07.02.2013

Der Seelen Erwachen

Ein ringender Versuch, sich verständlich zu machen.


Mehrfach habe ich mich gegenüber den Bemühungen linker und anderer Bewegungen, die Welt zu verändern, „kritisch“ geäußert
– nicht weil diese engagierten und wirklich auch bewundernswerten Bemühungen nicht notwendig wären, sondern weil sie in ihrem Kern fruchtlos bleiben und nicht zu dem Ziel kommen, das sie im Grunde haben. Ihrem eigentlichen Ziel laufen sie gewissermaßen gerade zuwider, ihre wahre Wirkung bleibt wie ein Hauch im Wind. Es wäre so schön, wenn es anders wäre – aber es ist leider nicht anders.

Wie komme ich zu einer solchen Anschauung? Ich möchte mit den folgenden Gedanken umfassend versuchen, mich verständlich zu machen.

Der Mensch spielt in dem heutigen Denken, das sich in Gedanken, Diskussionen, Aktionen, Tagungen usw. äußert, keine Rolle. Dieser sicherlich bestürzende Satz muss in dem, wie er in umfassendem Sinne gemeint ist, verstanden werden. Natürlich geht es allen Menschen, die sich für andere, bessere Gestaltungen usw. einsetzen, um den Menschen – und doch spielt der Mensch keine Rolle, weil er in dem abstrakten Gedankengewebe, das unseren heutigen Intellekt ausmacht, keine Rolle spielen kann, in ihm nicht zu finden ist.

Ich will es etwas ausführlicher an einem Beispiel schildern.

Vor einiger Zeit habe ich an einer Tagung für eine solidarische Ökonomie teilgenommen. Wie es bei Tagungen so üblich ist, gab es einführende Ansprachen, es gab kleine Vorträge, Impulsreferate, Gesprächsgruppen. In diesen Gesprächsgruppen ging es dann z.B. um die Grundsätze unserer „Finanzarchitektur“ und des Bankenwesens, um die Frage der Kreditschöpfung und um Fehler und Mängel dieses Systems. Es ging um verschiedenste Verständnisfragen angesichts des hoch komplexen Themas. Es ging dann auch um verschiedene Anschauungen. Verschiedene Menschen hatten sich mit der „Materie“ beschäftigt und waren durchaus nicht immer gleicher Meinung über das jeweilige Problem, die daran anknüpfenden Erklärungen, die beste Lösung und so weiter. 

Man lasse diese Schilderung und vielleicht auch eigene Erinnerungen an Tagungen einmal auf sich wirken – in aller Ruhe, wieder und wieder. Es kann dann allmählich immer deutlicher werden, worauf diese Schilderung, diese Beobachtungen hinweisen. Es kann nach einer Weile etwas erlebbar werden.

Der Mensch ist nicht vorhanden! Er ist wirklich nicht vorhanden. Denn worum geht es eigentlich? Geht es um die Finanzarchitektur, abstrakt, für sich? Oder geht es um den Menschen? – Der Mensch wird „natürlich“ immer vorausgesetzt – aber man darf ihn nicht voraussetzen. Man darf niemals das voraussetzen, um das es eigentlich geht, sonst geht dieses, um das es eigentlich gehen sollte, verloren – und zwar, ohne dass man es merkt, weil ja jeder immer weiter meint, es noch immer vorauszusetzen. Auf diese Weise aber wird das Vorausgesetzte allmählich immer mehr zu einer bloßen „Erinnerung“, einer bloßen Vorstellung, es ist nichts aktuell, gegenwärtig Anwesendes mehr.

Das aber ist seit langem der Zustand unseres Denkens, unserer Kultur, unseres abstrakten Intellekts. In ihm ist dasjenige, ist derjenige, um den es eigentlich immer gehen sollte, überhaupt nicht mehr anwesend – von Anfang an nicht mehr.

Zurückkehrend zu dem Beispiel möchte ich fortfahren mit dem Hinweis, dass zu dieser Tagung doch Menschen verschiedensten Hintergrundes gekommen sind, die eines verbunden hatte: das Leiden an den heutigen Verhältnissen, die Sehnsucht nach einer Veränderung – nach einer Veränderung in eine ganz bestimmte Richtung.

Doch alles dieses, all dieses viele ungeheuer Wesentliche – dass da viele einzelne fühlende, empfindende Menschen zusammenkamen, dass sie alle in ihrer Seele ein Leid erleben, dass sie alle eine Sehnsucht in sich tragen –, all dies wurde vorausgesetzt, und, man muss sagen, regelrecht übergangen. Nicht wissentlich und willentlich, selbstverständlich, aber tatsächlich und wirklich – es wurde übergangen. Und so ist man also gleich „zur Tagesordnung“ übergegangen und hat sich eben „dem Thema“ gewidmet. Das Wesentliche einfach übergehend...

Man darf diese Feststellungen nicht als Vorwürfe lesen – dann würde man sie noch immer missverstehen. Sie müssen als reine, reale Beobachtungen des Tatsächlichen genommen werden. Dann kommt man durch sie in ein wirkliches Empfinden dieser Realität hinein.

Dasjenige, was sich gegen das Erleben dieser Realität wehrt, ist der abstrakte Intellekt. Dieser ist es, der aufbegehrt und polemisch wird und sagt: „Der spinnt doch jetzt ein bisschen. Natürlich ging es um den Menschen! Wir haben hier eine mit viel Mühe organisierte Tagung gehabt, wir haben die Themen sehr sorgfältig vor- und aufbereitet, und wir haben versucht intensiv und gemeinsam an diesen Fragen zu arbeiten, um darin ein Stück voranzukommen...“ und so weiter – oder auch so ähnlich.

Natürlich stimmt das alles! Aber – hat man sich auch einmal vollkommen bewusstseinsklar und tief und einzig und allein auf das besonnen, was mit einer solchen Tagung eigentlich gewollt wurde? Hat man sich ebenso sorgfältig (oder überhaupt) darauf vorbereitet, dass man hier Menschen begegnen wird – und wie man ihnen begegnen kann? Dass diese Menschen mit etwas in der Seele zu dieser Tagung kommen, dem man nur die größte Ehrfurcht entgegenbringen kann – nämlich mit einem je individuell empfundenen Leid und einer individuellen Sehnsucht und einer großen inneren Frage, einer ungeheuren Sehnsucht nach dem anderen Menschen und einer anderen, veränderbaren Welt?

Man kann alle diese Fragen, all diese Zeilen, Sätze und Worte nur dann richtig in dem lesen, wie sie gemeint sind, wenn sie zu einem tiefen Empfinden hinführen – ja, nicht nur hinführen, sondern eigentlich schon mit ebendiesem Empfinden gelesen werden, aus dem heraus sie geschrieben sind.

Wenn nicht das Leiden an dem, was auch auf solchen Tagungen wirklich wie ein schmerzlicher Mangel fehlt, tatsächlich mindestens ebenso groß wird wie das andere Leiden, was jeder Mensch in sich trägt, während er zu einer solchen Tagung kommt, wird man nicht verstehen, was ich zum Erleben bringen will. Denn was auf solchen Tagungen geschieht, ist eine tiefe – und sei sie sehr oft unbewusste – Enttäuschung der Seele. Die Seele kommt mit einem großen Leiden, mit einer großen Frage – und dieses Leiden wird nicht gelindert, die Frage wird nicht beantwortet. Die Frage und die Sehnsucht, sie sehnen, verzehren sich nach dem Menschen, nach der realen Begegnung mit dem anderen Menschen, nach der wirklichen Offenbarung des Menschen, Menschlichen an sich, und all dies wird nicht gefunden, findet nicht statt, geschieht nicht...

Man kann sich wirklich darüber hinwegtäuschen. Gerade derjenige, der mit viel Mühe und Engagement eine solche Tagung vorbereitet hat, mit viel Mühe, Engagement und innerer Aktivität dann eine Arbeitsgruppe leitet, Gespräche moderiert etc. – oder auch als Teilnehmer engagiert dabei ist, neue Erkenntnisse gewinnt, neue Menschen kennenlernt, angeregte Pausengespräche führt usw. – ein solcher Mensch kann dann ganz erfüllt auf eine solche Tagung zurückblicken und das Gefühl haben, er habe von ihr viel gewonnen und es sei genau das geschehen, was auf einer solchen Tagung geschehen kann und sollte und man habe – gemeinsam – viel erreicht.

Selbstverständlich gibt es auch diese Seite des Erlebens. Ich will davon nicht das kleinste bisschen wegnehmen, auch diese Seite ist wirklich eine Realität.

Aber: Was nützt diese Realität, wenn sie nur dazu führt, dass gerade durch sie – durch dieses „schöne“, erfüllende Erleben – dasjenige um so mehr, um so stärker und vollständiger verdeckt wird, was unterhalb dieser Schicht des Erlebens entdeckt und erkannt werden müsste?

Und was nützt diese Realität, wenn sie nur dazu führt, vollkommen daran vorbeizugehen, dass andere Menschen sehr wohl stark dasjenige Erlebnis haben, was ich oben versuchte zu beschreiben? Was nützt es, wenn man sich engagiert in Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung einer solchen Tagung stürzt, wenn man nicht bemerkt, dass unzählige Menschen mit einer (meist unbewussten) ungeheuren Hoffnung zu einer solchen Tagung kommen – und mit einer tief innerlichen (ebenfalls oft kaum klar bewusst werdenden) ungeheuren Enttäuschung wieder nach Hause gehen müssen? Weil sie erleben, wie engagiert und auch hoch fachlich gearbeitet, diskutiert, gesprochen usw. wird – sie aber tief innerlich fortwährend die Frage haben: Und wann geht es um den ... Menschen?

Wenn es bis hierhin nicht empfunden wurde, was ich meine, vermag ich mich nicht weiter verständlich zu machen.

Die ganze Welt wartet auf den Menschen – und der Mensch wird nicht offenbar, darf nicht offenbar werden. Es wird verhindert durch mangelndes Bewusstsein für die eigentliche Frage. Es wird verhindert durch den abstrakten Intellekt, durch Ängste vor der eigentlichen Frage jedes Einzelnen, durch Ängste vor der wahren Sehnsucht der Seele.

Man spricht nicht vom Menschen. Man erlebt nicht den Menschen. Man stellt die Frage nach dem Menschen nicht in den Mittelpunkt.

Erst dann, wenn man dies täte, würde man beginnen, den wirklichen Inhalt dieser Frage erleben zu können, sich an ihn heranzutasten – noch immer voller Scheu, ja sogar mit nun überhaupt erst beginnender Ehrfurcht, wachsender Ehrfurcht.

Und erst dann würde man beginnen können, wahrhaft die Frage nach einer menschlichen Welt zu stellen – und aus diesem richtigen, endlich wahr empfundenden Fragen heraus auch zu beantworten, allmählich, zaghaft, aber nun real...

Auf jener Tagung, die ich miterlebte, durfte die eigentliche Frage nach dem Menschen einmal ansatzweise aufleuchten, als eine Lehrerin mit wirklich innerem Herzblut von ihrem Projekt mit kurz vor dem Abitur stehenden Schülern sprach. Gegen den Willen bzw. ohne Unterstützung der Schulleitung und in ihrer Freizeit hatten die SchülerInnen Menschen mit verschiedensten Beruf(ung)en interviewt. In diesen Interviews öffneten die Menschen den SchülerInnen ihr Inneres, hier fanden die Leiden, die Fragen der Menschen gegenüber unserer heutigen Realität Worte – und durften erscheinen, durch die Worte hindurchklingend als große Frage, als tiefes Leid, als schmerzliche Sehnsucht. Hier stand einmal der Mensch im Raum – durchklingend wiederum durch die Worte dieser mit Herzblut sprechenden, mutigen Pädagogin.

Wird empfunden, was ich meine? Diese Fragen, diese Seite der Wirklichkeit, dieser Erlebnisgehalt wird vollkommen aus unserer Realität verdrängt. Diese Verdrängung ist so vollkommen, dass es fast unmöglich ist, sich wirklich verständlich zu machen. Man kann immer nur hoffen, dass tatsächlich bis in die Tiefe zu erleben begonnen wird, was man auszudrücken versucht.

So weit also ist es in unserer heutigen Zeit gekommen: Dass es ein fast unmögliches Unterfangen ist, vom eigentlichen Menschen überhaupt zu sprechen, weil dieser Mensch aus unserem gewöhnlichen, fortwährenden Denken, Fühlen und Wollen, aus unserem gesamten Bewusstsein und Erleben vollkommen verschwunden ist. Er wurde ganz und gar ausgesondert, abgeschieden.

Unser gewöhnliches Denken und Fühlen ist gar nicht mehr in der Lage, diesen eigentlichen Menschen erlebend zu denken, erlebend zu empfinden. Fortwährend bewegt sich dieses Denken und Fühlen in einer „Region“, in der der Mensch gar nicht gefunden werden kann, weil er dort nicht ist. Wir müssen also, um den Menschen (den Menschen an sich, zuerst unseren eigenen Menschen, uns selbst) überhaupt wieder erlebend finden zu können, innerlich in eine ganz andere Region kommen. Erst wenn uns klar wird, dass dies so ist, und erst wenn wir eine erste Ahnung bekommen, in welcher Richtung diese andere Region zu suchen ist, können wir uns innerlich auf den Weg machen.

Dieser innere Weg bedeutet dann innere Arbeit. Es ist wirkliche innere Arbeit notwendig, um den Menschen zu finden. Innere Arbeit der Seele und innere Arbeit eines Ringens nach dem Geist. Erst in einer solchen Arbeit wird der Mensch wirklich, mehr und mehr, wahrnehmungsfähig, erlebens-fähig gegenüber der realen Wesenheit des Menschen. Was er zuvor nicht erleben kann, ist für ihn nicht existent. Und so ist es fast unmöglich, zu verstehen, wovon gesprochen wird, wenn es um diese Realität geht. Und doch liegt im Innersten jeder Seele diese Realität verborgen und hat jeder Mensch tief in sich den innersten Impuls, für diese Realität zu erwachen.

Auf dem Grunde jeder Seele liegt die Sehnsucht, lebt der Impuls, sich zu entwickeln. Und diese Entwicklung, nach der die Seele sich sehnt – oft noch ganz schlafend oder träumend, jedenfalls unbewusst –, ist die Entwicklung zu ihrer wahren Gestalt und zu einem Erwachen ihres Wesens.

Diese Entwicklung ist aber nichts Natürliches mehr, nichts mehr, was von selbst geschehen würde. Die Seele hat diesen Impuls, aber sie muss ihn selbst wahrmachen, muss selbst eine innere Entwicklung beginnen. Diese Entwicklung ist dann ein realer innerer Weg. Es ist ein Weg, der die Seele zum Geistigen führt – denn hier, im Geistigen, kann ihre wahre Gestalt erst gefunden und errungen werden.

Diejenige Seele aber, die beginnt, sich wirklich in ihrem Wesen als Seele zu erfassen; derjenige Mensch, der beginnt, das Wesen des Menschen innerlich zu erleben, der empfindet das, was heute in der Welt so sehr fehlt und ihr so unendlich schmerzlich mangelt, immer stärker. Immer klarer erlebt die Seele, was in der Welt fehlt und was also das Eigentliche ist, was Not tut.

Staunend und auch ohnmächtig steht die Seele dann vor der zu einem Erleben werdenden Tatsache, dass unsere heutige Zeit den Menschen, die Seele, sie selbst, völlig ausgeschieden hat. Staunend steht sie davor, dass die äußere Wirklichkeit eine solche ist, dass täglich unendlich viele Dinge geschehen können – alles, was bis ins Einzelne hinein, das tägliche Weltgeschehen ausmacht –, und dass bei alledem gleichsam über die Existenz und Realität der Seele ganz hinweggerollt werden kann.

Das Weltgeschehen, der Alltag, sie laufen einfach ab, ohne dass es wichtig ist, ob die Seele existiert. Die Realität, die unmittelbare Existenz der Seele, des innersten Menschenwesens als absolute Realität, sie ist vollkommen unbedeutend. Man kann sehr gut ohne sie über die Ampel gehen, Einkaufen, Aktien abstoßen, mit seiner Frau streiten, Nachrichten schauen, ins Kino gehen, Tagungen besuchen, Aktionen machen, an der Politik verzweifeln, an den nächsten Urlaub denken, sich Sorgen um das Monatsende machen und so weiter und so fort...

Die Seele, die beginnt, sich in ihrem Wesen zu erleben und zu erkennen, erlebt also, dass die ganze äußere Realität, das Weltgeschehen, sich nicht im Geringsten um sie bekümmert – sie ist gleichsam für dieses Weltgeschehen eine „zu vernachlässigende Größe“ – es rollt über sie hinweg, es rollt einfach ab, egal, ob sie da ist oder nicht. Die Seele stört im Grunde sogar, sie ist ein Fremdkörper; wenn sie nicht da wäre, könnte alles ganz einfach sein – es könnte einfach so weitergehen, ohne dass es je eine Frage gab, ohne dass es je diese Frage gab.

Nun gibt es aber diese Frage. In all ihrer Ohnmacht erlebt die Seele, dass sie diese Frage – nach ihrem eigenen Wesen, aber nicht als persönliche Frage, sondern als Weltfrage, als die wichtigste Frage des Menschen – nie wieder aufgeben will, kann und darf. Und zugleich erlebt sie, dass die Menschheits- und Bewusstseinsentwicklung einen solchen Verlauf genommen hat, dass diese Frage völlig, restlos, mit aller Macht unterdrückt wird. Sie erlebt die unzähligen Phänomene, an denen die Frage dennoch an die Oberfläche drängt und sich in all ihren Verzerrungen offenbart.

Die Phänomene sind alle nur zu gut bekannt: Die Sinnfrage, Sehnsucht nach Beziehung, Drogensucht, Computersucht, Burnout, Flucht in die Freizeit, in die Sinnes-Unterhaltung, Ablenkung, Psychotherapien, Esoterik und so weiter.

Aber die zu sich selbst erwachende Seele erlebt all diese Phänomene nun wesentlich tiefer, und immer noch tiefer. Sie geht selbst über führende Kulturkritiker weit hinaus, in noch essentiellere Tiefen. Es mag sein, dass auch unter jenen Menschen solche waren, die die Frage nach dem wirklichen Menschen und die werdende Antwort so essentiell und real-spirituell (nämlich real seelisch-geistig) erlebt haben – doch unsere Kultur und die bekannte Literatur führt ja immer wieder tief in die Abstraktion, so dass selbst die weitblickendsten Denker und die größten Geister heute nur noch vor diesem abstrakten Hintergrund verstanden werden – und dieses Verständnis reicht nicht aus, um das Wesentliche auch nur zu berühren.

Will man wirklich eine reale „Kulturkritik“ üben, die auf das Wesentliche hinzuweisen versucht, dann darf man sich mit keiner Silbe auf die etablierten akademischen Diskurse und Rhetoriken einlassen. Passt man sich nur mit einem Hauch an die heute üblichen Sprachregelungen, „Sprachspiele“, Terminologien und Ausdrucksgewohnheiten an, hat man schon verloren – denn es wird nicht mehr verstanden, kann nicht mehr verstanden werden.

Ein Erwachen für und ein Erkennen des Wesentlichen kann überhaupt nur noch geschehen, wenn unmittelbar aus diesem Wesentlichen heraus gesprochen werden kann – nur dieses kann die meterdicken Mauern der Abstraktion, die das heutige Denken von irgendeinem Erfassen dieses Wesentlichen vollkommen abtrennen, durchbrechen.

Dieses Wesentliche ist real existent. Die Abstraktion ist gerade das Nicht-Reale. Aber dies ist heute zu einer mächtigen Wirklichkeit geworden: Das Nicht-Reale hat geradezu eine Allmacht gewonnen. Gegen diese Macht kommt nur noch die volle Macht, die Vollmacht des Wesentlichen an. Wenn aus ihm heraus gesprochen wird, kann dasjenige, was tief in der Seele jedes Menschen verborgen und verschüttet ist, zu einem Wiederklang kommen. Es wird in ihm etwas berührt; es erlebt etwas, was seines eigenen Wesens ist, und es erwacht aus einem tiefen, tiefen Schlaf.

Das ist die einzige, die größte, die tiefste Notwendigkeit, um die es heute geht. Wie in dem Märchen „Schneewittchen“ muss der Bann der bösen Fee gebrochen werden. Dieser Zauberbann in der Realität ist die Abstraktion des Intellekts, die sich in einem jahrhundertelangen Wirken zu dem heutigen, nahezu undurchdringlichen, alles erstickenden Schleier über den lebendigen Keim der Seele gelegt hat. In unserem abstrakten Denken und Erleben wandeln wir in der Gegenwart als Tote unter Toten. Wir alle haben unser innerstes Wesen vergessen – und verleugnen es so Tag für Tag, Stunde um Stunde. Nichts anderes ist wichtig, nichts anderes wird die Welt wesentlich verwandeln, als nur dieses allein:

der Seelen Erwachen.