24.05.2012

Die griechische Tragödie und das Märchen

Troika-Europa und die Verleugnung der Vernunft


Inhalt
Von kalten Phrasen und blinder Arroganz
Das Märchen und die Sprachverwirrung
Die Wahrheit als Populismus verleugnet


Von kalten Phrasen und blinder Arroganz

Es ist eine unscheinbare Meldung, die mitten in das Zentrum der Katastrophe weist. Die griechischen Netto-Löhne sind innerhalb eines Jahres um 23% gesunken – von monatlich über 1.400 Euro auf unter 1.100 Euro! (http://bit.ly/KOeRb7).

Die Katastrophe liegt dabei auch in der Tatsache, dass eine solche Meldung überhaupt denselben Charakter haben kann wie irgendein belangloses Fußballergebnis. Dass sie ohne das kleinste Ausrufezeichen auskommt! In welch eine Welt sind wir geraten, wo so etwas ohne jede Gefühlsregung gemeldet und registriert wird – und wo im nächsten Satz allenfalls darauf hingewiesen wird, dass „der geschüttelte Staat“ ja noch immer „weit vor den europäischen Schlusslichtern“ Bulgarien und Rumänien liege! Eine pure Ansammlung von Phrasen!

Der brutalste Sparkurs, den ein europäisches Land je durchmachen musste, fordert seine Opfer – und Europas Politiker fordern noch die Fortsetzung dieses Selbstmordes! Und Europas Medien begleiten das Ganze mit der Gefühlsleere eines Nachrichtentickers...

Die Katastrophe wird weitergehen – und die Geschichte wird Europas Spitzenpolitiker und -beamte als diejenigen hinstellen, die die Zusammenhänge entweder schlicht nicht verstanden haben oder kaltschnäuzig über Leichen gehen. Ein ganzes Land, die Wiege der Demokratie, ist weniger wichtig als die Spekulanten. Die Diktatur der Finanzmärkte (die von niemand anderem ausgeübt wird als von konkreten Profiteuren) ist mächtiger als alle Marionetten zusammen, die da auf Europas Bühne ihr trauriges Schauspiel geben.

Unglaublich ist auch, wie fast sämtliche Medien bei alledem mitspielen und zum Beispiel die Wahl in Griechenland hinstellen: Weil eine sehr große Zahl der griechischen Bürger sich gegen das katastrophale „Spar“-Diktat wendet und die linke Koalition SYRIZA 17% der Stimmen bekam, bezeichnen sogar Medien wie die „Frankfurter Rundschau“ diese Menschen als „Wutbürger“ (http://bit.ly/KSvbDC)! Mit anderen Worten: Bei bestimmten demokratischen Entscheidungen werden mündige Menschen plötzlich als „emotional“ und „nicht mehr ganz zurechnungsfähig“ hingestellt.

Was würden denn die FR-Redakteure machen, wenn man ihren Lohn auf 1.100 Euro kürzen würde? Hätte das etwas mit Wut zu tun – oder geht es um etwas vollkommen anderes? Es geht doch um den absoluten Wahnsinn der politischen Entscheidungsträger! Diese sind es, die nicht mehr ganz zurechnungsfähig sind und deren „Programmen“ man – ganz und gar rational – Alternativen entgegenstellen muss, wie es Obama, Hollande, Prof. Bofinger, die Gewerkschaften und zahllose andere wirkliche Experten tun.

Soll man hier von Ahnungslosigkeit, von Blindheit, von Dummheit oder von Arroganz sprechen?

Sollen wir den FR-Redakteuren tatsächlich den Lohn auf 1.100 Euro kürzen und sie dann, wenn sie auf die Straße gehen, mit der Diagnose „Wutbürger“ belegen? Vielleicht würde der eine oder andere Redakteur dann für die wirkliche Realität aufwachen – und vielleicht würde der eine oder andere dann sogar DIE LINKE wählen. Warum wohl?

Wie abstrus und surreal die Geschehnisse inzwischen sind, zeigen auch seltsame Widersprüche: Nachdem Merkel und Sarkozy Papandreou an einer Volksabstimmung gehindert hatten, sind griechische Politiker nun empört darüber, dass Merkel selbst ein Referendum vorgeschlagen habe – während Berliner Regierungssprecher dies dementieren (http://bit.ly/MuS4Pz). Laut EU-Handelskommissar De Gucht arbeitet man längst an Notfall-Szenarien für einen Austritt Griechenlands, während ein Sprecher der Kommission auch dies dementiert... (http://bit.ly/KiXuMM). Jenseits von Griechenland setzen sich die Widersprüche fort: In Spanien berichtete die Zeitung „El Mundo“, dass Kunden der Bank „Bankia“ innerhalb einer Woche Einlagen von eine Milliarde Euro abgezogen hätten, was der Bankia-Chef bzw. die spanische Regierung sofort aufgeregt dementierten (http://bit.ly/K0jBta).

Das Theater wird sich fortsetzen – die griechische Tragödie läuft mehr und mehr auf ihr furchtbares Ende zu.

Es sei denn...

Das Märchen und die Sprachverwirrung

Es sei denn, es siegt die Vernunft – jene Vernunft, die die herrschenden Kreise heute als Fundament-alismus bezeichnen, weil sie selbst gar nicht mehr grund-sätzlich denken können; jene Vernunft, die heute wie aus dem Märchenbuch längst vergangener Zeiten zu stammen scheint; jene Vernunft, die mit gesundem Menschenverstand, mit Aufklärung und mit Humanismus zu tun hat – mit all dem, was heute verloren gegangen ist und ganz von Bürokratismus, Ideologie und Marktfundamentalismus überwuchert wurde.

Es ist unglaublich, dass den heutigen Politikern und „Entscheidern“ jegliche Phantasie (im besten Sinne), jeglicher moralische Realismus völlig verloren gegangen ist. Warum rühren uns echte Märchen denn so an? Weil in ihnen offenbar wird, wozu der Mensch fähig wäre! Es geht nicht um eine naive Unterteilung der Welt in Gut und Böse – und dennoch gibt es diese beiden Kategorien. Gut ist, was den Menschen dient. Und böse, schlecht oder nicht gut ist, was allenfalls Einzelnen dient, während es vielen schadet.

Nur herrscht auch hier eine sehr bewusst von den Ideologen eingefädelte Sprachverwirrung – denn selbstverständlich bezeichnen die Vertreter derjenigen Maßnahmen, die den Vielen schaden, ihre „Spar-“ und anderen Programme als „gut“, während wirklich vernünftige und menschliche Gedanken als das Gegenteil bezeichnet werden – zwar nicht direkt als „schlecht“ (denn das wäre schlecht möglich), aber als „naiv“ etc., was so ziemlich die stärkste Waffe ist, die man in der heutigen intellektuellen, vom kalten, zweckrationalen Denken beherrschten Welt auffahren kann.

Was wäre, wenn das sogenannte „Naive“, aber Gute, nur deshalb nicht durchdringt, weil es von den herrschenden Kreisen massiv verhindert und bekämpft wird? Was wäre, wenn das angeblich naive Gute seine Fruchtbarkeit sofort erweisen könnte, wenn die herrschenden Kreise nicht fortwährend das Schlechte und Schädliche mit aller Gewalt durchsetzen würden?

Das Märchen ist nicht deshalb „nur ein Märchen“, weil es keinen Realitätsgehalt hätte, sondern weil der kalte, auf Macht und Profit orientierte Verstand allgemein durchsetzt, dass man an Märchen nicht mehr zu „glauben“ habe. Unsere Welt ist deshalb so unmenschlich und phantasielos, weil die Menschlichkeit und die Phantasie aus ihr verbannt werden! Würde der unmenschliche Verstand seine Macht mit der Phantasie teilen, so würde er sich wieder in die wahrhaft menschliche Vernunft verwandeln können! Dann würde das Märchen wahr werden, würde zur Realität werden können – und die falschen Märchen unserer Zeit würden endlich in das Reich der falschen Phantasie verbannt werden können!

„Der Mensch ist von Natur aus ein egoistisches Tier“, „Der Egoismus aller führt zum größten Wohl aller“, „Es gibt keine Moral“, „Gott existiert nicht“. All diese und unzählige andere Gedanken sind die „wahren“ Märchen unserer Zeit, die vor der Wirklichkeit überhaupt keinen Bestand haben und in das „Reich der Phantasie“ verwiesen werden müssen ... während das wirklich Menschliche aus dem wahren Reich der Phantasie stammt, das eine Realität ist und das auch mit der irdischen Realität eins werden kann, wenn „Träume wahr werden“ – und wenn der Mensch mit seiner eigenen menschlichen Vernunft ernst macht. Dann erweist sich die Wahrheit der gegenteiligen Sätze:

„Der Mensch ist seinem tiefsten Wesen nach unendlich viel mehr als ein Tier und ein Träger der Liebe.“ „Der Egoismus aller führt zu immer größerem Leid und Elend.“ „Moralität ist das Realste, was es überhaupt gibt – auch wenn es unzählige Menschen gibt, die diese Sphäre nicht mehr erleben können.“ „Gott existiert.“

Beweisen kann man all diese Sätze nur von innen, in der eigenen Erfahrung. Wer die Erfahrung nicht hat, hängt weiter den dogmatischen Vorstellungen des toten Verstandes an...

Die Wahrheit als Populismus verleugnet

Aber kehren wir zurück zur Vernunft: Was ist nicht vernünftig daran, dem Irrsinn der Spekulation (die die Staaten wie hilflose Kaninchen vor sich hertreibt), dem Irrsinn der nie wieder zu tilgenden Schuldengebirge, dem Irrsinn der nur noch nach Profit gierenden Banken ein Ende zu machen – und das Finanzsystem wie auch die gesamte Wirtschaft wirklich dem Menschen dienen zu lassen? Der Irrsinn ist, dass man dies nicht will! Und schlimmer noch: dass man behauptet, es wäre heute so!

Es ist doch unglaublich aufschlussreich, dass der SYRIZA-Vorsitzende Alexis Tsipras, der jetzt von Frankreich nach Deutschland reiste, wie eine heiße Kartoffel gemieden wurde: Die CDU signalisierte hastig, man habe kein Bedarf an einem Gespräch (http://bit.ly/KSxZAL).

Man wirft ihm Populismus vor, wenn er darauf hinweist, dass die „Sparmaßnahmen“ nur einen Schuldenkreislauf generiert haben, und wenn er von einem „Krieg zwischen den Märkten und den Völkern“ spricht – aber es ist doch die Wahrheit! Heute aber heißt Wahrheit „Populismus“ – und griechische Bürger, denen nur noch ihre nackte Existenz bleibt und die sich gegen den Wahnsinn wenden, heißen „Wutbürger“...

Der aktuelle „Freitag“ bzw. Autor Michael Krätke verweist auf die ganze Ironie der Geschichte, wenn er Tsipras zitierend schreibt:

„Wie lange wollt ihr Deutschen das Geld noch in ein Fass ohne Boden werfen?“ Was wie ein Satz von Thilo Sarrazin klingt, hat bei Tsipras aber die umgekehrte Stoßrichtung. Von der jetzigen Politik profitierten nur Banken, an den Menschen ginge die Hilfe vorbei. [...] „Die Medien beschreiben uns oft als Partei, die Europa zerstören will, aber wir sind europafreundlich. Es sind die jetzt führenden Kräfte, die eine europafeindliche Politik machen.“

Man muss wohl dazusagen, der LINKEN – quer durch Europa – geht es um ein Europa der Menschen, nicht um ein Europa der Banken, der Bürokraten, der versagenden „Rezepte“, der Arroganz der Macht oder der Profitsucht. Wenn dieser Unterschied nicht verstanden wird, werden die übrigen Parteien ihr Projekt der Zerstörung Europas weiter fortführen – und sich dabei bis zuletzt als große Wohltäter vorkommen.

Schließen wir mit dem Untertitel des „Freitag“-Artikels und ersetzen wir „Griechenland“ durch „Europa“ (womit wir nicht das Staaten-Gebilde, sondern wiederum die Menschen meinen):

Vielleicht hat Europa ja nur auf einen wie Alexis Tsipras gewartet – einen selbstbewussten jungen Mann, der keine Angst davor hat, die Welt zu verändern.