26.01.2013

Merkels Davos-Rede und der Abgrund des Kapitalismus

Eine Antwort auf die Rede der Bundeskanzlerin auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos am 24.1.2013.


Inhalt

Einleitung
Merkels „Solidarität“
Wettbewerb und modernes Sklaventum
Normalität und Durchschnitt = Untergang?
Ökonomischer Krieg und ein oberstes „ZK für Wettbewerbsfähigkeit“
Wettbewerbsfähigkeit und Angleichung
Wem dient Merkel wirklich?
Die notwendige Forderung der modernen Arbeitsteilung


Einleitung

Täglich mag man den gegenwärtigen Zustand unsere Lebens- und Daseinsverhältnisse, insbesondere im Wirtschaftsleben, als den Tiefpunkt einer furchtbaren Entwicklung zu einer immer mehr zunehmenden Unmenschlichkeit ansehen – doch diese Entwicklung ist noch lange nicht an ihrem Endpunkt angelangt. Aus sich heraus wird diese Entwicklung immer noch weiter gehen – immer weiter, bis in der Welt der Mensch aufwacht und diese Entwicklung zum Stoppen bringt.

Davon ist die Welt noch weit entfernt. Die Realität ist, dass Europa und die Welt immer weiter auf einen Abgrund zutreibt. Exakter noch müsste man sagen: Es öffnet sich der dunkle, gähnende, grundlose Abgrund der Unmenschlichkeit – und wir sind an seinem Rand bereits ein ganzes Stück in seine Tiefen hinabgestiegen. Doch dieser Abgrund ist so tief, dass wir noch überhaupt nicht ahnen, was uns bevorsteht, wenn wir diesen Weg fortsetzen...

Einer der wichtigsten Führer auf diesem Weg ist Bundeskanzlerin Merkel. Und auf dem berühmt-berüchtigten Weltwirtschaftsforum in Davos hielt Merkel vorgestern eine Rede, die einmal mehr deutlich macht, welch erschreckend engen Blick sie hat und welche erschreckende Zukunft Europa bevorsteht, wenn sie ihre „Politik“ durchsetzen kann.

„Wir haben ein Jahr hinter uns, in dem das Wirtschaftswachstum in fast allen Industrieländern relativ gering ausgefallen ist. Die Weltwirtschaft ist in 2012 insgesamt gerade einmal um drei Prozent gewachsen. [...] Das hatte vor allen Dingen mit Fragen des Vertrauens, mit Ängsten, die es auch gegeben hat, zu tun. Es kommt aber auch auf die Frage an, wie stark der politische Wille ist, den Euroraum zusammenzuhalten, wie groß die Reformbereitschaft ist, wie groß die Solidarität im Euroraum ist.“

Merkels „Solidarität“

Was Merkel unter Solidarität versteht, ist nicht die Solidarität der Starken mit den Schwachen. Es ist die Forderung, dass die Schwachen sich einer völligen Ausbeutung unterwerfen sollen, damit auch sie – so die Theorie – „wettbewerbsfähig“ werden...

Warum aber ist dies in Merkels Gedankenwelt „Solidarität“? Weil der „Zusammenhalt des Euroraumes“ und dessen Gefährdung unfassbarerweise damit zu tun hat, dass Spekulanten gewisse Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit, in den Staatsverschuldungen usw. entdecken – und diese Differenz dann nutzen, um Gewinne zu machen, während gerade dadurch die Verschuldung der „ins Visier geratenen“ Staaten weiter zunimmt. Der unglaubliche Vorgang also ist, dass es durch den Aufbau und die „Liberalisierung“ der „Finanzmärkte“ ermöglicht wurde, dass bloße Geldspekulationen Europa in einen Abgrund stürzen können!

In Merkels Gedankenreich soll nun aber nicht dieser unmögliche, unfassbare Fakt wieder real unmöglich gemacht werden, sondern die ganze reale Welt soll sich umgekehrt an diesen unmöglichen Fakt anpassen! Spekulanten und andere Gewinnjäger dürfen auf den völlig entfesselten Finanzmärkten ihr Unwesen treiben, dieses Unwesen darf reale Staaten und Menschengemeinschaften ins Unglück stürzen – und die realen Staaten sollen sich anpassen und alles tun, damit der „Euroraum nicht zusammenbricht“. Das heißt: sie sollen „sparen“, „wettbewerbsfähig werden“, „ihre Wirtschaft modernisieren“ und so weiter.

Konkret heißt dies immer wieder eines: Überall sollen die Löhne gekürzt werden, überall sollen die Staatsausgaben (vor allem für Soziales) gekürzt werden, damit man – so die Theorie – die „hervorragende Wettbewerbsfähigkeit“ der „deutschen Wirtschaft“ erreicht. Wenn auf diese Weise alle europäischen Staaten gleich „stark“ sind, haben die Spekulanten keinen Hebel mehr – und hat „Europa“ auch Zugang zu den „Weltmärkten“.

Doch: Wer sind die Weltmärkte? Haben die europäischen Staaten nicht bereits jetzt die leistungsfähigsten Wirtschaften? Gegen wen wollen sie noch ankonkurrieren, gegen wen wollen sie noch erfolgreicher sein, wie stark wollen sie die übrige Welt noch abhängen? Oder haben sie Angst vor jenen Staaten, die durch ihr erbärmliches Lohnniveau immer einen Vorteil haben werden? Besteht Merkels Politik wirklich darin, selbst gegen China und Indien konkurrieren zu wollen, was nur möglich ist, wenn auch wir chinesische oder indische Verhältnisse einführen?

Wettbewerb und modernes Sklaventum

Besteht Merkels Lösung in der Lohnsklaverei für Viele ... nur damit „die Wirtschaft“ – die dann letztlich nur aus den Shareholders, den Vorstandsvorsitzenden und der Management-Ebene besteht – „konkurrenzfähig“ wird oder bleibt? Wer hat dann noch irgendeinen Nutzen, wenn „Wettbewerbsfähigkeit“ darin besteht, in einem Unternehmen seine Lebenszeit für einen Hungerlohn zu verkaufen, während andere die Gewinne dieser „Wettbewerbsfähigkeit“ einkassieren?

Bestünde Solidarität nicht darin, jedem Menschen dasjenige zukommen zu lassen, was er zum Leben für sich und seine Familie braucht? Bestünde Solidarität nicht darin, dass jeder für den Mitmenschen arbeitet und an diesen denkt? – Das aber ist weder mit der heutigen Logik des „Shareholder value“ und der Profitmaximierung, noch mit Merkels Gedankenwelt vereinbar. Merkel setzt auf den Egoismus und auf die einseitige Ausbeutung – so deutlich muss man es benennen! – der „abhängig Beschäftigten“.

„Wir müssen und wir haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert. Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt. – Das waren die Worte von Merkels Vorgänger, Gerhard Schröder (SPD). Diese Worte sind vor sieben Jahren gesprochen worden, ebenfalls vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos...

Doch jetzt folgen wir Merkels Rede:

Merkel spricht von einem „Weg, dessen Leitplanken Strukturreformen für mehr Wettbewerbsfähigkeit auf der einen Seite und Konsolidierung der Staatsfinanzen auf der anderen Seite sind.“

Dann spricht Merkel angesichts einer Jugend-Arbeitslosigkeit von über 50 Prozent in Spanien, Portugal oder Griechenland davon, „Perspektiven aufzuzeigen und gegebenenfalls auch Überbrückungsmaßnahmen durchzuführen, bis die Strukturreformen so wirken, dass damit auch wirklich der Abbau der Arbeitslosigkeit verbunden ist.“ Um welche „Strukturreformen“ geht es denn? Gewiss, wenn der „Arbeitnehmer“ zum Lohnsklaven und zum Freiwild wird, der unmenschlich bezahlt und jederzeit wieder entlassen werden kann, dann wird die Arbeitslosigkeit deutlich abnehmen – denn diejenigen, die nur ihre Profite im Auge haben, werden sich dieser neuen Lohnsklaven gerne bedienen.

In der heutigen Logik bewegen sich die Unternehmensspitzen nur nach egoistischen Motiven eines Kampfes Aller gegen Alle. In dieser Logik ist es selbstverständlich, dass ein Unternehmen wie Nokia für seinen Standort in Bochum 60 Millionen Euro an Subventionen (!) kassierte, um nach Beendigung dieser Geldflüsse nach Rumänien abzuwandern... Ebenso wird „die Wirtschaft“, das heißt die Kaste der Profitmaximierer, jede Regelung, die die Rechte und Löhne der arbeitenden Menschen weiter beschneidet, außerordentlich begrüßen und neue Arbeitsplätze schaffen. Es sind dann aber Arbeitsplätze, die nichts anderes als die Unmenschlichkeit unserer Zeit manifestieren, Laufräder im Hamsterkäfig des Kapitalismus...

Normalität und Durchschnitt = Untergang?

In Merkels Sprache hört sich dies so an:

„Was uns aber noch fehlt – und daran müssen wir in diesem Jahr 2013 arbeiten –, ist eine Antwort auf die Frage: Wie können wir sicherstellen, dass wir in den nächsten Jahren auch eine Kohärenz in Bezug auf die Wettbewerbsfähigkeit im Bereich der gemeinsamen Währungsunion erreichen? Und damit meine ich nicht eine Kohärenz in der Wettbewerbsfähigkeit irgendwo im Mittelmaß der europäischen Länder, sondern eine Wettbewerbsfähigkeit, die sich daran bemisst, ob sie uns Zugang zu globalen Märkten ermöglicht. Denn die Staaten des Euroraums können natürlich nur dann wachsen, wenn sie auch Produkte anbieten, die global verkäuflich sind. Deshalb ist das Thema Wettbewerbsfähigkeit so wichtig.“


Hier ist also nichts anderes gesagt als: Mittelmaß reicht nicht. Und genau das ist die Logik des Kapitalismus: Wer normal ist, weil er sich mitten in einem Durchschnitt befindet, der hat eigentlich schon verloren, der wird überrollt, der gehört zum Ausschuss, zur Schlacke des Kapitalismus. Man darf nicht normal sein, man muss über dem Durchschnitt liegen...

Ein weiterer Irrsinn und eine absolute Unlogik ist die Betonung des wettbewerbsdominierten Exports.

Es ist absolut falsch, zu behaupten, eine Wirtschaft und der Wohlstand einer Region könne nur wachsen, wenn sie global Produkte verkauft. Der Wohlstand einer Region kann auch in sich wachsen. Wenn Menschen füreinander arbeiten, dann wächst ihr Wohlstand notwendigerweise.

Man muss also nicht so wettbewerbsfähig werden, dass selbst ärmste Staaten wie Mali oder Timbuktu europäische Produkte kaufen können, sondern man kann innerhalb der eigenen Region füreinander arbeiten, und der Wohlstand wird sich erhöhen, auch ohne dass man auf die „globalen Märkte“ drängt. Dagegen ist dieses Drängen auf die globalen Märkte in der gegenwärtigen Logik überhaupt nur möglich, indem man in der eigenen Region zur Ausbeutung kommt – der allgemeine Wohlstand vermindert sich dadurch also gerade!

Ökonomischer Krieg und ein oberstes „ZK für Wettbewerbsfähigkeit“

Merkel jedoch will eine „Wettbewerbsfähigkeits-Diktatur“ einrichten:

„Ich stelle mir das so vor – und darüber sprechen wir jetzt in der Europäischen Union –, dass wir analog zum Fiskalpakt einen Pakt für Wettbewerbsfähigkeit beschließen, in dem die Nationalstaaten Abkommen und Verträge mit der EU-Kommission schließen, in denen sie sich jeweils verpflichten, Elemente der Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, die in diesen Ländern noch nicht dem notwendigen Stand der Wettbewerbsfähigkeit entsprechen.“


Es wird nach Merkels Willen also künftig ein Diktat der von der „deutschen Logik“ dominierten EU-Kommission geben, das bestimmt, welche Elemente eines Landes „noch nicht dem notwendigen Stand“ entsprechen. Obwohl Merkel von „Abkommen“ und „Verträgen“ spricht, ist klar, dass der Abschluss dieser Abkommen verpflichtend sein wird und dass die EU-Kommission auf diese Weise immer mehr das oberste Politbüro und Zentralkomitee der kapitalistischen Zwangsunion werden wird. Es entsteht eine „Union der zwangskapitalistischen scheindemokratischen Euro-Republiken“ – eine UdZSR unter der Führung eines kapitalistischen ZK...

Und Merkel nennt die Elemente, auf die dieses ZK Zugriff haben wird, ausdrücklich: Es werde dabei „oft um Dinge wie Lohnzusatzkosten“, „Lohnstückkosten“ usw. gehen – also um die Frage, zu welchem Preis die Menschen ihre Arbeitskraft künftig zu verkaufen haben...

Das neue Heer der anonymen Arbeitssklaven soll dann europaweit verfügbar werden:

„Ein weiterer Punkt, den wir in Angriff nehmen müssen, ist, alles zu tun, um die Mobilität der Arbeitskräfte im Binnenmarkt der Europäischen Union zu verbessern.“


Immer mehr übernimmt Merkel die Terminologie anglo-amerikanischer „Militärökonomie“ – die Wirtschaft wird eine Mischung zwischen feindlichem Computer- bzw. Schachspiel und realem Kriegsschauplatz:

„Wir haben [...]uns die Frage zu stellen: Wie muss der europäische Binnenmarkt gestaltet sein, damit er ein wirklich wichtiger Spieler auf den Weltmärkten sein kann? Das heißt, wir dürfen unseren europäischen Binnenmarkt nicht nur aus der internen europäischen Perspektive anschauen, sondern wir müssen vor allen Dingen dafür Sorge tragen, dass wir in Europa Unternehmen haben, die als schlagkräftige Akteure auch weltweit agieren können.“


Des weiteren geht es um die Frage, ob sogenannte „Investoren“, also vor allem die Investmentgesellschaften, die Private Equity Fonds und ähnliche „Organe“ des Superreichtums, die erwartete Rendite erhalten. In Merkels Sprache:

„[...] die Frage, ob Investoren, die in Staatsanleihen oder Unternehmen Europas investieren wollen, die Sicherheit und das Vertrauen haben, dass sie eine gute Investition tätigen.“


Dann geht Merkel auf die angebliche Notwendigkeit des Freihandels ein, also auf die unbedingte und vollständige Öffnung der Märkte, der Wirtschaft jedes einzelnen Landes. Wir wissen, wie dieser „Freihandel“ dazu geführt hat, dass zum Beispiel die heimische, lokale Landwirtschaft eines halben Kontinents zusammengebrochen ist, weil eine Region wie Afrika gegen die hochsubventionierten Überschussprodukte der europäischen Landwirtschaft keine Chance hat.

Erstaunlich ist nun, dass offenbar der Freihandel zwischen den USA und der EU am problematischsten ist – offenbar haben die führenden Weltmächte des Neoliberalismus das größte Problem damit, sich gegenseitig Zugang zu ihren Märkten zu gewähren. Dies offenbart auf einen Schlag, dass es nicht um „Freiheit“, sondern um Marktmacht und Profitmaximierung geht.

Wettbewerbsfähigkeit und Angleichung

Merkel geht dann noch einmal ausdrücklich auf das innereuropäische Ungleichgewicht ein – auf die erdrückende Dominanz der deutschen Wirtschaft, die auf die jahrelange deutsche „Lohnzurückhaltung“ – sprich auf erzwungenen Verzicht, rasant sich ausbreitende Niedriglöhne etc. – zurückgeht. Sie sagt:

„Wenn wir uns in Europa bei den Lohnstückkosten genau in der Mitte treffen würden, beim Durchschnitt aller europäischen Länder, dann würde ganz Europa nicht mehr wettbewerbsfähig sein und Deutschland nicht mehr exportieren können. Das kann nicht das Ziel unserer Bemühungen sein. Deshalb sind Überschüsse in den Leistungsbilanzen zum Teil natürlich auch Ausdruck einer guten Wettbewerbsfähigkeit. Und diese dürfen wir auf gar keinen Fall aufs Spiel setzen.“


Mit anderen Worten: Merkel will nichts an der offensiven Lohnsenkungspolitik Deutschlands ändern (weil dies gerade „vorbildliche Politik“ sei), sondern die anderen Staaten sollen sich anpassen und ebenfalls ihre Löhne senken. In Merkels Worten: Wir „können unseren Wohlstand wirklich nur dann halten, wenn wir [...] uns an den Besten orientieren.“

Immer wieder kehrt die Logik des Neoliberalismus wieder: Den Wohlstand erhalten, indem der Wohlstand abgeschafft wird. Denn was nützt das ganze deutsche Sozialsystem, wenn man mit 1.400 Euro (brutto!) monatlich nach Hause geht, während man zu einem „Wohlstand“ beiträgt, der das Doppelte und Dreifache ausmacht, jedoch als Gewinn von Einzelnen einkassiert wird?

Was aber würde geschehen, wenn die anderen europäischen Staaten versuchen würden, mit Deutschland mitzuhalten? Sie wären dann – zu einem hohen Preis der Selbstausbeutung – fähig, zu konkurrieren. Deutschland würde seine Marktdominanz verlieren, seine innereuropäischen Exportüberschüsse verlieren. Aber auch seine globale Wettbewerbsfähigkeit, denn die anderen Staaten wären nun ja genauso wettbewerbsfähig! Was also ist der Sinn des Ganzen?

Wenn alle die gleichen Niedriglöhne haben, geht die Wettbewerbsfähigkeit genauso verloren, wie wenn man sich bei den Lohnstückkosten in der Mitte treffen würde. Der einzige Unterschied ist, dass im letzteren Fall auch die Arbeitnehmer etwas vom „allgemeinen“ Wohlstand hätten. Warum fürchtet Merkel diese Lösung so wie der Teufel das Weihwasser?

Wettbewerbsfähigkeit erlangt man, indem man den anderen voraus ist. Wenn man von den anderen fordert, es einem gleichzutun, redet man von Angleichung. Diese Angleichung kann sich aber in jede Richtung vollziehen – auch in jene Richtung, in der alle etwas davon haben, nicht nur einige wenige.

Doch worum es Merkel geht, ist ja die (weitere) Wettbewerbsfähigkeit gegenüber der globalen Welt. Hier gilt jedoch die gleiche Logik: Wenn es nicht gelingt, global die Frage nach guten, nach richtigen, nach menschenwürdigen Lebens- und Lohnverhältnissen, nach wirklicher Gerechtigkeit und einer gerechten, bestmöglichen Verteilung des allgemeinen Wohlstandes zu stellen, wird der Kampf Aller gegen Alle für immer weitergehen. Merkel unterwirft sich dieser Logik unhinterfragt – und nicht nur das: Sie führt das „rat race“ sogar an, ist gerade einer der „proaktivsten Player“ in diesem menschenunwürdigen Schauspiel...

Wem dient Merkel wirklich?

Merkel hätte als deutsche Kanzlerin die Macht, dieser Entwicklung, dieser Alleinherrschaft des Kapitals und des egoistischen Denkens entgegenzusteuern; sie hätte die Macht, die Frage nach global gerechten Wirtschaftsverhältnissen zu stellen. Doch sie nutzt ihre Macht für das Gegenteil: für die weitere Exekutierung dieser völligen Anpassung an die Logik des gnadenlosen Wettbewerbs, des Kampfes um Marktfähigkeit. Nicht die Wirtschaft passt sich dem an, was dem Menschen dienen würde, was wirklichen gemeinsamen Wohlstand hervorbringen könnte – sondern der Mensch muss marktfähig werden, sich der Marktlogik anpassen, also der Logik des Sozialdarwinismus:

Kampf ums Überleben, Selektion und Auslese, Egoismus, Profitmaximierung, Anpassung, Ausbeutung, Selbstausbeutung oder Untergang...

Am Ende ihrer Rede weist Merkel darauf hin, dass auch die Regulierung der Finanzmärkte von den ursprünglichen Verlautbarungen der letzten Jahre noch immer weit entfernt ist und die Flucht in das Schattenbankensystem ungehindert voranschreitet. Eine weitere „Spekulationsblase“, die wiederum zu einer tiefen Wirtschaftskrise führen würde, würde jedoch dazu führen, dass die Menschen „die Überzeugung verlieren, dass die Wirtschaft für den Menschen da ist.“ – Merkel vernebelt hier die Realität bis zum Äußersten. Denn die Wirtschaft ist eben längst nur noch in der Theorie für den Menschen da, und die meisten Menschen haben dies längst erkannt.

Und dann gibt es am Ende der Rede noch einen Höhepunkt Orwellschen Neusprechs:

„Wir in Deutschland haben bei der Überwindung der Krise sehr gute Erfahrungen damit gemacht, dass wir auf Unternehmer sowie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bauen konnten, die im Geiste der Sozialen Marktwirtschaft Verantwortung übernommen haben. Sie werden es uns aber nicht verzeihen, wenn wir dieselben Fehler wieder machen.“


Merkel spricht von einem Geist, der überhaupt nicht mehr existiert – der aus der Wirklichkeit Deutschlands durch Schröder und Merkel gerade bis auf die letzten Reste ausgetrieben wurde! Und worin könnte die Verantwortung der ArbeitnehmerInnen denn bestanden haben, wenn nicht in erzwungenem Lohnverzicht, im Ertragen von Entlassungen und anderen „Strukturreformen“ und „Konsolidierungen“? Merkels Worte sind eine einzige Phrase angesichts der Wirklichkeit, die sie vorantreibt.

Wenn Merkel „sozial“ sagt, dann sind das Worte, die mit keinerlei Hauch einer Wirklichkeit mehr verbunden sind. Das Reale, was Merkel sagt und tut und was in all ihren Handlungen und deren Konsequenz liegt, ist das Unsoziale, die Logik des wirtschaftlichen Kampfes, die Logik der Anti-Solidarität, die Unterwerfung und der willige Dienst gegenüber den Forderungen ... Mammons.

Die notwendige Forderung der modernen Arbeitsteilung

Dies muss ganz klar gesehen werden. Weiterkommen wird die Welt nur durch diesen Enthusiasmus für die Wahrheit, wie Rudolf Steiner einmal sagte. Mit seinen Worten möchte ich diesen Aufsatz beschließen. Im dritten Vortrag seines „Nationalökonomischen Kurses“ sprach er dasjenige aus, was allein aus den heutigen Verhältnissen retten wird, wenn es von genügend vielen Menschen tief erkannt und ergriffen werden wird:

„Indem die moderne Arbeitsteilung heraufgekommen ist, ist die Volkswirtschaft in bezug auf das Wirtschaften darauf angewiesen, den Egoismus mit Stumpf und Stiel auszurotten. Bitte, verstehen Sie das nicht ethisch, sondern rein wirtschaftlich! Wirtschaftlich ist der Egoismus unmöglich. Man kann nichts für sich mehr tun, je mehr die Arbeitsteilung vorschreitet, sondern man muß alles für die anderen tun.

Im Grunde genommen ist durch die äußeren Verhältnisse der Altruismus als Forderung schneller auf wirtschaftlichem Gebiet aufgetreten, als er auf religiös-ethischem Gebiet begriffen worden ist. [...] Die ethische Betrachtung war noch lange nicht zu einer vollen Würdigung des Altruismus gekommen, da war schon die volkswirtschaftliche Würdigung des Altruismus durch die Arbeitsteilung da. – Und betrachten wir jetzt diese Forderung des Altruismus als volkswirtschaftliche, dann haben wir das, ich möchte sagen, was weiter daraus folgt, unmittelbar: Wir müssen den Weg finden in das moderne Volkswirtschaften, wie kein Mensch für sich selber zu sorgen hat, sondern nur für die anderen, und wie auf diese Weise auch am besten für jeden einzelnen gesorgt ist [das ist die wahre Wirklichkeit und das genaue Gegenteil des Dogmas von der „unsichtbaren Hand“, die durch den Egoismus den größten Wohlstand aller schaffe, H.N.]. Das könnte als ein Idealismus genommen werden; aber ich mache Sie noch einmal darauf aufmerksam: ich spreche in diesem Vortrag weder idealistisch noch ethisch, sondern volkswirtschaftlich. [...]

Studieren Sie einmal die Soziologie der Gegenwart. Sie werden finden, daß die sozialen Kämpfe zum großen Teil darauf zurückzuführen sind, daß beim Erweitern der Wirtschaft in die Weltwirtschaft die Notwendigkeit immer mehr und mehr aufgetreten ist, altruistisch zu sein, altruistisch die verschiedenen sozialen Bestände einzurichten, während die Menschen in ihrem Denken eigentlich noch gar nicht verstanden hatten, über den Egoismus hinauszukommen, und daher immer hineinpfuschten in egoistischer Weise in dasjenige, was eigentlich als eine Forderung da war.“

Rudolf Steiner, Vortrag vom 26. Juli 1922.