Rudolf Steiner über Verlust und Wiedergewinnung des Menschlichen

Einige Auszüge aus den Bänden 127 und 233 der Gesamtausgabe.

Vortrag vom 8.1.1911, GA 127, S. 49f.

Die Menschenseelen sind heute nur in bezug auf die Bewußtseinsseele dazu reif, frei zu werden. Aber die spirituelle Weisheit führt nach und nach dazu, auch die Verstandes- und die Empfindungsseele frei zu bekommen und zu isolieren, so daß der Mensch nicht mehr auf Überliefertes und Gewohntes hinschauen muß, um das Gute zu finden, sondern daß der Impuls zum Guten aus der eigenen Seele strömt. Es ist dies auch eine notwendige Interpretation des Pauluswortes: Nicht ich, sondern der Christus in mir. – Wenn der Christus in den Menschen lebt, werden sie auch in bezug auf Verstandes- und Empfindungsseele frei sein dürfen. [...]

Sie werden verstehen, daß mit einer solchen Bewegung, die auf der Grundlage der spirituellen Weisheit aufgebaut ist, und wo die tieferen Kräfte der Menschenseele zur Isolation wachgerufen werden sollen, nicht nur verbunden werden darf die Neugierde nach den spirituellen Welten – das darf im Grunde genommen gar nicht der Impuls sein zur Geistesforschung –, sondern das Gefühl der Verantwortlichkeit. Durch diese Bewegung wird jede Zukunftsfähigkeit der Menschen in unsere Zeit hineingeholt, es wird ein Zukunftskeim aufgerufen, der jetzt im allgemeinen noch nicht reif ist. [...] Wer etwas tiefer in der Bewegung steht, der weiß und muß wissen – wenn er nicht zusammenbrechen will unter dem Unerträglichen –, wie er immer auf der Hut sein muß, nur das zu sagen, was nicht einmal oder zehnmal, sondern was hundertmal durch seine Seele gezogen ist! [...] Man darf nicht glauben, daß man als Redner jeden Abend sich nur so einfach hinstellen könne, ohne immer wieder und wieder diese Wahrheiten durch seine Seele ziehen zu lassen, damit sie richtig geprägt sind bis auf das Wort. [...]

Vortrag vom 11.2.1911, Gottessohn und Menschensohn, GA 127, S. 60ff.

Es ist keineswegs dasselbe Verhältnis zwischen Ätherleib und Astralleib und Ich für die erste Kindheit und für das spätere Alter des Menschen. [...] Diese Tatsache gehört zu den wichtigsten, daß wir die Scheidung dieser ersten Lebensjahre von den späteren ins Auge fassen und sozusagen die ersten Lebensjahre hindurch den Menschen als ein ganz anderes Wesen ansehen als später. Später erst tritt das Ich des Menschen, dasjenige, woran alles gebunden ist, auf. Aber kein Mensch sollte behaupten, daß dieses Ich vorher untätig war. Es war natürlich nicht untätig. Es wird nicht erst geboren im dritten Jahre; es war da, es hatte nur eine andere Aufgabe als in die Tätigkeit des Bewußtseins einzugreifen.

Was hatte es für eine Aufgabe? Es ist der wichtigste spirituelle Faktor bei der Bildung der drei Hüllen des Kindes, des Astralleibes, Ätherleibes und physischen Leibes. Die physische Hülle des Gehirns wird fortwährend umgebildet. Da haben wir fortwährend das Ich an der Arbeit. Es kann nicht bewußt werden, weil es eine ganz andere Aufgabe hat: es muß erst das Werkzeug des Bewußtseins formen. Dasselbe, was uns später bewußt wird, arbeitet erst an unserem physischen Gehirn in den ersten Lebensjahren. Es ist sozusagen nur eine Änderung der Aufgabe des Ich. Erst arbeitet es an uns, dann in uns. Es ist wirklich ein Plastiker zuerst, dieses Ich, und es ist unsagbar, was dieses Ich an der Formung selbst dieses physischen Gehirns leistet. Ein gewaltiger Künstler ist dieses Ich. Aber wer gibt ihm die Kraft? Diese Kraft hat es aus dem Grunde, weil in das Ich in den ersten drei Lebensjahren die Kräfte der nächsthöheren Hierarchie, der Engel einströmen. [...] Es ist, wie wenn der Mensch den ganzen Strom des spirituellen Lebens hätte, als ob er zu den höheren Hierarchien hinaufflösse und da die Kräfte der höheren Hierarchien auf ihn hereinströmten. Und in dem Augenblick, wo er lernt Ich zu sagen, ist es so, als ob etwas von der Kraft abgetrennt würde, wie wenn er dazu berufen würde, etwas zu tun von dem, was der Engel vorher tat. [...]

Heute erben wir schon mit der Geburt einen so dichten und anspruchsvollen physischen Leib, daß nur ein geringer Teil der Arbeit von dem Ich geleistet werden kann, der früher geleistet worden ist. Unser physischer Leib ist nicht mehr geeignet für das, was wir in den ersten drei Jahren sind. Wir erben jenen physischen Leib, den wir für die späteren Lebensjahre brauchen, und der ist nicht geeignet, das Auge hinaufzurichten in die geistigen Welten. Das Kind weiß nicht, was herunterströmt, und die Umstehenden erst recht nicht, denn es hat sich der physische Leib geändert, er ist dichter, trockener geworden. Wir werden geboren mit einer Seele, die noch in den ersten drei Jahren in die geistigen Welten hinaufragt, aber wir werden mit einem Leib geboren, der dazu berufen ist, das Bewußtsein, in dem das Ich lebt, unser ganzes übriges Leben hindurch zu entwickeln. Hätten wir nicht diesen dichten physischen Leib, so würden wir allerdings kindlich bleiben vermöge des heutigen Menschheitszyklus. Aber weil wir ihn haben, kann das Zusammenleben mit der spirituellen Welt während der drei ersten Jahre nicht zum vollen Bewußtsein kommen.

Was muß jetzt eintreten im Laufe der Menschheitsentwickelung? Was ist das einzig Gesunde? Wir können am leichtesten dieses Gesunde aussprechen, wenn wir die beiden Begriffe der alten Zeit gebrauchen für diese zwei Menschen, die in uns leben. Der eine Mensch ist der geistig-seelische in den ersten drei Kindheitsjahren, der nicht mehr recht zum äußeren Menschen paßt, aber kein Ich-Bewußtsein entwickeln kann. Diesen Menschen nannte man in alten Zeiten den Gottessohn. Und den, der heute seinen physischen Leib so hat, daß das Ich-Bewußtsein darin leben kann, nannte man den Menschensohn. So daß der Gottessohn im Menschensohn lebt. Heute ist es so, daß der Gottessohn sich nicht mehr bewußt werden kann im Menschensohn, sondern erst abgeschnürt werden soll, wenn das heutige Ich-Bewußtsein auftreten soll. Aber des Menschen Aufgabe ist es, den Menschensohn, die äußeren Hüllen, durch bewußte Aufnahme der spirituellen Welt so umzugestalten, so zu überwinden, so sich über das zum Herrn zu machen, daß nach und nach der Menschensohn wiederum ganz durchdrungen wird vom Gottessohn. [...] Was muß den Menschen ganz durchdringen und durchgießen, was muß sich in alle Glieder des physischen, Äther- und Astralleibes hineingießen, damit der Mensch seinen ganzen Menschensohn mit dem ganzen Gottessohn durchdringt? Da muß – vom Ich durchdrungen, vollbewußt –, was in den drei ersten Lebensjahren lebt, den ganzen Menschen durchdringen, das muß sich ergießen.

Nehmen wir an, es sollte vor uns auftreten wie ein Muster dessen, was der Mensch werden soll, ein Wesen wie ein Ideal. Was muß sich bei diesem Wesen erfüllen? [...] Auf keine andere Weise könnten wir ein Ideal der Erdenentwickelung vor uns hinstellen als einen Menschen, dem wir ausreißen seine Seele und dem wir eine Seele einpflanzen wie in den drei ersten Jahren, und diese kindliche Seele müßte das volle Ich-Bewußtsein haben. Die müßten wir einpflanzen. Und wie lange würde dann in einem physischen Menschenleben es eine solche Seele aushalten können? Der physische Leib kann nur drei Jahre hindurch eine solche Seele tragen, dann muß er eine solche Seele unterjochen. [...] Denn beim Menschen, wie er heute ist, ist es so, daß das, was in drei Jahren lebt, unterjocht wird. Bleibt es aber, so müßte es umgekehrt den physischen Leib unterjochen und zersprengen. [...]

Dieses Ideal ist das Christus-Ideal, und was in der Jordan-Taufe geschehen ist, ist die Realität dessen, was geschildert worden ist. Es wurde tatsächlich dieses vor die Erdenmenschheit hingestellt, was wir als das menschliche Ideal begreifen müssen. Es kann gar nicht anders sein. Was wir da einsehen, ist geschehen. Es ist geschehen, daß durch die Jordan-Taufe die Seele, an die wir gebannt werden während unserer drei ersten Kindheitsjahre, aber nun voll durchdrungen vom menschlichen Ich, in vollem Zusammenhang mit der spirituellen Welt nach oben, in einen menschlichen Leib, aus dem die frühere Seele herausging, hineinversetzt worden ist, und daß nach drei Jahren diese Seele aus den spirituellen Welten die Leiber zersprengt hat. [...] Und wenn wir eine solche Menschenwesenheit in uns selber auszubilden versuchen, die wie die Kindheitsseele ist, aber voll durchdrungen von allem Inhalt der spirituellen Welt, dann haben wir eine Vorstellung jener Ichheit, jener Christusheit, von der Paulus spricht, als er die Forderung an die Menschen stellt: Nicht ich, sondern der Christus in mir –: die mit der vollen Ichheit erfüllte kindliche Seele. Dadurch wird der Mensch so, daß er seinen Menschensohn durchdringen kann mit seinem Gottessohn und imstande sein wird, sein Erdenideal zu erfüllen, zu überwinden alle äußere Wesenheit und den Zusammenhang wieder zu finden mit der spirituellen Welt. [...]

Vortrag vom 25.2.1911, Die Arbeit des Ich am Kinde, GA 127, S. 89ff.

Wir haben uns also eine Kluft zu denken zwischen dem Gottessohn und dem Menschensohn. Der Gottessohn, der vorzugsweise tätig ist bis zu dreieinhalb Jahren, enthält alle belebenden Kräfte, das was dem Menschen den Ansporn gibt, immer mehr und mehr Lebenskräfte in seinen Organismus hineinzugießen. Diese Kräfte enthalten auch etwas Aufbauendes, Gesundendes, Belebendes im Verhältnis zum späteren Menschen. Wenn wir im späteren Lebensalter nicht bloß den Menschen haben wollen, der auf seine Sinne angewiesen ist und auf die Werkzeuge seines physischen Leibes, und sich dadurch mit seiner Umwelt in Verbindung setzt, sondern wenn wir auch im späteren Leben in die geistige Welt hinaufragen wollen, dann müssen wir versuchen, auf eine künstliche Weise etwas von diesen Kräften in uns wachzurufen; wir müssen appellieren an die Kräfte, die in uns sind im ersten Kindesalter, nur mit dem Unterschied, daß wir sie jetzt bewußt wachrufen, während das Kind sie unbewußt wachruft. So sehen wir denn, daß der Mensch in dieser Beziehung eine Zweiheit ist. [...]

Wir sinken unter in unseren Menschensohn; der Gottessohn kann nicht mehr aufkommen gegen unseren Menschensohn nach drei Jahren. Aber wir tragen dennoch diesen Gottessohn in uns; es wirken diese Kräfte innerhalb des physischen Leibes das ganze Leben hindurch, nur können sie sich nicht mehr direkt am Aufbau beteiligen. [...]

Die besten Kräfte sind in diesen ersten drei bis dreieinhalb Jahren enthalten; wir zehren das ganze Leben davon. Sie werden verdunkelt, aber sie sind in den späteren Jahren doch in der verschiedensten Art vorhanden. Es ist so, wie wenn wir von diesen Kräften durchsetzt würden und sie nur nicht unmittelbar ausleben lassen könnten. Wenn wir durch die Geisteswissenschaft Begriffe von den höheren Welten aufnehmen wollen, so können wir dies um so besser, je mehr wir von dem in uns haben, was in den ersten drei Jahren in uns war, wo das Ich selbstlos in uns war. Je frischer, je biegsamer diese Kräfte sind, je weniger greisenhaft sie bis ins hohe Alter geworden sind, desto mehr eignen wir uns dazu, uns durch diese Kräfte des Geistes umzugestalten. Es ist der Menschheit bestes Teil, was wir in diesen drei Jahren um uns haben. [...]

Das Ziel der Erdenentwickelung ist, diese besten Kräfte in uns nach und nach zur Geltung zu bringen. [...]

Vortrag vom 6.3.1911, Die Bedeutung der Geistesforschung für das sittliche Handeln, GA 127, S. 127ff.

Eines wird nämlich immer mehr und mehr klar werden für alle Menschen, wenn Theosophie in sie eindringen wird, daß es im Sinne der höheren Ursachen gar nicht ganz gesonderte menschliche Individualitäten gibt, sondern daß neben den gesonderten Individualitäten das ganze Menschengeschlecht eine Einheit darstellt. [...]

Wir gehören unbedingt zu diesem Erdenorganismus dazu, wir bilden einen Teil des ganzen Erde-Lebewesens, und wir betrachten uns nur richtig, wenn wir sagen: Als einzelner Mensch sind wir nichts, wir sind erst vollständig, wenn wir uns hineindenken in den Erdenleib, von dem wir nur das Knochengerüst, die mineralische Schale betrachten, solange wir nicht die geistigen Glieder dieses Erdenorganismus anerkennen.

Wenn nun im menschlichen Organismus sich ein Entzündungsprozeß bildet, wird der ganze Organismus von Fieber ergriffen, der ganze Organismus wird von Krankheit ergriffen. Übertragen wir dies auf den Erdenorganismus, dann können wir sagen, daß es wahr ist, was der Okkultismus zu behaupten hat: daß, wenn irgendwo auf der Erde eine unsittliche Handlung begangen wird, das für den ganzen Erden-Organismus dasselbe ist, wie für den Menschen eine kleine Eiterbeule am menschlichen Körper, der den ganzen Organismus krank macht. So daß, wenn ein Diebstahl auf der Erde begangen wird, die Wirkung davon ist, daß die ganze Erde eine Art von Fieber bekommt. Das ist nicht bloß vergleichsweise gesagt, sondern es ist tief begründet. Unter allem Nichtmoralischen leidet der ganze Erdenorganismus, und wir können als einzelne Menschen nichts tun an Nichtmoralischem, ohne daß der ganze Erdenorganismus in Mitleidenschaft gezogen wird. [...]

Man versuche es, solche Gedanken unserer Kultur einzuprägen, man versuche, mit solchen Gedanken zu appellieren an das menschliche Herz, das menschliche Gewissen. [...] Und die Erfahrung würde zeigen, daß in solchen Erkenntnissen ungeheure moralische Antriebe liegen.

Wenn man noch so viel Moral predigt, das wird den Menschen nichts helfen. Aber solche Erkenntnisse würden den Menschen nicht nur als Erkenntnisse ergreifen, sondern würden, wenn sie sich der Kulturentwickelung einprägen, wenn sie schon in das kindliche Gemüt gegossen würden, einen ungeheuren sittlichen Impuls geben. [...]

So ungefähr wird sich das moralische Bewußtsein der Menschen in der Zukunft gestalten. Derjenige, der einen moralischen Antrieb aus der Theosophie heraus hat, wird sich sagen: Es ist eine Illusion, wenn man sich durch eine unmoralische Handlung einen Vorteil verschaffen will. Du bist, wenn du das tust, wie ein Tintenfisch, der eine dunkle Flüssigkeit ausspritzt: eine dunkle Aura von unmoralischen Antrieben spritzest du aus. Lügen und Stehlen ist ein Keim von einer Aura, in die du dich hineinsetzest und durch welche du die ganze Welt unglücklich machst. [...]

Wodurch kann der Mensch wissen: du bist ein Glied des ganzen Erdenorganismus? Die Theosophie bringt den Menschen dazu. Sie zeigt dem Menschen: erst war ein Saturnzustand da, dann ein Sonnenzustand, dann ein Mondenzustand, überall war schon der Mensch dabei, wenn auch in ganz anderer Weise, als er heute ist. [...] Und dann zeigt die Theosophie hin auf das Mittelpunktwesen der gesamten Erdenentwickelung, auf den Christus als auf das große Menschenurbild. Und aus all diesen Lehren der Theosophie soll dem Menschen das Bewußtsein ersprießen: So sollst du handeln! [...]

Und Theosophie zeigt dem Menschen, daß in der Zukunft der Erdenentwickelung es eine Torheit wäre, nicht die Idee vom Christus aufzunehmen, denn was das Herz für den Organismus ist, ist der Christus für den Erdenleib. Und so wie das Blut durch das Herz den ganzen Organismus mit Leben und mit Kraft versorgt, so muß dasjenige, was die Wesenheit des Christus ist, sich durch alle einzelnen Erdenseelen gezogen haben und es muß für sie Wahrheit werden das Pauluswort: Nicht ich, sondern der Christus in mir! – Hineingeflossen sein muß der Christus in alle menschlichen Herzen. Und wer sagen wollte: Man kann ohne den Christus bestehen – der würde so töricht sein, wie Augen und Ohren, wenn sie sagen wollten, sie könnten ohne Herz bestehen. Beim einzelnen Menschenleibe muß allerdings das Herz von Anfang an da sein, in den Erdenorganismus ist dieses Herz erst mit dem Christus eingezogen. Für die folgenden Zeiten muß aber dieses Christus-Herzensblut in alle Menschenherzen eingezogen sein, und wer sich nicht in seiner Seele mit ihm vereinigt, wird verdorren. [...]

Nicht gleich ist für solche Menschen die Möglichkeit da, ganz zu verfallen, wie Nase oder Ohren es tun müßten, wenn sie sich abtrennen würden vom ganzen Menschenorganismus. Aber das zeigt die okkulte Forschung: Diejenigen, die nicht sich durchdringen wollen mit dem Christus-Element, dem Christus-Leben, so wie es nur durch die Theosophie erreicht werden kann, sie würden, statt mit der Erde zu neuen Daseinsstufen hinaufzuleben, Verfallsstoffe, Zersetzungsstoffe in sich aufgenommen haben, sie würden zunächst andere Wege einschlagen müssen. Wenn die Menschenseelen in den aufeinanderfolgenden Inkarnationen den Christus in ihre Erkenntnis, in ihr Empfinden, in ihre ganze Seele aufnehmen, wird die Erde von diesen Menschenseelen abfallen, so wie ein Leichnam beim Tode eines Menschen abfällt. Der Erdenleichnam wird abfallen, und dasjenige, was Christus-durchdrungen geistig-seelisch da ist, bildet sich zu neuem Dasein fort und reinkarniert sich auf dem Jupiter. [...]

Alles, was später materiell ist, ist zuerst geistig da. Dasjenige, was also Menschen jetzt während der Erdenzeit geistig entwickeln an Unmoral, an Widersetzlichkeit, den Christus in sich aufzunehmen, das ist zunächst seelisch-geistig da. Das wird aber materiell werden, das wird den Jupiter wie ein benachbartes Element umgeben und durchdringen. [...] So daß die Menschen, die nicht die Erdenreife erlangten, ein Kreuz sein werden für die anderen Jupitermenschen, denn sie werden verpestend wirken in der Umgebung, in den Sümpfen und dem sonstigen Boden des Jupiter. Die flüssig-physischen Bestandteile der Leiber dieser Menschen werden etwas sein, was man mit einem Flüssigen vergleichen kann, das fortwährend fest werden will, in sich gefriert, in sich stockt, also daß diese Wesen nicht nur diese fatale Atmungsluft haben werden, sondern auch einen Leibeszustand, so als ob das Blut fortwährend stockte, nicht flüssig bliebe. [...]

Solch ein Bild, wie es der okkulte Forscher voraussehend schaut, nimmt sich schauerlich aus. Aber wehe den Menschen, die wie der Vogel Strauß nicht hinschauen wollen auf die Gefahr und die Augen zumachen möchten vor der Wahrheit! Denn gerade dies wiegt uns in Irrtum und Täuschung, während ein kühnes Anschauen der Wahrheit die größten moralischen Impulse gibt. [...] Denn niemand, der die Folgen der Unmoral wirklich kennt, kann in Wahrheit unmoralisch sein. Die wahren Wirkungen der Ursachen soll man lehren. Schon die Kinder sollen darauf hingewiesen werden. Es gibt nur Unmoralisches deshalb, weil die Menschen keine Erkenntnis haben. Nur die Finsternis der Unwahrheit macht Unmoralisches möglich.

Allerdings soll das, was so gesagt werden kann über den Zusammenhang zwischen Unmoralität und Unwissenheit, kein Verstandeswissen sein, sondern Weisheit. Das Wissen allein macht mit Unmoral, kann sogar, wenn es zur raffinierten Klugheit wird, Schurkerei sein. Während Weisheit so wirken wird auf des Menschen Seele, daß von ihr Wahrheit ausstrahlt, innerste Moralität. [...]

Theosophie zeigt uns, was wir in der Welt vollbringen, wenn wir nicht moralisch handeln; sie gibt Weisheit, von der selber Moral ausstrahlt. Es gibt keinen höheren Hochmut, als zu sagen, man brauche nur ein guter Mensch zu sein, dann wäre alles in Ordnung. Man muß aber erst wissen, wie man das macht, wirklich ein guter Mensch zu sein. Das Gegenwartsbewußtsein ist sehr hochmütig, wenn es alle Weisheit ablehnen will. Die wahre Erkenntnis des Guten erfordert, daß wir tief hineindringen in die Geheimnisse der Weisheit, und das ist unbequem, denn da muß man viel lernen. [...]

Vortrag vom 3.5.1911, Erbsünde und Gnade, GA 127, S. 159ff.

Als der Mensch damals der Versuchung des Luzifer unterlegen ist, ist er mit seinem Astralleib unterlegen. Es ist das also eine Tat der Vor-Ich-Entwickelung, eine ganz andersartige Tat als alle die Taten, die der Mensch hat tun können, nachdem sein Ich auch nur in den allerersten Andeutungen in seine Natur eingezogen war. So fällt also eine Tat des Menschen vor dem Einzuge des Ich in die menschliche Natur. Aber diese Tat wirft ihre Schatten in alle späteren Zeiten hinein. [...] Nun dadurch, daß dies geschehen ist, daß unser Astralleib schuldig geworden ist vor unserer Ich-Werdung, dadurch ist die Tatsache herbeigeführt worden, daß der Mensch nun in den folgenden Inkarnationen, sozusagen in jeder, tiefer in die physische Welt heruntersinken mußte. Das ist der Anstoß zum Heruntersinken, diese Tat, die noch im Astralleibe sich abgespielt hat. Dadurch war der Mensch auf eine schiefe Ebene nach abwärts gekommen, dadurch folgt er mit seinem Ich Kräften in seiner Natur, welche aus seiner Vor-Ich-Entwickelung herrühren. [...]

Die Sünde, welche der Mensch sich erwirbt mit seinem Ich, mag zurückwirken auf den Astralleib, sie kann sich nur im Karma austragen. Die Sünde, welche der Mensch auf sich geladen hat, bevor er ein Ich hatte, trägt bei zu einer fortwährenden Degeneration, Verkümmerung des ganzen menschlichen Geschlechtes. Diese Sünde wurde vererbbare Eigenschaft. [...]

Nur müssen wir dann diese Erbsünde nicht so auffassen wie andere Sünden des gewöhnlichen Lebens, die wir uns voll zurechnen, sondern als ein Schicksal des Menschen, als etwas, das notwendigerweise über uns von der Weltenordnung verhängt werden mußte, weil wir von dieser heruntergeführt werden mußten, nicht nur etwa, um uns schlechter zu machen, als wir waren, sondern um uns die Kräfte zu erwecken, uns selber wiederum hinaufzuarbeiten, um in uns selber die Kräfte zu finden, uns hinaufzuarbeiten. Darum müssen wir diesen Fall der Menschheit als etwas auffassen, was zur Befreiung der Menschheit in das menschliche Schicksal einverwoben worden ist. [...]

Nun gibt es niemals etwas, was nicht auch seinen entgegengesetzten Pol hätte. [...] Dieser Sünde, die vererbbar ist in ihrer Folge, die also ein Eintreten einer Schuld im Menschen ist, ohne daß der Mensch richtig schuldig ist, muß gegenüberstehen die Möglichkeit, wiederum hinaufzukommen, auch ohne daß es die Schuld des Menschen ist. Wie der Mensch fallen mußte ohne seine Schuld, so muß er auch wieder steigen können ohne seine Schuld, das heißt hier: ohne sein volles Verdienst. Wir sind gefallen ohne unsere Schuld. Wir müssen steigen können deshalb ohne unser Verdienst. Das ist der notwendige andere Pol. Sonst müßten wir unten bleiben in der physisch-materiellen Welt. Wie wir also an den Anfang unserer Entwickelung setzen müssen notwendigerweise eine Schuld, ohne daß der Mensch schuldig ist, so müssen wir an das Ende unserer Entwickelung ein Geschenk für den Menschen setzen, welches ohne sein Verdienst an ihn herankommt. Diese zwei Dinge gehören notwendigerweise zusammen. Wie das der Fall ist, darüber bekommen wir am besten auf folgende Art eine Vorstellung.

Erinnern Sie sich einmal, daß das, was der Mensch als Angehöriger des gewöhnlichen Lebens tut, aus den Impulsen seiner Empfindungen, seiner Affekte, seiner Triebe, seiner Begierden hervorgeht. Der Mensch wird meinetwegen zornig und tut das oder jenes aus dem Zorne heraus, er liebt und tut dieses oder jenes aus der gewöhnlichen Liebe heraus. [...]

Nun, wenn wir unser Zeitalter in Betracht ziehen, so werden wir uns gestehen, daß es jetzt schon etwas anderes gibt, was es im Grunde genommen in alten Zeiten nicht gegeben hat. Nur diejenigen, welche die Geschichte nicht kennen und alles mit einem Zeitmaße beurteilen, das nicht viel weitergeht als die Nase, können behaupten, daß in den älteren Zeiten des Griechentums zum Beispiel solche Dinge vorhanden gewesen wären, die wir heute zusammenfassen mit den Worten, die seit mehr als einem Jahrhundert berühmt geworden sind, mit Worten wie: Freiheit, Gleichheit der Menschen, mit Worten, die wir bezeichnen als sittliche Ideale [...]. [...]

Die Menschen haben eigentlich in diesem jetzigen Zeitalter solchen Idealen zu folgen, aber was der Mensch tut unter den abstrakten Begriffen von Freiheit, Brüderlichkeit und so weiter, hat eben den Charakter des Abstrakten [...]. Für die meisten Menschen können in bezug auf das, was sie erfassen von Freiheit, Brüderlichkeit und so weiter diese Ideale definiert werden, weil sie wenig davon erfassen. Da haben wir, trotzdem die Leidenschaften geschwellt werden, doch bei vielen Menschen etwas vor uns, was so recht die Idee erweckt von etwas Ausgedörrtem. Persönlich können wir diese Dinge noch nicht nennen, es sind abstrakte Ideen. Es ist noch nicht etwas, was das Vollblütige des persönlichen Lebens hat. Und wir bezeichnen solche Individualitäten als sehr hochstehend, bei denen die Idee der Freiheit einen solchen Charakter annimmt, daß sie mit urelementarer Kraft hervorquillt, wie wenn sie aus dem Zorn, aus der Leidenschaft, aus der gewöhnlichen Liebe hervorkäme. Wie nüchtern lassen die Menschen vielfach heute noch die Ideen, die wir als die größten sittlichen Ideale betrachten! Dennoch ist es der Anfang eines großen Werdens. Geradeso wie der Mensch mit seinem Ich in das Meer des Physisch-Materiellen hinuntergetaucht ist, da er sozusagen Persönlichkeit entwickelte, indem er etwas tut unter den Einflüssen von Leidenschaften, Trieben, Begierden, geradeso muß er nicht bloß mit den abstrakten Begriffen, sondern mit der Persönlichkeit hinaufrücken in diese abstrakten Ideen, die eben noch abstrakt sind. Mit der urelementaren Kraft, mit der wir heute sehen, daß dieses oder jenes aus dem Hasse oder der Liebe im gewöhnlichen Sinne entspringt, mit der wird dasjenige entspringen, was unter den geistigsten Idealen steht.

Der Mensch wird hinaufrücken in höhere Sphären mit seiner Persönlichkeit. Dazu ist aber etwas notwendig. Wenn der Mensch hinuntertaucht mit seinem Ich in das Meer des physisch-materiellen Lebens, findet er eben seine Persönlichkeit, da findet er sein heißes Blut, seine wogenden Triebe und Begierden im astralischen Leibe, da taucht er unter in seine Persönlichkeit. Aber nun soll er hinauf in das Gebiet der sittlichen Ideale, und das soll nicht abstrakt sein. Er muß nach dem Geistigen hinauf, und da muß ihm etwas ebenso Persönliches entgegenpulsen, wie ihm Persönliches entgegenpulst, wenn er mit seinem Ich in sein heißes Blut, in seine Triebe untertaucht. Hinauf muß er, ohne ins Abstrakte zu verfallen. Wie kommt er denn, wenn er hinaufgeht ins geistige, in etwas Persönliches hinein? Wie kann er denn diese Ideale so entwickeln, daß sie persönlichen Charakter haben? Dazu gibt es nur ein Mittel. Da muß der Mensch in den geistigen Höhen eine Persönlichkeit anziehen können, die innerlich persönlich ist, wie die Persönlichkeit unten im Fleische ist. Und was ist das für eine Persönlichkeit, die der Mensch anziehen muß, wenn er hinaufsteigen will in das Geistige? Das ist der Christus. [...]

Durch nichts anderes kommt man darüber hinaus, die abstrakten Ideale mit einem persönlichen Charakter immer mehr und mehr auszugestalten, als dadurch, daß unser ganzes spirituelles Leben sich durchziehen wird mit dem Christus-Impuls. [...] So wie der Mensch seinen astralischen Leib schlechter gemacht hat durch die Erbsünde, so macht er ihn wiederum besser durch den Christus-Impuls. Da fließt etwas herein, was den astralischen Leib um ebensoviel besser macht, als er dazumal schlechter gemacht worden ist. Das ist das Äquivalent, das ist dasjenige, was man im wahren Sinne die Gnade nennt. Gnade ist das Äquivalent, der Ergänzungsbegriff zum Erbsündebegriff. So daß das Hereinströmen des Christus in den Menschen, die Möglichkeit, eins werden zu können mit dem Christus, die Möglichkeit, sagen zu können wie Paulus: Nicht ich, sondern der Christus in mir –, zugleich alles das ausdrückt, was wir als den Begriff der Gnade bezeichnen. [...]

Und die Menschen werden gelehrt werden, daß dasjenige, was aus spirituellen Höhen herunterwirkt, nicht bloß Abstracta sind, sondern Lebendiges ist. Wenn sie anfangen werden, das zu schauen, was oftmals genannt worden ist als dem Schauen der Menschen bevorstehend in der nächsten Epoche der Entwickelung, wenn die Menschen anfangen werden, nicht mehr zu denken: Wie bin ich gut! – sondern wenn ihnen vor Augen treten wird aus dem ätherischen Anschauen die lebendige Macht des Christus, den sie schauen werden im Ätherleibe [...], dann werden sie wissen, daß das, was sie eine Zeitlang in Form von abstrakten Ideen erschaut haben, lebendige Wesenheiten sind, die da leben innerhalb unserer Entwickelung, lebendige Wesenheiten. [...] Dann wird es keines Beweises bedürfen, daß er lebt, dann werden die Beweisenden da sein: diejenigen, welche selber erleben – auch ohne eine besondere Entwickelung, in einer Art von reifem Schauen –, daß die sittlichen Mächte der Weltordnung Lebendiges sind, nicht bloß abstrakte Ideale.

So sehen wir, daß unsere Gedanken uns nicht hinaufführen können in die wirklich geistigen Welten, weil sie ohne Leben sind. Erst wenn diese Gedanken uns nicht mehr erscheinen als unsere Gedanken, sondern als die Bezeugungen des lebendigen Christus, welcher den Menschen erscheinen wird, dann werden wir diese Gedanken in der richtigen Weise verstehen. Dann wird der Mensch ebenso wahr, wie er eine Persönlichkeit wurde, indem er mit dem Ich untergetaucht ist in niedere Sphären, ebenso eine Persönlichkeit sein, wenn er zu den geistigen Höhen hinaufsteigt. Das verkennt der Materialismus von heute. Dieser wird nur leicht verstehen, daß es abstrakte Ideale gibt des Guten, des Schönen und so weiter. Daß es lebendige Mächte gibt, die uns durch ihre Gnade hinaufziehen, das muß erst eingesehen werden. [...]

Vortrag vom 29.12.1923, Weihnachtstagung, GA 233, S. 99ff.

Nun kommt also die Zeit, in der der Mensch im Abendlande vom dritten, vierten nachchristlichen Jahrhundert an bis in unsere Zeit herein während seines Erdenlebens ganz außerhalb der geistigen Welt lebt, die Zeit, in der er in bloßen Begriffen und Ideen, in Abstraktionen lebt. In Rom werden selbst die Götter zu Abstraktionen. [...]

Geradeso wie an die Geisteswelt, das Geisterland, das oben ist, unten eine Seelenwelt angrenzt, so grenzt nun auch der Zeit nach dasjenige an diese geistige orientalische Welt an, was die Zivilisation des Abendlandes ist: eine Art Seelenwelt. Und diese Seelenwelt zeigt sich eigentlich direkt bis in unsere Tage herein. Aber die Menschheit merkt heute in ihren meisten Exemplaren noch nicht, daß tatsächlich ein mächtiger Umschwung im Gange ist. [...]

Oh, es gab noch immer in der Zivilisation, die bisher sich entwickelt hat, gewisse geistige Anklänge! Selbst im Materialismus verrieten sich gewisse geistige Anklänge. Der eigentliche Materialismus auf allen Gebieten, er ist erst seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts da, und er wird noch von den wenigsten Menschen in seiner ganzen Bedeutung verstanden. Aber er ist da mit einer riesigen Kraft, und es ist heute eine Übergangszeit zu einer dritten Welt, die wirklich von der vorhergehenden so verschieden ist, wie diese vorhergehende römische von der orientalischen verschieden ist. [...]

Es kam jenes Zeitalter, wo der Mensch, wenn er bleiben will beim alten Materialismus – und ein großer Teil der Menschheit will zunächst dabei bleiben –, dann aber in furchtbare Abgründe hineinkommen wird. Es wird der Mensch, wenn er zunächst bleibt beim alten Materialismus, unbedingt ins Untermenschliche hinunterkommen. Er kann sich nicht auf der menschlichen Höhe erhalten. Um sich aber auf der menschlichen Höhe zu erhalten, muß der Mensch seine Sinne eröffnen – das ist unbedingte Notwendigkeit vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts ab – den spirituellen Offenbarungen, die seither wiederum zu haben sind. [...]

Ich habe Ihnen ja an verschiedenen Orten öfter gesagt, daß dieses neue spirituelle Leben gerade am Ende der siebziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts begonnen werden konnte in den ersten Andeutungen, und dann mit dem Ende des Jahrhunderts immer mehr und mehr. Heute haben wir die Aufgabe, den vollen Strom des geistigen Lebens, der, ich möchte sagen, von den Höhen zu uns kommt, aufzufangen. Und so stehen wir heute drinnen in einem wirklichen Übergang der geistigen Menschheitsentfaltung. Und werden wir uns nicht bewußt dieser merkwürdigen Zusammenhänge und dieser Anknüpfung an Früheres, dann schlafen wir eigentlich gegenüber den wichtigsten Ereignissen, die sich um uns herum im geistigen Leben abspielen. Und wieviel wird eigentlich heute wirklich geschlafen gegenüber den aller-wesentlichsten Ereignissen! Anthroposophie sollte aber da sein, um den Menschen zu erwecken. [...]

Vortrag vom 11.1.1924, GA 233, S. 205ff.

Wir sehen ja, wie die realen Erkenntnisse der Menschen in bezug auf die Natur, in bezug auf das Wirken der geistigen Welt in der Natur im elften, zwölften, dreizehnten Jahrhundert durchaus noch da sind. Wir können es selbst bei einer solchen Persönlichkeit wie Agrippa von Nettesheim [...] sehen, wie er durchaus noch eine Erkenntnis davon hat, daß zum Beispiel in den Planeten unseres Planetensystems in ganz bestimmter Weise geartete geistige Wesenheiten vorhanden sind. Agrippa von Nettesheim führt in seinen Schriften für jeden einzelnen Planeten dasjenige an, was er die Intelligenz des Planeten nennt, und dann dasjenige, was er den Dämon des Planeten nennt. [...]

Die Erde betrachtete man natürlich auch als in ihrer inneren Tätigkeit, in ihrer Bewegung im Kosmos geregelt durch eine Summe von Intelligenzen, die man zusammenfassen konnte unter der Intelligenz des Erdengestirns. Aber was war für diese Persönlichkeiten noch die Intelligenz des Erdengestirns? Es ist heute ja außerordentlich schwer, überhaupt von diesen Dingen noch zu reden, weil die Vorstellungen der Menschen so weit weggegangen sind von dem, was in der damaligen Zeit wie etwas Selbstverständliches galt für die einsichtigen Menschen. Die Intelligenz des Erdengestirns war der Mensch als solcher. Man sah den Menschen an als dasjenige Wesen, welches von der Weltengeistigkeit die Aufgabe erhalten hat, nicht etwa bloß, wie der heutige Mensch meint, auf der Erde herumzugehen oder mit der Eisenbahn herumzufahren, Waren einzukaufen und zu verkaufen, Bücher zu schreiben und dergleichen, sondern man faßte den Menschen so auf, daß er von der Weltengeistigkeit die Aufgabe erhalten hat, in alles das, was sich bezieht auf die Stellung der Erde im Kosmos, regelnd, ordnend, gesetzmäßig einzugreifen. Den Menschen faßte man so auf, daß man sagte: er gibt der Erde durch dasjenige, was er ist, durch die Kräfte, die er innerhalb seines Wesens birgt, den Impuls zu ihrer Bewegung um die Sonne, zu ihrer Bewegung weiter im Weltenraume.

Man hatte damals noch ein Gefühl dafür, daß das dem Menschen einstmals zugeteilt war, daß der Mensch wirklich zu dem Herrn der Erde von der Weltengeistigkeit gemacht war, daß er aber dieser Aufgabe sich nicht gewachsen gezeigt hat im Verlaufe seiner Entwickelung, daß er von seiner Höhe heruntergestürzt sei. Man trifft heute nur noch sehr selten die Nachklänge dieser Ansicht da, wo von Erkenntnis die Rede ist. Alles, was in religiöser Auffassung von dem Sündenfall gedacht wird, geht ja schließlich auch auf diese Vorstellung zurück. Das handelt ja davon, daß der Mensch ursprünglich eine ganz andere Stellung auf der Erde und im Weltenall hatte, als er sie heute einnimmt, daß er von seiner Höhe herabgestürzt sei. Aber außer dieser religiösen Auffassung, da, wo man glaubt, Erkenntnisse, die methodisch erworben werden, zu haben, da gibt es heute eigentlich nur noch Nachklänge an jene alte, aus instinktivem Hellsehen hervorgegangene Erkenntnis von der einstigen Aufgabe des Menschen und von seinem Herunterstürzen in seine heutige Eingeschlossenheit in so enge Grenzen. [...] Aber im ganzen und großen, wo ist es denn, daß sich diejenigen, die sich heute für Wissenschafter halten, überhaupt im Ernste mit diesen umfassenden Fragen beschäftigen, die aber doch schließlich das einzige sind, was den Menschen wirklich zu einem menschenwürdigen Dasein bringen kann? [...]

Und wenn ich Ihnen die Anschauung über dieses Verhältnis charakterisieren soll, so muß ich im Grunde wiederum in Imaginationen reden, denn diese Dinge lassen sich nicht in abstrakte Begriffe bannen. Das eigentliche Zeitalter der abstrakten Begriffe hat ja erst später begonnen, und die abstrakten Begriffe sind weit davon entfernt, die Wahrheit zu umspannen, und so muß schon in Imaginationen dargestellt werden.

[...] Der Mensch hat nicht seine Heimat auf der Erde, sondern der Mensch hat einen vorübergehenden Aufenthalt auf der Erde. Er ist in Wirklichkeit nach jener alten Anschauung ein Sonnenwesen. Er ist in seinem ganzen Sein mit der Sonne verbunden. Da er dieses ist, sollte er eigentlich als Sonnenwesen anders auf der Erde dastehen, als wie er ist. Er sollte so auf der Erde dastehen, daß die Erde ihrem Drange genügen könnte, aus dem mineralischen und dem pflanzlichen Reiche heraus den Samen des Menschen in ätherischer Form hervorzubringen, und der Sonnenstrahl sollte dann diesen von der Erde hervorgebrachten Samen befruchten. Und daraus sollte die ätherische Menschengestalt erscheinen, die erst durch dasjenige, was sie als eigenes, von sich selbst aus begründetes Verhältnis zu den physischen Erdenstoffen macht, die physische Erdenstofflichkeit annehmen sollte. Also es war etwa von den Zeitgenossen des Agrippa von Nettesheim [...] eigentlich gedacht worden, daß der Mensch nicht so, wie es nun einmal ist auf der Erde, irdisch geboren werden sollte, sondern daß der Mensch in seinem ätherischen Leibe durch das Zusammenwirken von Sonne und Erde zustande kommen sollte und sich seine irdische Gestalt, wandelnd als ätherische Wesenheit auf der Erde, erst geben sollte. [...]

Und dasjenige, was später gekommen ist, ist dadurch gekommen, daß der Mensch einen zu tiefen Drang, eine zu intensive Begierde in sich hat erwachen lassen zu dem Irdisch-Stofflichen. Dadurch ist er verlustig geworden seines Zusammenhanges mit Sonne und Kosmos, und er konnte auf der Erde nur in Form der Vererbungsströmung sein Dasein finden. Dadurch aber hat gewissermaßen der Dämon der Erde seine Arbeit begonnen, denn mit Menschen, die sonnengeboren wären, hätte sich der Dämon des Irdischen nicht beschäftigen können. Dann aber, wenn der Mensch also die Erde betreten hätte, dann wäre er wirklich die vierte Hierarchie. Da würde stets, wenn über den Menschen geredet würde, so geredet werden müssen, daß man sagte: Erste Hierarchie – Seraphim, Cherubim, Throne, dann zweite Hierarchie – Exusiai, Dynameis, Kyriotetes, dritte Hierarchie – Angeloi, Archangeloi, Archai, vierte Hierarchie – der Mensch, in drei Abstufungen des Menschlichen, aber eben eine vierte Hierarchie. Dadurch aber, daß der Mensch nach dem Physischen hin seinen starken Drang geltend gemacht hat, dadurch wurde er nicht das Wesen auf der untersten Sprosse der Hierarchien, sondern das Wesen an der Spitze auf der höchsten Sprosse der irdischen Reiche: Mineralreich, Pflanzenreich, Tierreich, Menschenreich. [...]

Dadurch aber, daß der Mensch seine Aufgabe auf der Erde nicht gefunden hat, dadurch hat die Erde auch nicht ihre würdige Stellung im Kosmos. Denn es ist ja eigentlich dadurch, daß der Mensch gefallen ist, der eigentliche Regent der Erde nicht da. [...]

Und jetzt bedenken Sie, meine lieben Freunde, wie unendlich vertieft für diesen mittelalterlichen Menschen gerade durch solche Vorstellungen der Christus-Impuls wurde. Der Christus wurde zu dem Geiste, der auf der Sonne seine weitere Aufgabe nicht finden wollte, der nicht bleiben wollte unter denjenigen, die von außen her unrechtmäßig die Erde dirigieren. Er wollte seinen Weg von der Sonne zur Erde finden, einziehen in Menschengeschick und Erdengeschick, wandeln durch die Erdenereignisse und durch die Erdenentwickelung in Menschengeschick und Erdengeschick. Damit war für den mittelalterlichen Menschen der Christus die einzige Wesenheit, die im Kosmos die Aufgabe des Menschen auf Erden gerettet hat. Und nun haben Sie den Zusammenhang. Denn nun können Sie wissen, warum in der Rosenkreuzer-Zeit dem Schüler immer wieder eingeschärft wurde: O Mensch, du bist ja nicht das, was du bist. Der Christus mußte kommen, um dir deine Aufgabe abzunehmen, um für dich deine Aufgabe zu verrichten.

Im Goetheschen „Faust“ ist so manches auf eine Art, die Goethe selber nicht verstanden hat, herübergekommen aus tief mittelalterlichen Vorstellungen. Erinnern Sie sich an Fausts Beschwörung des Erdgeistes. Hat man diese mittelalterlichen Vorstellungen in sich, dann empfindet man recht tief, wie dieser Erdgeist, den Faust beschwört, davon redet, daß er im Tatensturm auf- und abwallt, Geburt und Grab, ein ewiges Weben, ein glühend Leben, daß er schafft am sausenden Webstuhl der Zeit und wirkt der Gottheit lebendiges Kleid. Denn wen beschwört Faust eigentlich? Goethe hat es ganz sicher, als er den „Faust“ schrieb, nicht in voller Tiefe gewußt. Aber gehen wir vom Goetheschen Faust zum mittelalterlichen Faust zurück, belauschen wir diesen mittelalterlichen Faust, in dem rosenkreuzerische Weisheit lebte, dann lehrt uns dieses Lauschen, wie dieser mittelalterliche Faust auch eine Beschwörung vollführen wollte. Aber wen wollte er im Erdgeist beschwören? Er sprach gar nicht vom Erdgeist, er sprach vom Menschen. Das war der Drang des mittelalterlichen Menschen, Mensch zu sein, denn er empfand es tief, daß er als Erdenmensch eben nicht Mensch ist. Wie kann man die Menschheit wieder erringen? Die Art und Weise, wie Faust hinweggestoßen wird von dem Erdgeist, das ist die Nachbildung, wie der Mensch in seiner irdischen Gestalt von seiner eigenen Wesenheit zurückgestoßen wird. Und deshalb, weil das so aufgefaßt wurde, tragen manche im Mittelalter vorkommende – ja, wie soll man es nennen – Bekehrungsgeschichten zum Christentum einen außerordentlich tiefen Charakter, den Charakter, daß gewisse Menschen nach der verlorenen Menschlichkeit strebten, aber verzweifeln mußten, mit Recht verzweifeln mußten, innerhalb des irdisch-physischen Lebens diese echte Menschlichkeit in sich erleben zu können, und dann von diesem Gesichtspunkte aus einsahen: Also muß menschliches Streben zum Menschtum aufgegeben werden, und der irdische Mensch muß es dem Christus überlassen, die Aufgabe der Erde zu vollziehen.

In der Zeit, in der also noch, ich möchte sagen, in einer überpersönlich-persönlichen Art vom Menschen sowohl das Verhältnis zur Menschheit selber wie das Verhältnis zum Christus aufgefaßt wurde, in dieser Zeit war Geist-Erkenntnis, Geistesschau eben noch real. Da war sie noch Erlebnisinhalt. [...]

Und so kann man einem Weltensystem, das von den Göttern den Menschen gegeben werden sollte im Sinne des alten Ptolemäischen Weltensystems mit der Erde im Mittelpunkte, ein solches entgegenstellen, das die Sonne im Mittelpunkte hat, die Erde sich drehend um die Sonne, das Kopernikanische Weltensystem.

Und es wurde dem Schüler anvertraut, daß hier ein Weltenirrtum vorliegt, ein durch menschliche Schuld bewirkter Weltenirrtum. [...] Die Wissenschaft ist gestürzt worden durch die Schuld des Menschen. Die Wissenschaft ist eine Wissenschaft des Dämonischen geworden. – Bis dann am Ende des achtzehnten Jahrhunderts auch solche Dinge unmöglich geworden sind, hat es immer wenigstens einzelne Schüler gegeben, welche mit dieser Gemütserkenntnis, mit dieser Gemütsanschauung aus einer einsamen Rosenkreuzer-Schulstätte ihre geistige Nahrung bezogen haben. Es ist zum Beispiel noch so gewesen, daß der große Leibniz, der Philosoph, aus seinen Gedankenerwägungen heraus den Antrieb in sich erhalten hat, irgendwo zu finden diejenige Lehrstätte, in der man in der richtigen Weise formulieren kann, wie es sich eigentlich verhält mit dem Kopernikanischen und Ptolemäischen Weltsystem. Er hat sie nicht finden können.

Solche Dinge muß man kennen, um die richtige Nuance herauszubekommen für den Umschwung, der in den letzten Jahrhunderten in bezug auf des Menschen Anschauung über sich selbst und über das Weltenall stattgefunden hat. Und mit dem Hinuntersinken dieses lebendigen Zusammenhanges des Menschen mit sich selbst, mit diesem Entfremden des Menschen von sich selbst kam dann das Anklammern des Menschen an den äußeren Verstand, der heute alles beherrscht. Denn dieser äußere Verstand, ist er denn menschliches Erlebnis? Er ist nicht menschliches Erlebnis. Denn wäre er menschliches Erlebnis, so könnte er nicht in so äußerlicher Weise innerhalb der Menschheit leben, wie er lebt. Der Verstand ist ja im Grunde genommen gar nicht verbunden mit dem einzelnen Persönlichen, mit dem einzelnen individuellen Menschen, der Verstand ist ja fast etwas Konventionelles. Er sprudelt nicht hervor aus innerem menschlichem Erlebnis. Er tritt eigentlich als etwas Äußerliches an den Menschen heran. [...]

Echt und wahr ist vom fünfzehnten bis ins achtzehnte, neunzehnte Jahrhundert herein dasjenige, was als ein allgemeiner Drang nach dem Göttlichen sich dem Gemüte ergeben hat. Da ist Schönes, Wunderschönes und Herrliches zu finden. Und da ist über manchem, was heute viel zu wenig beachtet wird, ein wirklicher Zauberhauch des Spirituellen. Aber neben alledem geht eine sich verknöchernde Saat auf des Unverstandes alter spiritueller Wahrheiten, und einher geht damit das Unvermögen, in einer der Zeit entsprechenden Weise an das Geistige heranzukommen. Man kann Menschen kennenlernen aus dem achtzehnten Jahrhundert, die geradezu von einer Zerstörung alles Menschlichen sprechen und von einem Heraufkommen eines furchtbaren Materialismus. Manchmal ist es einem so, als ob dasjenige, was diese Menschen des achtzehnten Jahrhunderts sagen, auch auf unsere Zeit passen würde. Dennoch paßt es nicht, paßt auf die letzten zwei Drittel des neunzehnten Jahrhunderts nicht. Denn in diesem neunzehnten Jahrhundert ist das, was man noch mit einem gewissen, ich möchte sagen, Abscheu vor seinem dämonischen Charakter im achtzehnten Jahrhundert angesehen hat, etwas Selbstverständliches geworden. [...]

Und es ist ja in der Tat erst wiederum am Ende des neunzehnten Jahrhunderts möglich geworden, in diese Dinge mit ursprünglicher menschlicher Klarheit hineinzusehen. Es ist erst wiederum möglich geworden in der Michael-Zeit. [...]