2012
30.05.2012

Der Amoklauf der EU-Kommission

Anmerkungen zur Perversion menschlicher Ziele und Zwecke.


Eine Reuters-Meldung von heute trägt den Titel: „EU-Kommission mahnt weitere Reformen in Deutschland an“. Wenn wir die Meldung lesen, bekommen wir ein gründliches Gespür dafür, welche Impulse in der heutigen Welt wirken und den Lauf der Ereignisse prägen (siehe dazu auch meinen ausführlichen Aufsatz „Das Moralische als absolute Wirklichkeit“).

Der Mensch als Wachstumshindernis

Für die EU-Kommission und damit auch für die EU-Mitgliedsstaaten ist das Wirtschaftswachstum bekanntlich ein höchstes Ziel – um nicht zu sagen ein aggressiver Selbstzweck. Dadurch ist es möglich, dass selbst das mit Abstand wirtschaftsstärkste Land der EU – Deutschland – ebenfalls immer weiter vorangepeitscht wird, um seine Wirtschaftskraft zu stärken.

Zitieren wir:

Eine [...] Großbaustelle ist nach dem Arbeitspapier aus der Kommission der deutsche Arbeitsmarkt, der immer mehr unter dem Rückgang der Erwerbsbevölkerung leide. Daher müsse alles getan werden, um Beschäftigungsreserven zu mobilisieren und Hindernisse zur Arbeitsaufnahme abzubauen. Zu diesen Hindernissen zählen die Kommissionsexperten das geplante Betreuungsgeld ebenso, wie das Ehegatten-Splitting oder die Mitversicherung nicht-erwerbstätiger Ehegatten in der Krankenversicherung. Auch die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters müsse unbedingt Bestand haben.


Mit anderen Worten: Hier kommen massiv neoliberale Anschauungen direkt aus der EU-Kommission und üben auf Deutschland Druck aus – bzw. geben der neoliberal gesinnten Regierung jede beliebige „Vorlage“, um entsprechend zu handeln!

Warum „leidet“ denn der „Arbeitsmarkt“ unter dem Rückgang der Erwerbsbevölkerung? Leiden die Menschen nicht vielmehr darunter, dass sie ihre Arbeitskraft zu Markte tragen müssen – und es darüber hinaus einen unglaublichen Rückgang an Erwerbsarbeit gibt!? Hat irgendein Kommissions-Beamter (!) schon einmal die Erfahrung gemacht, dass auf jeden besseren Arbeitsplatz einhundert und mehr Bewerber kommen?

Es müsste jedem Menschen auffallen, dass in dem „Arbeitspapier der Kommission“ der Mensch überhaupt nicht vorkommt! Es wird nicht einmal das Wort Mensch genannt – stattdessen ist die Rede von Arbeitsmarkt, Erwerbsbevölkerung, Beschäftigungsreserven, Ehegatten etc.! Es ist eine zutiefst technokratische Sprache, die den Menschen im Grunde sogar als Hindernis für das Wirtschaftswachstum sieht. Der Mensch muss ja zur Arbeitsaufnahme gebracht werden, Reserven müssen mobilisiert werden, Mütter oder Väter dürfen ihre Kinder nicht betreuen, Ehegatten dürfen nicht gemeinsam versichert sein, alte Menschen müssen unbedingt länger arbeiten...

Unmenschlicher, technokratischer und diktatorischer wurde in dieser Beziehung wohl selbst im Nationalsozialismus nicht gedacht und geschrieben!

Ökonomische Dummheit

Zitieren wir nochmals:

Zur Haushaltspolitik erklärte ein EU-Vertreter: "Hier ist die Kommission mit Deutschland weitgehend zufrieden". [...] Auch beim Abbau der hohen Ungleichgewichte in der Leistungsbilanzen der EU-Länder sieht die Kommission Deutschland nicht in der Pflicht, seine Exporte künstlich zu dämpfen. Allerdings könnte Deutschland mehr für die Binnennachfrage tun. Korrekturbedarf sieht die Kommission bei einem Defizitausmaß in der Leistungsbilanz ab vier Prozent der Wirtschaftsleistung sowie bei einem Überschuss von über sechs Prozent – und davon ist Deutschland noch weit entfernt. [...]


Sahen wir bereits im ersten Zitat, wie arrogant die Kommission in die nationale Souveränität eingreift, um auch die letzten Reste des Sozialstaates zu zerstören, setzt sich diese Arroganz hier fort: „...weitgehend zufrieden“!

Darüber hinaus wird an diesem zweiten Zitat der unglaubliche volkswirtschaftliche Dilettantismus der Kommission deutlich! Wie soll „Deutschland“ etwas für die Binnennachfrage tun, wenn die Menschen noch weniger Geld als bisher schon in der Tasche haben sollen (kein Betreuungsgeld, keine gemeinsame Krankenversicherung etc.)? Auch wird mit keinem Wort erwähnt, dass die Binnennachfrage gerade deshalb so gering sind, weil die Reallöhne in Deutschland seit Jahren am Sinken sind, während sich der Niedriglohnsektor und die prekären Beschäftigungsverhältnisse rapide ausbreiten?

Ebenso wenig wird erkannt, dass Deutschlands seit Jahren bestehender massiver Exportüberschuss unmittelbar den Leistungsbilanzdefiziten anderer Länder entspricht! Da Überschüsse und Defizite sich immer gegenüberstehen, stehen die Defizite zum Beispiel Griechenlands direkt in Zusammenhang mit den Überschüssen Deutschlands! Die Tatsache, dass die Europäische Union zwangsläufig auch eine Transferunion sein muss, wenn sie nicht zusammenbrechen soll, scheint bei der Kommission noch immer nicht angekommen zu sein.

Und auch der Verweis auf abstrakte Prozentzahlen zeigt noch einmal drastisch, wie wirklichkeitsfern die Kommission auf die Dinge schaut. Wenn wir die ungeheure Wirtschaftsmacht Deutschlands innerhalb der EU berücksichtigen, sind sechs Prozent Überschuss bereits ein riesiger Wert. Dies bestätigt sich, wenn wir die Leistungsbilanzen der verschiedenen Länder anschauen.

Wir sehen, dass in den letzten Jahren der deutsche Überschuss ausgereicht hat (neben wesentlich kleineren Überschüssen von den Niederlanden, Österreich und Luxemburg), um acht weitere Länder der Eurozone ins Defizit zu bringen, davon Griechenland und Portugal mit 10% und mehr vom Bruttoinlandsprodukt!

Eine eindrückliche Grafik findet sich z.B. auch in einem Report der Böckler-Stiftung, auf den ich im Zusammenhang mit einer ausführlichen Behandlung der Zusammenhänge auch in meinem Buch „Zeit der Entscheidung“ schon verwiesen habe (Abb. 11, S. 17).

Katastrophe oder Blüte...

Solange mit immer abstrakteren Maßnahmen die Wirtschaftsleistung gesteigert werden soll, während der entscheidende Faktor – Geld in den Händen der Menschen – und das entscheidende Subjekt – der Mensch selbst! – absolut missachtet und übergangen werden, wird die EU-Kommission weiterhin zur Katastrophe beitragen.

Es ist die Katastrophe einer zunehmenden Verarmung großer Teile der Bevölkerung – und die Katastrophe einer vollkommen unmenschlichen, pur technokratischen Politik, die alles vermissen lässt, was menschliches Dasein und menschliches Zusammenleben ausmachen würde.

Einen wirtschaftlichen und einen kulturellen Aufschwung würde es nur geben können, wenn wir über Arbeit, Geld und Kultur grundsätzlich anders denken lernen.

Dazu gehört die Erkenntnis, dass der Wohlstand nicht steigt, wenn man die Menschen um jeden Preis in die Erwerbsarbeit peitscht, auch wenn längst nicht mehr auch nur ansatzweise genügend Erwerbsarbeit vorhanden ist. Die Rationalisierung hat sehr viel Erwerbsarbeit verschwinden lassen – während ganz viel sinnvolle Arbeit nicht bezahlt werden kann, weil sich die Profite bei großen Unternehmen und hochvermögenden Einzelpersonen sammeln. Es geht, wenn wir von Wohlstand reden, auf Jahrzehnte hinaus um eine echte (Um-)Verteilung von sinnvoller Arbeit, Einkommen und Vermögen.

Wenn dies geschähe, würde die „Binnenkonjunktur“ eines jeden Landes wirklich blühen – und nicht nur diese, auch die Kultur und das soziale Element hätten wieder eine materielle Grundlage, auf der sie aufblühen könnten. Die EU-Kommission und die herrschenden Regierungen wollen davon nichts wissen. Doch die Menschen Europas müssen dies immer klarer erkennen, um sich von den völlig wirklichkeitsfremden Phrasen der „Meinungsführer“ nicht mehr beeindrucken zu lassen, sondern diese als das zu entlarven, was sie sind:

Ein für alle menschliche Interessen blindgewordener Amoklauf zur Abtötung jedes gesunden Menschenverstandes im Sinne einiger weniger Profiteure...