27.12.2012

Waldorfschüler verspotten Brennpunktviertel? – Die wahre Not unserer Gesellschaft

Eine Besinnung auf das Wesentliche. 


Inhalt

Der Brennpunkt, an dem sich die Urteile entzünden
Der entscheidende Punkt
Reales Erleben und scheinheilige Abwehr
Die Realität „sozialer Brennpunkte“
Die tieferen Untergründe des seelischen Erlebens
Zwischen Hass und dem einen, was Not tut...


Der Brennpunkt, an dem sich die Urteile entzünden

Erschütternd ist es, sich einmal tief auf die Meldungen einzulassen, die die Abitur-Zeitung einer Waldorfschule verursachte. Der „Kölner Stadtanzeiger“ berichtet am 21. Dezember [o]:

Eine junge Schwangere mit Zigarette, Großfamilien mit „10 Kusäängs und 19 Kusinään“, gewaltbereite Jugendliche, posende Mädchen in Jogginghosen – so sehen Kölner Waldorfschüler den Stadtteil Chorweiler. „Das Viertel färbt ab“ war das Thema eines Mottotags der Abiturienten. Ihr Bild von Chorweiler ist Teil der Abi-Zeitung geworden, die unter anderem bei einem Adventsbasar verkauft wurde.


Und:

In der Zeitung posierten die Schüler mit Zigarette und hochgestrecktem Mittelfinger. So sahen die Jugendlichen den Stadtteil Chorweiler. Die Schüler mussten sich entschuldigen.


Die Bezirksbürgermeisterin (Grüne) reagierte mit der Bemerkung, ein ganzes Stadtviertel und seine Bewohner seien abgewertet worden und hier würden alle nur denkbaren Vorurteile über sozial benachteiligte Jugendliche geschürt.

Die sehr bekannten „NachDenkSeiten“, die (sonst) tagtäglich hervorragende Hintergrundberichte zur deutschen Politik bringen, haben mit einem Aufsatz externer Autoren auch diesen Vorfall aufgegriffen. Der Titel des Aufsatzes lautet: „Erziehung zum Klassenhass? Waldorfschüler verspotten ihre Chorweiler Nachbarn“. Doch schon nach wenigen Sätzen hat der Artikel nichts mehr mit Chorweiler und der Abi-Zeitung der Kölner Waldorfschüler zu tun, sondern es geht ganz allgemein um die Spaltung der Gesellschaft und um ihre politischen Ursachen. Peer Steinbrück zum Beispiel, der neue Kanzler-Kandidat der SPD, hatte schon vor neun Jahren gesagt, eine sozial gerechte Politik sei eine Politik für jene,

„die etwas für die Zukunft unseres Landes tun: die lernen und sich qualifizieren, die arbeiten, die Kinder bekommen und erziehen, die etwas unternehmen und Arbeitsplätze schaffen, kurzum, die Leistung für sich und unsere Gesellschaft erbringen. Um sie – und nur um sie, muss sich Politik kümmern.“ [o]


Die entscheidende Frage ist nun, wie die verschiedenen Dinge zusammenhängen. Und hier kann man zu einem sehr anderen Urteil, zu einem sehr anderen Fühlen und Erleben und zu sehr anderen Erkenntnissen kommen, als es der Artikel der NachDenkSeiten oder auch der Kölner Stadtanzeiger suggerieren. 

Der entscheidende Punkt

Sehr wahr ist, dass wir in einem Land, ja einer Zeit leben, in der die sozialen Gegensätze immer mehr zunehmen. Politik scheint heute nicht mehr in der Lage und sehr oft nicht einmal mehr willens zu sein, die Zunahme dieser Gegensätze abzumildern, zu begrenzen oder zu beenden. Vollkommen machtlos steht die Politik den Tendenzen gegenüber, die sie kräftig mit hervorgebracht hat – an allererster Stelle einem Wirtschaftsleben, das auf dem Kampf Aller gegen Alle basiert.

Vor noch nicht allzu vielen Jahrzehnten lasen sich Parteiprogramme noch so, dass sich Politiker ehrlich gegen diese ungeheuerliche Tatsache gewehrt haben und nach Wegen suchten, dieses Schandmal jedes wahren Menschseins soweit wie möglich unwirksam zu machen – auch wenn nahezu niemand eine Alternative zum Kapitalismus an sich sah. Heute dagegen ist man sogar blind gegenüber diesem Schandmal geworden, hat sich ihm gegenüber blind gemacht, hat sich daran gewöhnt – so, wie man sich auch sonst an Gewalt, Hass und Hässlichkeit gewöhnt, wenn man sie Tag für Tag wahrnehmen und erleben muss. Das Empfinden für den furchtbaren Hintergrund, die furchtbare Prämisse und die furchtbaren Folgen unseres Wirtschaftssystems ist ganz verloren gegangen. Die Herzen haben sich verhärtet, das Unfassbare ist immer mehr das Selbstverständliche geworden.

Hilflos wachsen wir in ein Zeitalter hinein, in dem die Kräfte des Profits immer mehr alles dominieren. Und diejenigen, die offiziell und im Namen des Volkes die Macht und den Auftrag hätten, die Bedingungen unseres Zusammenlebens zu gestalten, bereiten dieser furchtbaren Alleinherrschaft des Profits den Weg.

Das ist dasjenige, was niemals hätte geschehen dürfen und was niemals weiter geschehen dürfte. Dies ist es, worauf mit aller Schärfe und immer wieder hingewiesen werden muss: Auf den absoluten Gegensatz zwischen selbstbezogenem Profitinteresse und allem wahrhaft Menschlichen – und auf das unendlich tiefe Versagen der politisch entscheidenden Menschen gerade vor diesem Gegensatz.

Gerade in der Zeit der Heiligen Tage und Nächte, in denen wahrhaftig ein überirdischer Friede in die Menschheit einströmen will, um von dieser aufgenommen zu werden, kann uns der ungeheure Gegensatz zwischen unserer irdischen Wirklichkeit und jenem „Reich“, das nicht von dieser Welt ist, doch zutiefst bewusst werden! Wir haben uns nicht nur vom „Reich Gottes“ unendlich weit entfernt, sondern – zugleich damit – auch von allem wahren Menschentum. Mit jedem Schritt, den wir in Richtung einer Welt tun, in der unser Nächster noch mehr unser Feind wird, noch unwichtiger wird, noch mehr zum Kostenfaktor, zur Nummer, zum Konkurrenten wird, mit jedem solchen Schritt werden wir weniger Mensch. Wir verlieren unser Menschsein und nennen dies „Wirklichkeit“, „realen Alltag“, „harte Realität“. Es ist aber eine Wirklichkeit, die wir täglich selbst schaffen – und die in einen absoluten Abgrund hineinführt.

Reales Erleben und scheinheilige Abwehr

Was haben nun aber diejenigen Kölner Waldorfschüler gemacht, die im Zusammenhang des genannten Zeitungsartikels erwähnt werden?

Sie haben im Grunde zum Ausdruck gebracht, welche Vorstellungen sie mit dem Bezirk Chorweiler verbinden. Einen wichtigen Teil dieser Vorstellungen bilden Menschen, die zu den „Verlierern unserer Gesellschaft“ gehören. Zu diesen Vorstellungen gehören Jugendliche, die „auf der Straße herumhängen“ und – bildlich oder ganz buchstäblich – der Gesellschaft den gestreckten Mittelfinger hinhalten...

Was entzünden sich an diesen Vorstellungen und an den entsprechenden Darstellungen der Abi-Zeitung nun für Urteile? Man ist entsetzt über diese Waldorfschüler, es gibt einen „gesellschaftlichen Aufschrei“, man zwingt sie zu einer Entschuldigung... Wofür sollten sie sich entschuldigen? Dafür, dass sie „ein ganzes Stadtviertel und seine Bewohner abgewertet“ haben? Dafür, dass sie „alle denkbaren Vorurteile gegenüber benachteiligten Jugendlichen“ haben?

Gewiss liegt in manchen Äußerungen der Schüler auch eine gewisse Antipathie gegen diese benachteiligten Jugendlichen, gegen das, was sie tun und wie sie sich geben, und gegen die ganzen Verhältnisse, in denen sie aufwachsen und aus denen solche Jugendliche und Erwachsenen hervorgehen.

Aber man wird nicht leugnen können, dass es „soziale Brennpunkte“ gibt und dass diese Bezirke in den Städten unserer Gesellschaft gerade deshalb so heißen und so viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen, weil es gerade an diesen Orten so viele von jenen Erscheinungen gibt, die sich in den Vorstellungen dieser Waldorfschüler widerspiegeln. Es sind also keine (bloßen bzw. falschen) Vorstellungen, es sind zugleich Realitäten.

Der politische Aufschrei, der immer dann zu vernehmen ist, wenn solche Realitäten verbunden mit einer gewissen Antipathie geschildert werden, ist nichts anderes, als eine Offenbarung absoluter Unwahrhaftigkeit und Scheinheiligkeit. Er entspringt dem menschlichen Bedürfnis, nicht sehen zu wollen, was man nicht sehen will: Es kann nicht sein, was nicht sein darf.

Die „sozialen Brennpunkte“ unserer Gesellschaft machen vollkommen offensichtlich, dass mit dieser Gesellschaft und ihrem Wirtschaftssystem (und noch weit darüber hinaus) etwas „nicht stimmt“. Es ist völlig offensichtlich, dass das politische und menschliche Ziel eine „Integration“ dieser Brennpunkte sein muss. Doch Integration kann nicht darin bestehen, die Tatsachen zu verschweigen und wütend alle anzufallen, die den Blick darauf richten und der Gesellschaft den Spiegel vorhalten!

Integration bestünde darin, den „Verlierern unserer Gesellschaft“ den vollen Zugang zum, die volle Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum zu ermöglichen – am materiellen Reichtum, am kulturellen Reichtum, am Reichtum des wahren Menschentums. Wie aber soll das möglich sein, wenn alle politischen Rahmenbedingungen so gestaltet wurden, dass das Erstere gerade nicht geschieht; das Zweite nur in Verbindung mit dem Ersten möglich wäre – und das Dritte, das reale Menschentum, in unserer Gesellschaft ohnehin vollkommen verloren geht, weil das Primat des Ökonomischen und des Konkurrenzmäßigen immer ausschließlicher wird?

Schöne politische Reden kosten nichts. Man kann die Realitäten aber nicht durch schöne Reden verändern – und auch nicht durch Schönreden. Die Verhältnisse werden nicht dadurch „sozial“, dass man versucht, den Begriff „asozial“ zu vermeiden. Integration ist nicht möglich, wenn sie nicht zum Hauptziel einer Gesellschaft wird. Sie kann aber nicht zum Hauptziel einer Gesellschaft werden, wenn Konkurrenz und Profit das Hauptziel sind und wenn die Politik sich freiwillig zum Sklaven dieser Mächte macht und für Sozialarbeit und anderes soziales Wirken immer weniger Mittel und Möglichkeiten zur Verfügung stehen.

Die Realität „sozialer Brennpunkte“

Unter den heutigen politisch gestalteten (miss-gestalteten) Bedingungen werden sich die „sozialen Brennpunkte“ weiter verschlimmern und wie Krebsgeschwüre ausbreiten. Insbesondere in diesen Brennpunkten werden Menschen leben, die jede Hoffnung auf ein menschliches Leben verloren haben oder auch nie wirklich kennenlernen durften, was ein solches menschliches Leben ausmachen würde – und die deshalb vieles tun und zum Ausdruck bringen, was man gemeinhin mit dem Begriff „asozial“ in Verbindung bringt. Viele Jugendliche werden auf der Straße „herumhängen“, der Gesellschaft den „Stinkefinger“ zeigen, lieber von Hartz IV leben wollen als sich im heutigen Arbeitsleben demütigen zu lassen und so weiter.

Viele dieser Menschen werden mit dem, was man „unsere Gesellschaft“ nennt, nicht das Geringste anfangen können, damit nicht das geringste Gefühl verbinden können – oder im schlimmeren Fall nur Antipathie und Hass gegen diese „Gesellschaft“ empfinden können. All dies ist eine Realität, und wer real seelische Vorgänge und Entwicklungen erleben kann, wird unmittelbar verstehen, wie diese Realitäten sich entwickeln. Man kann vollstes Verständnis für diese Entwicklungen haben, ohne sie zu verurteilen. Viele Menschen, die in solchen Bedingungen aufwachsen, haben kaum die seelische Kraft, dem etwas entgegenzusetzen – und so wächst man hinein in etwas, was „asozial“ genannt wird, umgeben von Kräften, die umfassend asozial wirken.

Ist es nun anderen jungen Menschen vorzuwerfen, dass sie sich davon in gewisser Weise abwenden? Dass sie diesen Realitäten und dem, was sich hier offenbart, abwehrend gegenüberstehen? Kann man nicht empfinden, dass dies im Grunde ein innerer Schauder ist? Ein Schauder vor dem Unmenschlichen, was sich offenbart, wenn Menschen in unmenschlichen Bedingungen aufwachsen müssen?

Es muss doch ganz klar ausgesprochen werden, dass es hier um menschliche Verwahrlosung, um Verwahrlosung des Menschlichen geht – und dass diejenigen (jungen und älteren) Menschen, die dies offenbaren, im Grunde niemals zu verurteilen sind, sondern dass sie Opfer der Verwahrlosung werden. Sie werden dies aber, weil sie Opfer unserer Gesellschaft werden, die überall Brennpunkte einer solchen Verwahrlosung zulässt, weil die Verwahrlosung selbst einen Brennpunkt dieser Gesellschaft bildet.

Es würden gar keine sozialen Brennpunkte existieren, wenn nicht im Brennpunkt, im Zentrum der Gesellschaft selbst das Menschliche an sich verlorengegangen wäre. „Soziale Brennpunkte“ existieren nur deshalb, weil unser Wirtschaftssystem, aber auch unser Gesellschaftssystem überhaupt, das Soziale gleichsam ganz ausgeschieden hat. Im Zentrum unserer Gesellschaft stehen Profit und Konkurrenz, sie werden so groß geschrieben, dass wie unter einer riesigen Lupe alles andere nebensächlich wird. Gleichsam im Brennpunkt dieser Lupe aber steht das Soziale – und verbrennt in dem tödlichen, unerträglich gebündelten Feuer der Profitdominanz zu Asche, zu Nichts...

Die tieferen Untergründe des seelischen Erlebens

Junge Menschen, die in diese Welt hineinwachsen, empfinden unbewusst einen tiefen, sehr tiefen Schauder gegenüber dieser unglaublichen Realität: Dass das Wesen des Menschlichen in dieser Welt nicht das Allerwichtigste ist. Sie empfinden die Kälte unserer Welt – und sie schaudern davor zurück. Sie können in dieser Welt aber nur leben, wenn sie diese Kälte teilweise in sich aufnehmen, wenn sie sich an sie gewöhnen...

Junge Menschen schaudern vor allem Unmenschlichen zurück – denn sie wollen Menschen werden, sie wollen in ein wahres, tiefes Menschentum hineinwachsen. Ein Menschentum, das eine Lebensaufgabe ist... Dies ist der tiefste Grund dafür, warum sie dann auch vor allen Offenbarungen des sogenannten „Asozialen“ zurückschaudern und sich vielleicht auch in einem Urteil davon abwenden. In letzter Hinsicht wird hier nicht der konkrete Mensch verurteilt, sondern die Seele muss sich von dem sich offenbarenden Mangel an Menschentum abwenden, weil dieser Mangel aller inneren Sehnsucht der Seele widerspricht – denn die Seele will menschlich werden.

Doch dieselbe abwendende Geste, dieselbe Antipathie, liegt auch dem „Leugnen“ von Realitäten zugrunde. Die stärkeren Offenbarungen sozialer, menschlicher Verwahrlosung überfordern zunächst jeden Menschen – auch wenn er Politiker ist. Es ist die starke Tendenz da, den Tatsachen ihre schlimmste Realität zu nehmen, indem man sie schönredet. Offiziell wird dann gesagt, man müsse jede „Etikettierung“ und jede „Verurteilung“ vermeiden. Das stimmt natürlich. Aber die Realitäten zu sehen, muss noch keine Verurteilung sein. Umgekehrt bedeutet jedes bloße Schönreden, dass man die bestehenden Verhältnisse dazu verurteilt, weiterzubestehen und sich nur noch zu verschlimmern...!

Selbstverständlich muss etwas geschehen, damit in „sozialen Brennpunkten“ wieder das Menschliche zur Wirkung kommen kann. Doch ein Schüler, ein junger Mensch, der wirklich machtlos und im Grunde innerlich erschüttert vor diesen Realitäten steht, hat hier weitaus weniger Möglichkeiten als ein Politiker. Kann man jungen Menschen vorwerfen, dass sie das starke Bedürfnis haben, sich von sozialen Brennpunkten innerlich und äußerlich abzuwenden? Sie empfinden nicht in erster Linie Antipathie, sondern primär ist das Erleben eines inneren Schauders und einer Ohnmacht!

Kann man Politikern vorwerfen, dass sie die Mittel für Jugendzentren und andere Sozialarbeit kürzen oder ganz streichen? Ja, das kann man – denn mit solchen politischen Taten geht wirklich jede Hoffnung verloren!

Aber es geht bei weitem nicht nur um Budgetposten. Es geht um die grundlegende Frage, wann unsere Gesellschaft (und vor allem die sie führenden Politiker) umfassend erkennen, welche gesellschaftlichen Gestaltungen dem Wesen des Menschlichen entsprechen würden.

Unsere Gesellschaft und unsere Politik ist bis ins Innerste verlogen und scheinheilig. Es geht nicht nur um die Scheinheiligkeit, jungen Menschen „Klassenhass“ vorzuwerfen, deren Beiträge in einer Abi-Zeitung ganz andere seelische Hintergründe hat, sondern es geht um die umfassende Scheinheiligkeit, gedanklich-abstrakt überall noch „das Menschliche“ im Munde zu führen, im Realen aber die entscheidenden gesellschaftlichen Prozesse ganz und gar auf das Unmenschliche zu gründen – und dies täglich sogar noch voranzutreiben.

Zwischen Hass und dem einen, was Not tut...

Die Beiträge in der Abi-Zeitung der Kölner Waldorfschüler offenbaren die Erschütterung der menschlichen Seele vor unmenschlichen Verhältnissen – und vor dem, was Menschen offenbaren, wenn sie nicht einmal dasjenige Menschliche entwickeln, was für die meisten Menschen (noch) „normal“ ist. Die betreffenden Kölner Waldorfschüler haben vielleicht Antipathie gegen diejenigen Menschen empfunden, die ein Großteil (!) unserer Gesellschaft als „Asoziale“ bezeichnen würde, aber sie empfinden keinen Hass.

Hass empfindet der Rechtsradikale, der die Lösung in „hartem Durchgreifen“ sieht, dessen Urteil so hart wird, dass er im Grunde den Gedanken des „lebensunwerten Lebens“ fasst und dem „Asozialen“ das Menschenrecht entzieht.

Aber nicht nur der Rechtsradikale ist ein Hass-Prediger, in subtilerer Weise sind es auch jene Politiker, die sich innerlich klammheimlich von ihrer Verantwortung für die Verhältnisse verabschieden und jeden Menschen selbst für sein Schicksal verantwortlich machen – wie Peer Steinbrück in seinen oben zitierten Worten. Denn der Hass entsteht dadurch, dass man den Mitmenschen (sobald er „asozial“ wird!) in seine alleinige „Verantwortung“ zurückstößt und leugnet, dass die Dinge immer zusammenhängen. Hass entsteht, wenn man völlig verdrängt und unterdrückt, dass man für seinen Menschenbruder und seine Menschenschwester mitverantwortlich ist. Heute wird diese Wahrheit in zahllosen politischen Verlautbarungen verdrängt und vergessen gemacht...

Hass lebt aber auch in den sozialen Brennpunktvierteln. Wer sozial „ganz unten“ steht und zu den „Verlierern“ dieser Gesellschaft gehört, wird geradezu in den Hass hineingetrieben. Man darf auch nicht die Augen davor verschließen, dass zum Beispiel gewisse „religiöse“ Strömungen den Hass verstärken oder ihn sogar predigen. Die verschiedensten Einflüsse kommen in einem solchen „Brennpunkt“ notwendigerweise zusammen und können sich hier massiv und gebündelt auswirken, weil das Gegengewicht, die wirklich menschlichen Impulse, so schwach ausgeprägt ist.

Wo aber soll dieses Gegengewicht herkommen, wenn alle Zeichen der Gesellschaft auf „Konkurrenz“ stehen? Ist dies letztlich nicht nur eine Vorstufe von „Hass“!? Wo soll das Gegengewicht herkommen, wenn selbst die idealistischsten Pädagogen an staatlichen und auch freien Schulen fast ohnmächtig gegen einen reißenden gesellschaftlichen Strom ankämpfen müssen, in dem Selbstbezogenheit und Hass quasi wie von selbst wachsen und gestärkt werden, während alles Menschliche den realen gesellschaftlichen Verhältnissen und Rahmenbedingungen fortwährend abgerungen werden muss?

Die Schüler, die in der Abi-Zeitung der Kölner Waldorfschule die so kritisierten Beiträge gebracht haben, haben nichts anderes getan, als zu offenbaren, was sie an dem Brennpunktviertel Chorweiler erleben. Man könnte im Vergleich dazu einmal sämtliche Menschen wohlsituierter Stadt- und Landbezirke in ganz Deutschland befragen, was sie zu den Realitäten solcher „sozialen Brennpunkte“ denken und fühlen... Und man könnte auch fragen, ob führende Politiker ihre eigenen Kinder in entsprechende Brennpunktschulen schicken (würden) – und warum nicht.

Anstatt scheinheilig und verlogen den jungen, noch nicht einmal erwachsenen Menschen vorzuwerfen, was sie an Erleben offenbart haben, müsste man tief und umfassend die Frage aufwerfen, was wirklich getan werden müsste und was wirklich Not täte, um die Realitäten zu verändern – um diese Realitäten in das Menschliche zu verwandeln...

Man kann nicht zwei Herren dienen. Entweder man wird den Profit und die Konkurrenz zur Grundlage einer Gesellschaft machen, oder man wird ganz andere, menschliche gesellschaftliche Strukturen finden, in denen nach und nach, immer mehr, der Mensch den anderen Menschen auch als Mitbruder und Mitschwester erleben werden kann.

Dies und nichts anderes ist die innerste Sehnsucht der Menschenseele – und das innerste Wesen alles wirklichen Menschentums. Wirkt man im Sinne dessen, so wirkt man im Sinne des Menschen. Wirkt man im Sinne dessen, was dem entgegensteht und -wirkt, so handelt man gegen den Menschen. Und wir alle haben tief in uns ein untrügliches, reines Urteilsvermögen, eine unbestechliche, reine innere Stimme, die uns in jedem Einzelfall offenbaren kann, ob etwas in Übereinstimmung mit diesem wahrhaft Menschlichen steht oder nicht... Diese Stimme lebt an demselben inneren Ort, wo auch jene innerste Sehnsucht lebt: Die Sehnsucht, seinen Nächsten – und das ist: jeden Menschen, der mir gerade gegenübersteht – so zu lieben wie den eigenen Bruder, ja mehr noch:

„...wie ICH euch geliebt habe“ (Joh 13, 34).