25.06.2012

Antwort an einen Nihilisten

„Und er rächt sich an dem, was er angestrebt hat ... setzt es herab und macht es lächerlich...“ (Emile Cioran)


Inhalt
Zwei „Begegnungen“
Emile Cioran
Die Antwort
Das Geheimnis der Liebe

Zwei „Begegnungen“

Vor kurzem erhielt ich einen Anruf von einem Mann, der mein Buch „Zeit der Entscheidung“ als kostenloses Rezensionsexemplar haben wollte. Im Gespräch stellte er sich einerseits als der Anthroposophie verbunden dar, andererseits brachte er das Gespräch auf seltsame Bahnen und behauptete zum Beispiel, Steiner habe sehr wahrscheinlich Kokain genommen. Überhaupt schien er seltsam hin- und her schwankend. Als ich ihn fragte, wie er denn nun zur Anthroposophie stehe, bekräftigte er, er habe keinen Zweifel an den Forschungen Rudolf Steiners. Aber dann wieder Kokain...

Ich sagte ihm, man könne doch nicht einerseits von der Wahrhaftigkeit und tiefen Moralität auch nur einer solchen Schrift wie „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ ernsthaft berührt worden sein und andererseits glauben, Steiner sei drogenabhängig gewesen. Für meinen Gesprächspartner jedoch war beides vereinbar! Mir schien sein Denken von Zweifel und damit einhergehend von einer gewissen nihilistischen Beliebigkeit geprägt zu sein – vielleicht mit Überzeugungen, aber ohne jedes innere Feuer. Ich bereute es schon, ihm die Rezensionsexemplare zugesagt zu haben, denn ich war mir sicher, dass mein Buch bei ihm in den falschen Händen war.

In Bezug auf den angeblichen Kokainkonsum Rudolf Steiners verwies der Mann übrigens auf Cornelia Giese. Vielsagend ist schon der Titel: „Rudolf Steiner und die Frauen. Im Zentrum seines Lebens, im Schattens seiner Macht.“ Gieses „Indizien“ sind unter anderem: Steiners „Schlaflosigkeit“, seine „Auszehrung Monate vor seinem Tod“, „sein Schaffens- und Redezwang“ („bis hin zur Faselei zum Ende seines Wirkens“), „innere Wahrnehmungen oder Schauungen“. Man muss hier eigentlich nichts weiter hinzufügen. Wer in Steiner nicht den Eingeweihten erkennt, sondern dies geradezu aggressiv ablehnt, mag sich die Dinge so zurechtlegen. Gieses erstes Argument ist, dass Steiner bei einer Bestellung von Schnupftabak bei englischen Tabakhändlern in Ilkley im Juli/August 1923 von „Schnee“ sprach. Dabei hieß offenbar einfach die Sorte „Snow“... (siehe Frank Hörtreiter, Die Drei, 2/2011, S. 83).

Mein Eindruck von dem Gespräch wurde durch das, was danach geschah, aber noch in jeder Hinsicht übertroffen. Eine Woche später nämlich erhielt ich mein zweibändiges Werk zurück und dazu folgenden Brief, in dem dieser Mann auf einmal in völlig anderer, harter Weise „Klartext“ sprach:

Monsieur Niederhausen,
vielen Dank für Ihre Bücher. Die dort vorgetragenen philadelphischen Phantasmagorien (II,782) haben diesseits für einige Heiterkeit gesorgt, ebenso Ihr telefonischer Präsenz­modus als Inquirent Ihres Dornacher Idols. Gleiches gilt für Ihren Versuch, mich der Inkonsistenz zu 'überführen'. Von Dialektik haben Sie noch nie gehört? Erst als ich dann Ihr Foto im Netz-­Abort sah und einen Blick auf Ihre glanzvolle Karriere als Schulzeitungs­redaktor werfen konnte, wurde mir klar, was Nietzsche mit seiner Notion ge­meint haben mußte: 'Der Pharisäismus ist die Bedingung von allem Gutsein.'
Diesem korrespondiert schönstens Ihre idolatrisch‑hagiolatrische Tendenz in Sachen Steiner [...] und das gilt natürlich auch für Ihre philanthropischen Desiderien. Ich schicke Ihnen daher die Bücher wieder retour. Mit etwas mehr Humor würden Sie vielleicht einen besseren Eindruck machen, womöglich nach der horazischen Devise Ridentem dicere verum. Denn wir befinden uns alle im Irrtum, Monsieur Niederhausen, ausgenommen die Humo­risten, die den ganzen Spuk unserer Existenzialien durchschaut haben. [...]
Ein nächster Schritt könnte darin bestehen, daß Sie sich von der naiven Vor­stellung verabschieden, das Experimentum mundi et humanitatis sei mit Parä­nesen Ihrer Provenienz zu salvieren. Diesbezüglich lege ich Ihnen ein paar Blätter über Cioran bei, die den Ist‑Zustand des federlosen Bipedengeschlechts auf den Punkt bringen. [...]

Emile Cioran

Aus dem beigelegten Text über Emile Cioran möchte ich folgende Worte dieses extremen Nihilisten zitieren:

„Jeder von uns kommt mit einer Dosis Reinheit zur Welt, deren Bestimmung es ist, herabgesetzt zu werden [...].“

„Von allen Geschöpfen vermag nur ein einziges nachhaltigen Ekel einzuflößen: der Mensch.“

„Ein Kot, an den Gott niemals seine Hand gelegt hat, ein Tier, das kein En­gel verändern kann, ein unter Grunzen gezeugtes Unend­liches, eine aus einem Spasmus hervorgegangene Seele.“

„Je mehr wir die Empfindung unserer Bedeutungslosigkeit haben, um so tiefer werden wir die andern verachten.“

„Der Zeitpunkt ist nicht mehr fern, wo es nötig sein wird, sich in einem Zustand be­sonderer Begnadung zu befinden, nicht etwa um sie (die Menschen) lieben zu können, das ist unmöglich, sondern ganz einfach um ihren Anblick zu ertragen.“

„Wir gehen in Massen auf eine Verwirrung oh­negleichen zu, wir werden uns wie zuckende Nieten, wie irrwitzige Marionetten gegeneinander auflehnen, weil, da alles für alle unmöglich und unerträglich geworden ist, niemand mehr zu leben geruhen wird, außer um zu ver­nichten und sich selbst zu vernichten.“

Aber es gibt noch einen anderen Cioran, der eine andere Seite seiner Tragik offenbart:

„Ich strebte nach dem Glück, das man bei den Göttern kostet, und ich habe nur diese termitenhafte Niederge­schlagenheit erreicht.“

Und in schonungsloser Selbsterkenntnis schreibt er:

„Der Skeptizis­mus ist eine Selbstbestrafung: der Skeptiker kann sich selbst nicht verzeihen, auf halbem Weg stehengeblieben zu sein. Und er rächt sich an dem, was er angestrebt hat, er beschuldigt das unerreichte Ideal, setzt es herab und macht es lächerlich, er schlägt mit seinem ältesten und liebsten Traum um sich selbst.“


Nur in der Musik findet er etwas von dem Ziel seiner Sehnsucht wieder:

„Ich empfehle die Musik von Mozart und Bach als Heil­mittel gegen die Verzweiflung.“ – „Wenn wir mit Bach die Sehnsucht nach dem Paradies fühlen, so sind wir mit Mozart darin. Diese Musik ist wahrhaft paradiesisch. Ihre Harmonien sind Lichttanz im Ewigen. Mozart kann uns lehren, was der anmutige Begriff der Ewigkeit bedeutet. Eine Welt ohne Zeit, ohne Schmerz, ohne Sünde...“ – Mu­sik erweckt für Cioran die Reue, „daß wir nicht sind, was wir sein müßten, und ihr Zauber entzückt uns einen Lid­schlag lang, indem er uns in unsere ideale Welt versetzt, in der wir hätten leben sollen.“

Die Antwort

Ich schrieb diesem Mann folgendes:

Es ist mir ein Rätsel, warum Sie mich überhaupt angerufen haben. Ein noch größeres Rätsel ist mir, warum Sie am Telefon nicht wahrhaftig waren, sondern erst in der Briefform dazu kommen, Ihre sarkastische, niedermachende Zornesschale über mir auszuleeren.

Ich bedaure Sie, denn Ihr hochmütiger Hass ist unglaublich vielsagend.

Es tut mir leid, dass ich etwas habe, was Sie nicht haben: Die Freiheit von Hass. Das Pharisäertum ist etwas, was Sie in mir sehen wollen, um auch dies hassen zu können. Wäre ich ein Pharisäer, würde ich Sie um ihrer Worte willen ebenfalls hassen oder Sie zumindest von oben herab bemitleiden.

Sie sind mit Ihrem Hass und Ihrer Bitterkeit auf dem Grunde des Kelches der Menschheit angekommen. Doch stärker als bei Cioran sind Sie noch getrieben vom Vernichtungswillen – von dem Willen, dasjenige, was Sie hassen und verachten, zu demütigen, wollüstig zu demaskieren.

Cioran litt wirklich an der von ihm erlebten Realität – Sie zelebrieren Ihre Verachtung der von Ihnen analysierten Nichtigkeit. Cioran konnte bitter beschreiben, was er wahrnahm und erlebte – Ihnen dagegen geht es vor allem um das Erleben Ihrer eigenen Überlegenheit. In Ihrer eigenen Erkenntnis der Nichtigkeit alles Daseins wollen Sie selbst doch noch etwas „sein“.

Cioran litt betroffen von der unendlichen Dekadenz und Wesensferne des menschlichen Geschlechts. Sie lassen das Leiden gar nicht an sich herankommen. Sie mögen vielleicht auch leiden – doch Sie wehren sich dagegen, indem Sie nicht etwa bitter, sondern hochmütig sarkastisch werden. Cioran war so verbittert, dass er sich nicht einmal mehr wirklich über das von ihm verdammte Menschengeschlecht stellte – Sie haben dies noch nötig.

Dabei lebte in Cioran noch eine Erkenntnis desjenigen, was er suchte. Er hatte also noch eine Sehnsucht – und das, was er suchte, fand er in der Musik Bachs und Mozarts. Er wusste also, wozu der Mensch bestimmt gewesen war – und auch, dass es prinzipiell möglich war, das wahre Menschsein zu verwirklichen, zumindest für Momente; zumindest, danach zu streben.

Was aber ist dann die Tragik Ciorans – und mit ihm die Tragik aller Verzweifelten, Verbitterten, in allem Verletzten?

Es ist die Tragik, dass diese unendliche Verletzung, Enttäuschung und Verbitterung dazu führt, dass man selbst auch nicht anders wird als das „wertlose Häufchen Elend“, als das man die Menschheit empfindet.

Die innere Kraft, das innere Vermögen, dieser kleine, zunächst unendlich schwache, aber lebendige Funken, der in den Menschen gelegt ist – diese innere Kraft wird auch von einem Cioran verschwendet, vergeudet, entfremdet, in das sinnlose Leiden und Verbittertsein.

Glauben Sie, ein Mensch wäre je dazu fähig, auch nur hoffnungslos oder verbittert, hochmütig oder sarkastisch zu sein, wenn nicht auch dies eine Kraft wäre?

Cioran sieht, dass alle Menschen diese Kraft vergeuden – und nicht Mensch sind, sondern Abschaum –, aber er selbst tut nichts anderes. Die Erkenntnis des unendlichen Versagens der Menschheit führt ihn zu nichts anderem als bitterem Sarkasmus.

Nichts offenbart die Schwäche des Menschengeschlechts so sehr wie dies. Die „Missgeburt der Schöpfung“ mag zu nichts anderem als zu unendlicher Dekadenz fähig sein – aber dass ein Mensch, der dies erkennt, zu nichts anderem fähig ist als zu tiefem Nihilismus, das ist die eigentliche Tragik.

Denn hier, an diesem Punkt, leuchtet der ganze Widerspruch, die ganze „Dialektik“ (!) auf. Cioran erkennt die tiefe Abgesunkenheit und Verworfenheit der Menschheit und zugleich das, wozu der Mensch eigentlich geschaffen war – aber er findet nicht einmal die kleinste Kraft, zumindest sich selbst, einen einzigen Menschen, dieser Sphäre entgegenzurichten.

Denn der Mensch ist nicht dazu geschaffen, zu hassen, zu verachten, zu verurteilen, auch nicht dazu, sich in Nihilismus zu vergraben – denn dies ist letztlich nichts anderes als abgrundtiefe Faulheit. Cioran ist trotz all seines wahrhaftigen Leidens an der Welt letztlich zu bequem, dieses Leid vollkommen zu tragen, den Kelch vollkommen zu leeren, bis auf den letzten Tropfen. Cioran ist nicht stark und menschlich genug, das ganze Leid zu tragen – er muss es in Verachtung und Bitternis verwandeln, um es ertragen zu können.

Auch Cioran war noch der schwache, niedrige Mensch, der sich selbst fühlen will und muss, der es nicht ertragen kann, ganz nur zu sein ... und das Leiden zu erleben und zu ertragen, ohne sich dagegenstellen zu müssen, ohne sich zu beweisen, zu erhöhen, zu erheben, und sei es nur in sinnloser Bitterkeit und Verachtung.

Das Geheimnis der Liebe

Und das ist die unhintergehbare Grenze zur Liebe.

Sie mögen die Liebe voller Verachtung belächeln, weil Sie sie als unendlich naiv empfinden, als eine Nichtigkeit, eine Illusion. Dem Nihilisten, der sich gegen die Nichtigkeit der Welt noch durch die eigene Verachtung wehren muss, kann sich die Liebe niemals beweisen – und das braucht sie auch nicht. Die Liebe braucht im Gegensatz zur Verachtung nichts zu sein – gerade dadurch ist sie wahrhaft, während alle Verachtung, alle Bitternis, alle Verzweiflung nicht ist, nicht wesenhaft, sondern nur eine tragische Entfremdung des wahren Seins.

Dies ist die Seinsvergessenheit, von der Heidegger und andere Existentialisten sprechen. Das wahre Sein ist nicht Blindheit und Dumpfheit, es ist nicht Hochmut, Stolz, Gier und Ruhmsucht, es ist aber auch nicht Enttäuschung und Bitternis. Sondern das wahre Sein ist wahres Leben, wahres Leuchten – und wahre Liebe. Es gibt kein anderes Sein.

Alles andere „Sein“ ist nicht aus sich selbst heraus, sondern verdankt sein Sein etwas anderem, einer Entfremdung des Wahren.

Natürlich ist auch die Entfremdung (doch) wesenhaft und real, aber sie bleibt, was sie ist – Entfremdung. Das gilt für die Nichtigkeit der Welt ebenso wie für deren Verachtung.

In Wirklichkeit ist die Welt nicht zur Nichtigkeit bestimmt – und in Wirklichkeit ist sie auch nicht nichtig.

Und dies ist das Geheimnis der Liebe: Sie sieht in allem dasjenige, was die Verachtung nicht sieht. Und so sieht sie selbst in dem „letzten Abschaum“ noch den realen Menschen, der inmitten seinem ganzen Gefallensein irgendwo noch immer diesen tief verschütteten Funken hat, der nicht zum Leben kommen darf.

Aber gerade darum ist die Liebe nicht blind und naiv, sondern sehend – und entspringt aus ihr nicht Verachtung, sondern Mitleiden.

Der Nihilist, der das Leid nicht erträgt, verachtet die Dekadenz und hasst die Welt (einschließlich sich selbst), weil er nicht die Stärke und den Mut besitzt zu hoffen. Die Liebe erträgt alles, sie verachtet nichts, sie urteilt nicht, sondern sie leidet mit – denn sie sieht jenen Funken, der mit ihr eines Wesens ist. Selbst wenn dieser sich nirgendwo und in nichts zu offenbaren scheint, sie sieht ihn trotzdem, und sie weiß, dass er (auch) da ist. Und nur darum geht es ihr.

Die Liebe verliert sich in keinem einzigen Augenblick in Verachtung, in Urteil, in Selbsterhebung – es ist nicht ihr Wesen, es ist ihrem Wesen fremd.

Das wahrhaft Menschliche, das, was auch (und gerade) Cioran sucht, ist die Liebe. In ihr ruht das wahrhaft Menschliche, und alles wahre menschliche Streben ist Licht von ihrem Licht. Diese Realität ist die wesenhafteste Wirklichkeit, die es gibt – auch wenn man sich ihr gegenüber blind macht, um den Mangel nicht ertragen zu müssen.

Die letzte Frage bleibt immer: Wessen Diener ist man? Dienen wir der Liebe – oder bekämpfen wir sie, obwohl wir sie suchen? Wenn wir sie aber nicht einmal mehr suchen, bekämpfen wir sie notwendigerweise, ja vielleicht sogar mit voller Absicht.

Was Sie tun, liegt in Ihrer Freiheit. Sie können sich auf die Seite des sich überhebenden Sarkasmus und der bitteren Verachtung stellen – oder Sie können versuchen, danach zu streben, das wahrhaft Menschliche wahrzumachen, gerade in sich selbst, immer mehr...

Den Nihilisten aller Zeiten hat Janus Korczak eine ewige Antwort gegeben – in der er ihnen teilweise Recht gab, an dem entscheidenden Punkt aber widersprach:

„Jemand hat einmal boshaft geäußert, die Welt sei ein Klümpchen Dreck, irgendwo im All schwebend; und der Mensch sei ein Tier, das Karriere gemacht habe. Das kann schon sein. Aber eine Ergänzung: Dieses Klümpchen Dreck kennt Leiden, kann lieben und weinen und voller Sehnsucht sein. Und die Karriere des Menschen ist, genau betrachtet, zweifelhaft, sehr zweifelhaft.“


Und völlig widerlegt werden die Nihilisten durch die Existenz des Einen Wesens, in dem alles sein Dasein hat und das – auf jeden einzelnen Menschen hoffend und wartend – die Worte sprach: „Ich bin bei Euch bis an der Welt Ende.“

Wie könnten dann wir je den Hochmut besitzen, den Menschen aufzugeben?