmerksamkeit für eine Anthroposophie, die gar nicht verstanden wird?

Was ist Anthroposophie in Wahrheit? Wissen wir, mit welcher inneren Stimmung wir ihr begegnen müssen? Und Rudolf Steiner? Was hat dieser Eingeweihte vollbracht? Wie war dies möglich, wie hat sich dies entwickelt?

Dies sind Fragen, die Wesentliches berühren wollen. Und diese Sphäre des Wesentlichen finden wir in dem umfangreichen Buch von Mieke Mosmuller über Rudolf Steiner. Zum Ende von Rudolf Steiners 150. Geburtsjahr ist damit eine wahrhaft spirituelle Biografie erschienen – eine einzige, die dem Leser die Realität des Eingeweihten Rudolf Steiner und das Wesen seiner Einweihung nahebringen kann.

Mieke Mosmuller schreibt:

Nannte er Raffael in all seinen Inkarnationen einen „Herold des Christentums“, so könnte man die Individualität Rudolf Steiners als die Verkörperung der kosmischen Intelligenz in der irdischen Intelligenz betrachten – jeweils in jener spezifischen Entwicklung des Verhältnisses beider Formen der Intelligenz, die der betreffenden Inkarnation und ihrer Zeit entspricht. In diesem Sinne bringt diese Individualität das entsprechende Verhältnis jedes Mal selbst mit, braucht dies nicht von anderen zu lernen, weil es ihr Wesen ist.
Wenn man die Inkarnationen Rudolf Steiners einmal auf diese Weise miterlebt, dann sieht man in der Entwicklung seines Lebens und Wirkens eine reine „Inkarnation“ des Verhältnisses zwischen kosmischer und irdischer Intelligenz – in einer Zeit, in der das Irdische die absolute Oberhand zu bekommen droht und in der man das Kosmische zu vergessen droht, während gerade in dieser Zeit die Möglichkeit entsteht, die einsame irdische Intelligenz (die ausschließlich in der Naturwissenschaft entfaltet wird) mit der ursprünglichen kosmischen Intelligenz zu verbinden. Dies tut Rudolf Steiner. Ich rufe den Leser auf, einmal den Gedanken zuzulassen, dass er dies nicht nur tut, sondern dass dieses „Tun“ auf der konkreten Erscheinung seines eigentlichen Wesens beruht, das so unmittelbar mit der Intelligenz verbunden ist. [S. 28]


Dem, um was es hier geht, kann man sich nur immer mehr annähern. Und die einzelnen Kapitel des Buches können das Verständnis immer weiter vertiefen, reicher und empfindungsvoller machen. Anhand von Rudolf Steiners geschriebenem „Lebensgang“ und dann, nachdem dieser abbricht, anhand seines weiteren Wirkens erweckt Mieke Mosmuller ein echtes Verständnis für die innere Entwicklung Rudolf Steiners, für die dadurch möglichen Geschehnisse, deren Bedeutung...

Es entsteht ein reales Bewusstsein von der ungeheuren Kluft zwischen dem abstrakten Intellekt und der Realität des Geistes – und von der Tatsache, dass in Rudolf Steiner wesenhaft die Fähigkeit lebt, die Brücke zu schlagen. Seele und Geist dieser Individualität sind gerade diese Brücke, weil sie die geistige Welt so rein und umfassend wie nur menschenmöglich in sich aufzunehmen vermögen ... und diese unermesslich weite Welt dann noch ebenso rein in menschlicher Sprache dem gewöhnlichen Begriffsdenken entgegentragen können.

Und so wird sehr deutlich, dass der Mensch, der den Geist sucht, nun den umgekehrten Weg gehen muss – denn was ihm da entgegengetragen wird, will ihn ja zu einer ganz anderen Wirklichkeit führen, die jenseits der Schwelle liegt. Wollen wir den Geist finden, müssen wir Rudolf Steiner folgen, diesen ganzen unermesslichen Weg hinauf in die Welt der wesenhaften Geistigkeit. Auch Mieke Mosmullers Buch schlägt die Brücke: Aus innerer Geist-Erkenntnis eröffnet sie ein tiefes Verständnis für das unermessliche Wesen des Geistes, für die innere Entwicklung der Individualität Rudolf Steiners und die wahre Bedeutung seiner Tat – und zugleich ruft auch dieses Buch wiederum jeden einzelnen Menschen auf, selbst nach Geist-Erkenntnis zu streben und immer mehr zu einem Brückenbauer zu werden, wie Rudolf Steiner gehofft hat...

Jedes Kapitel gibt neue Vertiefungen und ergänzt die anderen. Schon der erste Teil führt in die ganze, angedeutete Tiefe hinein. Es geht um Rudolf Steiners inneres Ringen um das Verhältnis zwischen Geist-Anschauung und Begriffsdenken, um seine Einweihung in den doppelten Strom der Zeit, um die wahre Spiritualisierung des Denkens, auf deren Wesen Mieke Mosmuller in all ihren Büchern immer wieder hinweist. Es geht um das immer tiefere Erfassen der Geheimnisse des Christentums, des Verhältnisses von Geist, Individualität und Persönlichkeit, von Geist und Materie, um eine wahrhaft christliche Menschenkunde.

Und dann tritt die Anthroposophie immer mehr, immer fruchtbarer in die Welt hinaus. Auch zu all diesem, von der Kunst über das Goetheanum bis zur Christengemeinschaft, gibt Mieke Mosmuller Kapitel, die durch die Art ihrer Betrachtung und auch ihre Auswahl entscheidender Zitate in das Wesentliche hineinführen.

Die letzten Kapitel lassen die ganze Dramatik des Goetheanum-Brandes, des Jahres 1923, des Krankenlagers Rudolf Steiners miterleben. Im Kapitel über die Weihnachtstagung macht Mieke Mosmuller sehr deutlich, dass die eigentliche Realität nicht in Statuten- und Konstitutions-Fragen liegt, sondern auf der Ebene des individuellen Menschen:

Mit dem individuellen Menschen wurde gerechnet, dieser sollte sich selbst als Geist offenbaren lernen, und er könnte dies dank des Keimes, des Grundsteins, der in das Herz gelegt wurde und der bewusst zu einer Selbsterkenntnis in drei Gliedern weiterentwickelt werden konnte. Realer Geisteskeim wurde gegeben, und das Leben darin war transsubstantiierende Kraft, die aufgrund der Ich-Aktivität jedes individuellen Mitgliedes wirksam werden konnte. ...
Ein Erwachen in Selbsterkenntnis, in verwandelnder Selbsterkenntnis musste entstehen, ein „Wachhalten des inneren Erlebens bis in die Gedanken“. Dann würde in jedem Menschen-Ich die tief eingreifende „Apokalypse“ der anthroposophischen Bewegung zum eigenen Ich gehören, Inhalt des Ich geworden sein. Qualitativ eine, numerisch unendlich vervielfältigbar. Dann wäre der „menschgewordene Bau“, das erste Goetheanum, wirklich in diesem geistigen Bau auferstanden, der die neue Anthroposophische Gesellschaft wäre. [S. 471]


Diese Gedanken werden dann in dem vorletzten Kapitel „Der lebendige Rudolf Steiner“ erweitert:

Der lebendige Rudolf Steiner breitet sich in der geistigen Welt aus, aber seine größte Sorge wird doch der weitere Weg seiner Schüler auf Erden sein. Jederman, der in der Anthroposophie etwas Berechtigtes sieht, wird unter seinem geistigen Schutz stehen. ... Seit diesen vergangenen Jahrzehnten wird die eigentliche anthroposophische Gesellschaft also einen übersinnlichen Charakter haben, mit dem lebendigen Rudolf Steiner verbunden sein – nicht mit Statuten oder Konstitution oder Vorständen oder Gebäuden oder Institutionen. ...
Da liegt unsere Vereinigung, bei ihm. Er lehrt uns die Michael-Mission, das Mysterium von Golgatha, das Wesen der Gegenmächte. Sein auf dem Papier zu findendes Wort löst sich auf zu einem realen Geist-Erleben, zu einem bewussten Erleben der realen Verbindung mit ihm und seinem noch immer lebendigen, unterweisenden Wesen. [S. 563f]


Das großartige Werk endet mit einem Kapitel über die Erscheinung des Christus in der ätherischen Welt. Diesem Geschehen kann der Mensch bewusst entgegengehen, wenn er die Spiritualisierung des Denkens wahrmacht, wie Mieke Mosmuller dies so tief berührend schon 2007 in „Der Heilige Gral“ zu beschreiben wagte...