02.04.2012

Die lichtlose Nacht der verlorenen Seelen

Eine kurze Geschichte zur Passionszeit unserer Welt.


Er hatte eine wunderbare Kindheit gehabt. Das Dorf, in dem er zunächst aufgewachsen war, war von Natur umgeben gewesen. Und er war eines jener gesegneten Kinder gewesen, die die Wesen der lebendigen Natur erlebten. Nicht nur die Schmetterlinge, Käfer, Eichhörnchen, Vögel und all die anderen Tiere, die er unterschiedslos liebte. Nein, auch die Wesen hinter dem Schleier, der zwischen dem Bewusstsein des modernen Menschen und der Wesenhaftigkeit der Natur liegt. Für ihn war da in der frühen Kindheit kein Schleier gewesen. Das, was man oft als Feen, als Naturgeister, als Pflanzen-, Wasser- oder Luftwesen bezeichnete, all das war ihm reales Erlebnis.

Lange Zeit verstand er nicht, dass nicht jeder Mensch dies wahrnahm. Aber es war so – er war offenbar der einzige. Seine Eltern übergingen seine Fragen und Hinweise mit peinlichem Schweigen und nervösem Lachen. Sein Vater wollte schon einen Arzt einschalten, aber dann hatte man es doch dabei belassen, ihn für ein wenig verrückt zu halten. Da er ansonsten normal war, würde er schon keinen großen Schaden nehmen, meinte seine Mutter. Und als dann noch eine Großtante erzählte, dass es einmal einen solchen Fall in der Familie gab, sich diese „Albernheiten“ mit der Zeit aber von selbst erledigt hätten, waren beide Eltern wieder beruhigt.

Dann zog die Familie in die Stadt – in die Großstadt. Es war der größte Schock seines jungen Lebens. Sechs Jahre war er alt gewesen, und alles, woran er sich später als erste Eindrücke erinnern konnte, war: Lärm, Hektik, Hässlichkeit, Hässlichkeit, Hektik, Lärm. Er war vier Wochen lang krank. Danach hatten seine Eltern den Eindruck, er habe sich an die Umstellung gewöhnt. Tatsächlich war in ihm etwas abgestumpft, um das neue Leben ertragen zu können. Ihm selbst waren all diese Vorgänge nicht bewusst. Hätte er es in Worte fassen wollen und können, hätte er vielleicht auch gesagt, er habe sich daran gewöhnt.

Es brach ein neues Leben für ihn an. Die Stadt hatte ihre Reize – und was für welche, Millionen! Von jeder Plakatwand prasselten die Eindrücke auf ihn nieder, sprangen ihn an, forderten ihn heraus, hinzuschauen, die aggressiven Farben, Formen und Botschaften aufzusaugen und unverdaut in sein Inneres aufzunehmen, wo sie dann hinabsanken, überlagert wurden von den nächsten Eindrücken, die nur Sekunden später folgten, Millionen an jedem einzelnen Tag.

Er kam in die Schule. Dreißig andere Mitschüler, über eintausend, wenn man die ganze Schule zusammenrechnete. Und wieder neue Eindrücke. Neue Moden, neue Normen. Wer nicht mitmachte, mitsammelte, mitwusste, gehörte nicht dazu. Wer keine Ahnung hatte, war draußen. Die Moden und Zwänge wechselten im Monatsrhythmus, manchmal sogar wochenweise. Da gab es konturlose Plastikformen, die gleichwohl etwas bedeuteten. Man nannte sie „Gogos“. Dann gab es Fußballsticker. Dann gab es Pokémonkarten. Wer nicht die vollständigen „Entwicklungen“ jedes einzelnen „Wesens“ herunterbeten konnte, wurde ausgelacht, fiel in der Hackordnung gleich um ein halbes Dutzend Stufen nach unten. Man musste gar nicht unbedingt fernsehen, man bekam die Inhalte minutengenau von den anderen erzählt. Aber er sah natürlich fern. Er wollte dazugehören, und seine Eltern ließen den Fernseher vom Nachmittag an einfach laufen.

Dann gab es die Star-Wars-Karten. Pokémon war plötzlich out. Wer eine Woche zu lang sammelte, wurde ausgelacht. Das war etwas für Kleinkinder! Star Wars – das waren die Großen. Die Zweit- und Drittklässler erzählten sich gegenseitig jede einzelne Szene und stritten darum, wer wem auf welche Weise das Laserschwert aus der Hand geschlagen oder wer wem angeblich den Kopf abgeschlagen habe. Jeder kannte alle Figuren: Darth Vader, das war natürlich der Wichtigste. Viele hatten insgeheim zuerst doch ein wenig Angst vor ihm, aber keiner zeigte es, und viele wollten insgeheim so viel Macht haben wie er. Dann Luke Skywalker, Obi-Wan Kenobi, R2-D2, Yoda, Boba Fett und wie sie alle hießen. Die Erstklässler wollten mithalten, aber sie sprachen die Namen oft falsch aus. Sie sagten zum Beispiel „Luke Steiworker“ und wurden dann ebenfalls ausgelacht. Aber er selbst war nun auch schon in der zweiten Klasse und konnte gut mithalten.

Die Lehrer interessierten sich nicht für diese Moden und unternahmen nichts. Die Schüler wiederum interessierten sich nicht für den Unterricht. Man lebte aneinander vorbei, und die Folgen zeigten sich regelmäßig. Ab der dritten Klasse hatte man die Schüler nur noch mit Zwang, Druck und strengen Anforderungen im Griff, ab der siebten oder achten Klasse auch damit nicht mehr. Kindheit und Jugend waren regelrechte Subkulturen. Die Lehrer und die Schule hatten nichts zu geben. Aber die „Subkultur“ bestand nicht etwa aus kindlichem Spiel oder jugendlicher Lebensfreude. Sie bestand – mit jedem Jahr mehr – aus der lustlosen Suche nach neuen Eindrücken, nach Zerstreuung. Und tatsächlich wurde die Seele dieser Kinder in alle Richtungen zerstreut, es gab nirgendwo etwas Haltgebendes, etwas Verinnerlichendes – alles zog nach außen, verlangte Aufmerksamkeit, Kauflust, Konsumwillen.

Wenn man im Bus oder in der U-Bahn zur Schule fuhr, oder wohin auch immer, starrte man auf sein Handy, während die Finger damit herumspielten, im Internet surften, die SMS’ checkten, Antworten tippten, weiter surften... Man fühlte sich mit dem vollen Leben verbunden und merkte nicht, dass man auf ein kleines Gerät beschränkt war, dem man Nachrichten und Eindrücke mit minimalem Sinngehalt entnahm oder übergab.

Irgendwann kam dann die Mode mit den Thrillern auf. Natürlich hatten viele Kinder auch Computerspiele zuhause, also man war das Töten, den Straßenkampf und recht viel Blut ebenfalls schon gewöhnt. Aber ein geschriebener Thriller war schon etwas Besonderes. Die Fantasie der heutigen Autoren ließ keine Möglichkeiten aus – und in der eigenen Phantasie gestalteten sich dann diese Szenen ganz konkret aus, so dass einem die Schauer über den Rücken liefen und die inneren Bilder einen tage- und nächtelang verfolgten. Aber der Reiz dieser Bilder war unwiderstehlich und unwahrscheinlich stark. Endlich einmal starke Eindrücke – also las man immer weiter.

Wenig später kam der Horror auch in Form von Filmen dazu. Er war nun in der siebten Klasse. Die meisten Filme waren erst ab sechzehn oder sogar ab achtzehn. Aber in der Großstadt nahm man es nicht immer so genau, manche Jungs sahen auch schon älter aus, oder sie schickten ihre Geschwister vor, die ihnen den gewünschten „Stoff“ besorgten. Der Horror wurde zu ihrem Seeleninhalt, bevor sie sich der Nacht übergaben. Irgendwann gewöhnte man sich auch daran. Die Bilder, die einen im Traum verfolgten, wurden weniger schlimm, man wurde langsam wirklich hartgesotten – und war stolz darauf. Man konnte es mit allen Eindrücken aufnehmen, weil das Herz so hart wie Stein wurde. Und man hatte das Gefühl, genau das brauchte man, um dieses Leben zu bewältigen und um ein Mann zu sein.

Da war irgendwo tief drinnen noch eine andere leise Stimme. Die war unangenehm, denn sie fragte nach etwas anderem. Nach etwas vollkommen anderem. Diese Stimme fragte nach etwas Lichtem, Zartem, Reinem... Aber man wusste, dass man sich damit komplett lächerlich machen würde – also unterdrückte man diese Stimme. Irgendwo tief drinnen ahnte man, dass man damit auch sich selbst verleugnete, aber diese Erkenntnis war nicht bewusst, und so steigerte sie nur die Verhärtung, den Hass – auf sich selbst und die Welt, wenn auch ebenfalls nicht bewusst. Bewusst war nur die Suche und die Sucht nach immer neuen Eindrücken. Diese mussten natürlich mindestens so stark sein wie alles schon Dagewesene, also dauerte die Horror-Mode länger als alle anderen, ja, sie riss gar nicht mehr ab. Und die Autoren und Filmemacher befriedigten die Sucht meisterhaft, denn alles wurde immer extremer, immer deutlicher.

Die Jahre vergingen, die Schule wurde eine öde Katastrophe – und der Rest des Lebens größtenteils auch. Den Eltern ging man jede Minute aus dem Weg, wenn das möglich war. Freunde waren nicht mehr als Begleiter auf dem Horror-Trip, den man gemeinsam eingeschlagen hatte und auf dem man sich gegenseitig vorantrieb – aus Furcht, irgendwann allein dazustehen. Man war allein, aber man wusste es nicht.

So war er schließlich in der neunten Klasse, als das Leben jeden Sinn für ihn verloren hatte. Er wurde wieder krank. Wirre Fieberträume jagten einander. Darth Vader wurde bei lebendigem Leibe zerstückelt und aufgefressen. Auch er selbst fand sich in einer unterirdischen Folterkammer wieder, verlor sämtliche Gliedmaßen, konnte aber auf irgendeine unerklärliche Weise dann doch fliehen, bevor er schweißgebadet erwachte.

Um sich abzulenken, schaute er sich „Die Tribute von Panem“ an. Es war, als zog sein Leben an ihm vorbei. Die Handlung bestand darin, dass zwölf junge Menschen von zwölf bis achtzehn Jahren sich gegenseitig zu töten hatten, bis nur noch einer übrig bliebe. Die Kampfszenen waren so brutal, wie das moderne Publikum es forderte (oder wie die Vorstellung vom modernen Publikum oder die eigene Fantasie die Filmemacher inspirierte). Blut kam aus den Mündern oder aus verlorenen Augen. In einer Szene lag ein junger Mann mit durchtrennter Halsschlagader zuckend am Boden, und die Kamera schwenkte mindestens dreimal zu ihm zurück, um zwischendurch immer wieder einmal seinen Todeskampf zu zeigen, bis sich zuletzt dann der tote Körper entspannte...

In ihm loderte etwas auf, was er so noch nie gekannt hatte. Ein lebendiges, warmes, brennendes Gefühl – er spürte es richtig physisch aufsteigen, aus der Tiefe über Bauch und Brust nach oben. Es war ein maßloser, geradezu mordgieriger Hass auf alles, ohne Unterschied – auf die ganze Welt, auf das ganze Leben, auf alles. Jahrelang hatte er Eindrücke gesucht, die immer stärker waren als alle vorherigen. Nun hatte er den Endpunkt erreicht. In einem Sekundenbruchteil war ihm dies klar, leuchtete als kurze Erkenntnis auf und wurde durch den Hass wieder ausgelöscht. Denn der Hass war das neue, stärkste Gefühl, das alles andere überstrahlte und keine anderen Gedanken und Eindrücke neben sich duldete. Der Hass durchbrach die Öde mit einer unauslöschlichen Flamme, doch diese Flamme war gegen alles gerichtet, was existierte. Es war die Flamme des Todes, und deshalb war sie selbst der Endpunkt.

Noch immer im Fieber ging er auf die Straße, setzte sich in die Bahn und fuhr hinaus aus der Stadt. Er hatte ein Jagdmesser bei sich, ein großes, so wie sie auch einige der Kämpfer des Filmes hatten, den er eben gesehen hatte. Irgendetwas würde passieren, er wusste nicht was – und wusste es doch. Es war ihm in jedem Fall egal. Es wäre der letzte Eindruck, der stärkste, der allerstärkste.

An der Endstation stieg er aus und betrat den Wald. Ohne Gefühl registrierte er den Müll, der hier zunächst noch am Wegrand lag, die zartgrünen Blätter der erwachenden Frühlingsnatur, den Gesang der Vögel. In dem Film vorhin hatten auch Vögel gesungen – für ihn war das Kulisse, nicht mehr. Hätte man ihn gefragt, er hätte sich nicht einmal mehr daran erinnert, dass er früher tiefe Erlebnisse gehabt hatte, sogar jenseits des Schleiers... Nichts davon war mehr übrig. Nichts. Seine Seele war öde und leer, erfüllt nur von jenem dunkelsten aller Gefühle, dass nur deshalb als warm und brennend erlebt wurde, weil es mit aller Macht nach Vernichtung drängte.

In der Ferne erblickte er eine Gestalt. Damit hatte er nicht gerechnet. Er hätte nicht gedacht, dass heute überhaupt noch jemand in den Wald geht. Nun ja, es gab Menschen, aber es war idiotisch. Aber diese Gestalt erregte in ihm perfide Gedanken – nein eigentlich nicht Gedanken, sondern Lustgefühle, die aufschäumten und dem Hassbrand in seiner Seele einen konkreten Inhalt verschafften. Der Brand richtete sich auf diese Gestalt in der Ferne...

Er holte auf und sah, dass es ein Mädchen war. Dreizehn Jahre, wie er schätzte. Auch sie hätte in den Panem-Spielen schon mitkämpfen können – aber sie hätte keine Chance gehabt, denn sie war nicht zum Mordinstrument ausgebildet worden. Er sah ihren blonden Pferdeschwanz im Nacken wippen, sah ihren hellen Hals, sah alles schon vor sich, was sich gleich ereignen würde, seine Hand umfasste das Messer in der Jacke, schwitzte vor Lust und Aufregung ein wenig. Etwas heftiger atmend verkürzte er den Abstand weiter und holte das Messer heraus...

Da drehte sich das Mädchen um, es hatte ihn gehört. Er sah in fremde Augen. Sie waren ihm unendlich fremd, denn keines der Mädchen, denen er in all den Jahren begegnet war, hatte solche Augen. Es war ihm nicht bewusst, dass er hier etwas sah, was er sein Leben lang gesucht hatte – gesucht hätte, wenn es ihm bewusst gewesen wäre. Es war ihm nicht bewusst, dass er in diesen Augen sah, was er verfehlt und verloren hatte, aber gerade dies steigerte seinen Hass auf das Leben um so mehr – den Hass auf das Leben um ihn, auf das Leben in ihm, auf das Leben vor ihm... Innerhalb einer Sekunde entbrannte in ihm ein ungeheurer Kampf. In dem dunklen Bewusstsein, dass er diesen Kampf verlieren könnte, erhob er den Arm, um ihn so schnell wie möglich zu beenden – das heißt, seine Tat auszuführen, bevor dieser Kampf ein anderes Ende nehmen könnte.

Nun sah das Mädchen das Messer. Seine Augen weiteten sich, blickten aber noch immer ihn an. Das Mädchen schrie, und es blickte ihn an, und seine Augen waren voll Angst und zugleich baten sie. –

Und dann war der Kampf zu Ende, noch bevor er es wusste. Der Hass brach durch in ein Nichts, schien aus seinen Leibesgrenzen herauszubrechen, heraus in die Luft, hinauf zu den Vögeln, hinauf zu den Baumwipfeln, immer höher, die ganze Welt war voller Hass, und alles strömte aus ihm heraus, erfüllte die ganze Welt, alles außer diese Augen vor ihm, dieses Gesicht. Und dann hatte er den Endpunkt überschritten – und ein noch heißeres, bisher ganz unbekanntes Gefühl stieg in ihm auf. Die ganze Welt aber schien von seinem Hass, der jetzt außerhalb von ihm war, vernichtet zu werden, wurde dunkler und dunkler ... und dann schwanden ihm die Sinne...

Und ein Mädchen beugte sich über ihn, fühlte, ob sein Herz noch schlug, sah seinen Atem und rief Hilfe...

Und die Engel im Himmel jubelten, denn sie wussten vor allen Menschen, dass hier eine Seele eine andere gerettet hatte.