08.02.2013

Zur Auflösung der „Sexismus-Debatte“

Ein Gedankengang von der Oberfläche zum Wesentlichen.

Veröffentlicht auf Sein.de am 14.2.2013.


Die „Sexismus-Debatte“, die nach Brüderles Äußerung tage- oder wochenlang ganz Deutschland in Atem hält, wenn man den sogenannten Leitmedien glauben darf, ist wieder eines dieser unsäglichen Geschehnisse, die den Blick und die Gedanken der Menschen an sich bindet, um sie vom Wesentlichen abzulenken. Es ist unglaublich, wie sehr die Medien sich auf diese Themen stürzen und damit die Bewusstseinsinhalte der Menschen prägen und steuern.

Doch auch diese Frage ist geeignet, auf das wirklich Wesentliche hinzuführen – weshalb ich dies im Folgenden versuchen möchte.

Ich habe mich um die Debatte und den Rummel um diese eigentlich überhaupt nicht gekümmert. Einer der großen Vertreter des wahren Amerika, Henry David Thoreau, schrieb vor genau 150 Jahren:

„Nicht ohne ein leichtes Schaudern vor der Gefahr bemerke ich oft, daß ich nahe daran war, die Details irgendeiner kleinlichen Affäre in meinen Geist einzulassen – Nachrichten von der Straße; und ich bin erstaunt zu sehen, wie gerne die Menschen sich mit solchem Unrat belasten – müßige Gerüchte und Vorkommnisse der unbedeutendsten Art in ein Gebiet eindringen zu lassen, das ein Heiligtum des Gedankens sein sollte. Soll der Geist ein öffentlicher Schauplatz sein, wo vornehmlich die Angelegenheiten der Straße und der Teetische erörtert werden? Oder soll er ein Bezirk des Himmels sein, ein offener Tempel, dem Dienst an den Göttern geweiht?“ (Quelle).

Die Schlagzeilen sind etwas, was den Geist bewusstlos schlägt. Er wird seiner selbst ganz entfremdet und auf das trivial-gewöhnliche Sinnesleben hinabgezwungen. Für die meisten dieser „Schlagzeilen“ gilt, dass ich keinen Sinn darin sehe, mich in irgendeiner Weise auf sie einzulassen. Im Wartezimmer eines Zahnarztes griff ich gestern dann doch einmal zu einer Zeitschrift – es war nur der „Stern“ verfügbar – und las ein wenig hinein, um mich über diesen einen der unendlich vielen Skandale der Gegenwart zu informieren.

Die eigentliche Äußerung Brüderles kannte ich danach noch immer nicht und musste sie für diesen Aufsatz googlen. Dann also wusste auch ich: Brüderle soll der „Stern“-Journalistin Laura Himmelreich vor einem Jahr in einer Stuttgarter Hotelbar während eines Gesprächs über das Münchner Oktoberfest mit Blick auf ihren Busen gesagt haben: „Sie können ein Dirndl auch ausfüllen“.

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Zunächst möchte ich auf den eigentlichen Sachverhalt eingehen. Dieser ist für mich absolut nicht das Wesentliche, worauf ich in diesem Aufsatz hinaus will. Dennoch ist es für die konkrete äußere Realität sehr wohl eine wesentliche Tatsache, dass tagtäglich unzählige Frauen durch Worte und Taten belästigt werden. Und hier haben wir das eigentliche Kriterium für die Frage, ob etwas Sexismus ist: Fühlt sich eine Frau belästigt oder nicht?

Es geht aber nicht nur um das Empfinden der Frau, sondern auch um einen objektiven Blick: War die Äußerung diskriminierend gemeint? Und noch weitergehend: War sie, selbst wenn sie gar nicht bewusst so gemeint war, dennoch diskriminierend? Was bedeutet „diskriminierend“? Es bedeutet, dass man sich innerlich über den anderen Menschen erhebt – und zwar aufgrund eines Merkmals dieses Menschen, in diesem Fall aufgrund seines Frau-Seins.

Das Problem ist, dass dieses Sich-Erheben über den anderen Menschen auch empfunden werden muss. Wenn in einer Gesellschaft dieses subtile (oder auch offene) Herabsetzen des Anderen eine Normalität ist, kann es sein, dass eine Frau, geprägt von fortgesetzten Erfahrungen, gar nicht mehr bewusst bemerkt, was ihr vielleicht täglich geschieht – und der Mann bemerkt nicht, was er vielleicht täglich tut.

Davon abgesehen ist auch die Diskriminierung zwischen Vorgesetzten und Angestellten heute eine tägliche Realität. Die Angestellten werden heute oft tendenziell wie selbstverständlich verfügbare „Arbeitskräfte“ oder „Humanressourcen“ behandelt – sie werden also allein aufgrund ihres Status als „Arbeitnehmer“ diskriminiert: Der Vorgesetzte stellt sich haushoch über sie – kollegial, menschlich, in jeder Hinsicht.

Wichtig in Bezug auf die Frage gerade der geschlechtsgebundenen Diskriminierung ist aber auch noch ein weiterer Faktor: Das, was auf diesem Gebiet der Begegnung von Mann und Frau spielt, hat oft auch mit einer „Diskriminierung in gegenseitigem Einverständnis“ zu tun. Die Begegnung der Geschlechter ist oft auch ein Machtspiel bzw. ein Feld mit ganz bestimmten Verhaltensmustern. Es geht um Signale. Es geht um Zeichen der Dominanz. Es geht um Stärke und Schwäche, um Verführung, Eroberung, Lockung, Ablehnung, Attraktion, Zurückweisung und Versagung, neuerlichen Reiz...

Bei der Begegnung der Geschlechter handeln die Menschen oft im Sinne eines solchen unsichtbaren Ringens miteinander. Manchmal hat es mehr Kampf- und Dominanzcharakter, manchmal weniger. Hier ist also die latente, auch wechselseitige Diskriminierung ganz in das Verhalten einverwoben. Wer gegenüber einem anderen Menschen subtil Macht ausübt, stellt sich in diesem Moment über ihn. Doch für viele Menschen macht dieses auf der Geschlechtertrennung basierende Ringen gerade den großen Reiz auf diesem Felde aus. Im Sport treten wir gerne in Wettbewerb miteinander – warum nicht auch in der Begegnung mit dem anderen Geschlecht?

Doch die Menschen sind verschieden, und es begegnen sich oft Menschen mit einer unterschiedlichen Sicht auf dieses Feld der Begegnung. Die einseitige Sicht auf den anderen Menschen als Angehörigen des anderen Geschlechts ist im Grunde immer menschenunwürdig – wenn man nicht wirklich den anderen Menschen sieht, sondern nur noch einen Vertreter des anderen Geschlechts.

Ob etwas diskriminierend ist, hat immer mit dem Empfinden des Anderen zu tun. Beginnt der eine Mensch das typische erotisch-sexuelle Spiel, obwohl der andere Mensch dies gar nicht möchte, so verletzt der erstere unmittelbar eine intime seelische Sphäre. Wenn er, dies erkennend, nicht unmittelbar auf die andere Ebene der wirklich reinen Begegnung von Mensch zu Mensch wechselt, übt er über den anderen Menschen Macht aus und handelt nicht menschenwürdig. Dies ist immer der Fall, wenn man die unsichtbare seelische „Intim- und Privatsphäre“ eines Menschen überschreitet. Durch geschlechtsspezifische Handlungen geschieht dies allerdings besonders oft, weil die Menschen gerade hier sehr oft eben keine volle Rücksicht darauf nehmen, ob der andere Mensch mit ihrem Verhalten einverstanden ist – und weil gerade dieses Spiel von Macht und Überraschung usw. „dazugehört“.

Menschlich wäre wirklich nur ein Verhalten, dass die durch den anderen Menschen gezogene Grenze fraglos und unbedingt anerkennen kann.

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Das große Problem auf diesem geschlechtsbezogenen Feld ist nun aber, dass dieses Feld gerade davon lebt, dass Reize gegeben werden – und andererseits sollen diese Reize nicht auf jeden wirken. Ein starker Mann kann Frauen, die ihn „nicht interessieren“, einfach stehen lassen. Doch was macht eine Frau, die von Männern bedrängt wird, die sie gar nicht „anziehen“ wollte? Das ist das Problem: Eine Frau macht sich so attraktiv wie möglich, aber die Attraktion soll natürlich eigentlich nur auf ihren gesuchten Traummann bzw. ihren schon gefundenen Partner wirken... So funktioniert es natürlich nicht, sondern die Reize wirken auf jeden Menschen, der sie wahrnimmt. Dementsprechend behaupten manche Männer, die eine Frau gegen ihren Willen bedrängen: „Sie wollte es doch.“

Die Herausforderung in der täglichen Begegnung der polaren Geschlechter ist es also, unerhörte Reize wahrzunehmen und dennoch die Fähigkeit zu besitzen, sie als etwas wahrzunehmen, was nicht einem selbst gilt. Im Grunde geht es um eine hohe Fähigkeit der Askese – um die Fähigkeit, jederzeit dem anderen Menschen wirklich als Menschen zu begegnen. Es geht darum, dem anderen das Recht zuzusprechen, seine Leiblichkeit so reizvoll wie möglich zu gestalten und zu zeigen, ohne dass man nach außen hin darauf reagiert.

Gerade unsere „hochsexualisierte“ Welt zwingt den Menschen also dazu, sein Menschentum zu entwickeln! Andernfalls verhält er sich nur wie ein biologisches, von Hormonen und Instinkten bestimmtes Geschöpf, und die „Sexismus“-Debatte wird nie ein Ende haben...

Wenn das Machtspiel der Geschlechter von beiden Seiten gewollt ist, können zwei Menschen tun und lassen, was sie wollen. Wird es aber einseitig, wird die Würde des Menschen verletzt. Das ist das Problem anzüglicher Bemerkungen. Anzüglichkeiten, die etwa eine Frau von vornherein herabsetzen wollen, sind unmittelbar menschenunwürdig. Will der Mann damit jedoch ein erotisches Spiel aufnehmen, in dem er die Frau als vollkommen gleichberechtigt empfindet, ist es etwas anderes – dennoch muss auch die Frau mit diesem Spiel einverstanden sein, sonst erweist sich die Anzüglichkeit im nachhinein wiederum als Diskriminierung. Es hängt von dem Willen und dem Empfinden der Frau ab! Ist sie mit dem Spiel einverstanden, so ist die Anzüglichkeit eine „gewollte Grenzüberschreitung“ – und wie gesagt, zwei Menschen können diejenigen Spiele spielen, die sie wollen.

Der alternde FDP-Politiker Brüderle hat gegenüber einer jungen Journalistin eine Aussage über deren Brüste gemacht. Kann man glauben, dass unter dieser Konstellation irgendeine Journalistin oder auch andere Frau mit einer solchen Anzüglichkeit einverstanden sein könnte? Man kann es nicht. Die Worte, die Brüderle gesagt hat, haben definitiv etwas Herabwürdigendes. Es ist nahezu absolut sicher, dass Brüderle in diesem Moment jene Frau nicht als gleichberechtigt empfunden hat, sondern sie durch die Anzüglichkeit subtil demütigen wollte – was das Wesen einer Anzüglichkeit ist.

Daher verkennt es die Realität vollkommen, wenn manche Verteidiger Brüderles behaupten, seine Worte seien als „Kompliment“ gemeint gewesen! Seine Parteikollegin, Frau Leutheusser-Schnarrenberger eilte ihm verbal zu Hilfe und war sich nicht zu schade, zu sagen: „Wenn ich auch ein Dirndl tragen kann und das steht mir gut, wo ist denn da die Beleidigung?“ Im Grunde sind alle derartigen abstrakten Verteidigungen eine erneute Demütigung der betroffenen Frau, denn man will die reale Demütigung immer wieder nicht sehen.

Wenn es für Frau Leutheusser-Schnarrenberger kein Problem ist, von einem alternden Politiker als Sexualobjekt angesprochen zu werden, ist das ihre Sache. Dies ist vielleicht nicht nur eine Unwahrhaftigkeit aufgrund des „Fraktionszwanges“. Es liegt vielleicht auch daran, dass eine alternde Frau es vielleicht durchaus wiederum als ein „Kompliment“ empfinden kann, wenn ihre sexuelle Seite überhaupt noch erwähnt wird – so traurig das menschlich gesehen auch sein mag. In jedem Fall aber darf Frau Leutheusser-Schnarrenberger dasjenige, was sie selbst nicht schlimm oder nicht demütigend findet, nicht zum Gesetz für die Empfindung jedes Menschen machen!

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Die ganze Debatte um die Brüderle-Äußerung ist geradezu absurd für denjenigen, der das Wesen der idealistischen, romantischen Liebe kennt. Für einen solchen Menschen wäre es völlig undenkbar, sich mit irgendeiner Anzüglichkeit über einen anderen Menschen zu stellen. Nehmen wir an, es sei ein Mann, so würde er nicht nur die innig geliebte Frau niemals so behandeln, sondern niemals irgendeine Frau. Er weiß, dass er sich durch solche Worte selbst herabwürdigen würde.

Idealismus bedeutet ein Erkennen und ein Wollen des Wesens – des höheren Wesens. Dieser Idealismus ist zugleich geistiger Realismus. Er hat innige Verwandtschaft mit der pistis, dem realen „Glauben“, der ein Wissen, ein Erkennen wird. Indem ich an das Schöne, das Wahre und das Gute in einem Menschen „glaube“ und es in ihm ganz real „sehe“, rufe und berühre ich eigentlich das höhere Wesen des anderen Menschen, in dem all dies eine Realität ist... Und wo es noch nicht offenbar ist, wird es durch meinen Ruf und meine Berührung offenbar werden wollen...

Das ist es, wovon Novalis sprach, als er schrieb: „Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.“ Es geht hier nicht um unwirkliche Illusionen, sondern gerade um eine höhere Wirklichkeit, die eine wirkliche Realität ist! Von ihr wird man jedoch nur dann jemals etwas ahnen und erfahren, wenn man zu dieser inneren, aktiven Tat fähig ist: Einen Menschen – oder überhaupt jede menschliche Begegnung – zu „romantisieren“, zu „idealisieren“. Es geschieht dadurch etwas Reales. Und weil dies so ist, macht die Liebe nicht blind, sondern sehend...

Man kann wohl sehr, sehr deutlich spüren, wie wir mit solchen Gedanken unmittelbar weltenweit abrücken von allen Schlagzeilen der äußeren Welt, von jeglicher abstrakten xxx-Debatte welchen Namens auch immer. Wir befinden uns hier in einem rein seelisch-geistigen Gebiet – und erst hier, in dieser „Sphäre“, wo uns die Abstraktheiten und Geistlosigkeiten der äußeren Welt für einen Moment in Ruhe lassen müssen, kann uns hörbar werden, dass an den Menschen eigentlich fortwährend eine geistige Frage gestellt wird – in jedem Augenblick, auch in dem größten Trubel des materialistischen Alltags, wo wir sie aber niemals vernehmen. Die Frage könnte ungefähr lauten:

O, Mensch, wann findest Du Dein eigenes Wesen?

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Wer das Glück hat, eine so reine Liebe zu erleben, dass er das geliebte Wesen innig idealisiert, empfindet durch diese Liebe zu dem einen Menschen eine erste Ahnung vom Wesen des Menschen überhaupt. Denn nicht nur das höhere Wesen eines Menschen ist so schön, dass es gleichsam wie eine milde Sonne zu strahlen und zu wärmen scheint, sondern auch das höhere Wesen der anderen Menschen, wenn es genauso tief erkannt oder im Sinne Novalis „romantisiert“ wird...

Selbstverständlich sind die irdischen Verhältnisse andere. Wir sind oft gar sehr weit entfernt von demjenigen Wesen, das wir sein könnten – und tief innerlich auch sein wollen. Das ändert aber nichts daran, dass auch dieses Wesen bereits jetzt eine Realität hat – jedoch noch keine irdische, offenbar gewordene. Für das Wesen des Menschen wachen wir jedoch erst auf, wenn wir dieses Mysterium zwischen realem (!) Ideal und Wirklichkeit, zwischen aktuellem und möglichem Sein, zwischen Unvollkommenheit und Sehnsucht, zwischen Gewordensein und Werdenwollen tief auf uns wirken lassen.

Die reale Liebe des wahren Idealisten kann nicht anders, als sich allmählich von dem einen geliebten Wesen auf die ganze Welt auszubreiten. Oder umgekehrt: Gerade weil der reale Romantiker von Anfang an den inneren Impuls empfindet, die Welt insgesamt zu „romantisieren“, in ihrem höheren Wesen zu sehen, ist er in der Lage, seine ganze Sehnsucht und Fähigkeit des Idealisierens derart kraftvoll-real auf einen Menschen zu richten.

Die idealisierende Liebe sucht und „sieht“ in letzter Hinsicht das Vollkommene. Ein realer Mensch jedoch kann nie ganz vollkommen sein – nur ein Idealbild kann es, aber es ist nur Bild. Der Idealist wird also die äußere Wirklichkeit immer in einem Widerspruch zu dem finden, was er innerlich erlebt und sucht. Das Ideal ist vollkommen, im Ideellen ist die Vollkommenheit zu finden und kann mit dem Willen verbunden, zum Ideal gemacht werden, doch im Irdischen ist diese Vollkommenheit nicht zu finden.

Die Erfüllung dieser idealisierenden Sehnsucht findet die Seele nur, wenn sie erkennt, dass diese Sehnsucht, dieser Trieb, dieser Impuls zum Ideal zugleich der Impuls ist, der die eigene Seele ergreifen will: der Impuls, den Weg der inneren Entwicklung, der Vervollkommnung, der Läuterung zu gehen.

Die idealistische Seele möchte in der sie umgebenden Welt das Ideelle schauen, es in das Unvollkommene mit hinein-sehen, das scheinbar nur Gewöhnliche durchsichtig werden lassen für das Vollkommenere, Höhere. Doch die Seele selbst hat zugleich die Aufgabe, auch sich selbst zum Idealen zu erheben, sich dem Wahren, Schönen, Guten ähnlich zu machen. Das Idealbild des Mädchens, das der Mann sucht, ist in höherem Sinne die reine Seele – nicht nur die reine Seele eines idealen Mädchens, sondern die reine Seele des Menschen. Wird die Seele des Menschen rein, ehrfürchtig und demütig (in Bezug auf das Geistige), so wird sie geistig gesehen so innig schön wie eine „reine Magd“. So schön wie eine Jungfrau, wie die Königstochter des Märchens.

Dunkel empfindet der idealistisch Liebende diese Zusammenhänge von Anfang an – hat er doch den innigen Wunsch, sein eigenes Sein so edel wie möglich zu machen, um dem geliebten Wesen würdig zu sein; seine eigene Seele so schön zu machen, wie die Seele des geliebten Wesens es schon ist... Doch gerade diese Liebe zu der schönen Seele im anderen Menschen ist in letzter Hinsicht die Liebe zu der schönen Seele an sich.

Richtet sich diese Liebe nach innen, sucht sie ihren eigenen, eigentlichen Ursprung, so findet sie die Aufgabe, die Seele an sich schön zu machen. Das, was sie außerhalb ihrer selbst innig geliebt hat, erkennt sie nun (zugleich) als eigene Aufgabe, die sie durch innere Anstrengung vollbringen muss: selbst in geistiger Schönheit leuchtend zu werden – nicht um einer schöneren Seele willen, sondern aus vollständig eigenem Willen, aus dem eigenen Willen zur Entwicklung. Allenfalls aus Liebe zum Höchsten, zur göttlichen Welt selbst...

Auf diesem Weg der inneren Entwicklung wird die Seele also selbst das, was sie bisher nur außerhalb ihrer selbst geliebt hat. Ist aber die Seele in dieser Weise jungfräulich geworden, kann sich das andere Mysterium ereignen, das Geheimnis der Jungfrau, die Geistgeburt...

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Selbstverständlich sind dies Urbilder, sie beziehen sich auf das Wesen des Menschen, wo der Unterschied zwischen Mann und Frau ganz aufgehoben ist.

Andere Aspekte des zuvor Gesagten verwandeln sich aus Sicht einer Frau entsprechend. So wie der idealistisch liebende Mann sich nach der reinen Jungfrau sehnt, so sehnt sich die idealistisch liebende Frau nach dem edlen Ritter. Dies sind keine Stereotypen, sondern Urbilder für seelisch-geistige Realitäten. Es sind Imaginationen für verschiedene Aspekte der reinen Seele. Die reine Jungfrau ist Bild für die hingebungsvolle Andacht, die fromme Ehrfurcht, die reine Unbefangenheit einer sich dem Geistigen weihenden Seele. Der edle Ritter ist Bild für Selbstlosigkeit, Treue, Mut und Standhaftigkeit.

Mehr seelisch und in Bezug auf die zunächst mehr gewöhnlichen Seelenfähigkeiten können wir das Bild der Jungfrau und des Ritters auch auf dasjenige beziehen, was einem Mann bzw. einer Frau notwendig ist, um die Einseitigkeiten auszugleichen, die das gewöhnliche Sein als Mann bzw. Frau mit sich bringen. Urbildlich ist es ja so, dass die Frauen das Gefühlvolle, Intuitive mehr ausgeprägt haben als die Männer, während diese wiederum das Gedankenklare, dafür oft Abstrakte, Gefühlsarme ausgeprägt haben. Auch hier sind der Ritter und die Jungfrau Imagination für dasjenige, was dies ergänzt: Die Klarheit – und das Weiche, Zarte...

Die Seele jedes Menschen ist dazu berufen, sich zum Geiste zu erheben. Hier strebt die Seele nach Vollkommenheit, hier hören die Unterschiede auf, hier endet die Trennung in Polaritäten, hier entwickelt sich die Seele zur Ganzheit, zum vollen Umfang der in ihr angelegten, bereits als Keim vorhandenen Fähigkeiten. Die Seele wird wieder das, zu dem sie eigentlich geschaffen ist: „männlich-weiblich“. Sie wird wahrer Mensch.

Dies ist die zweite Geburt. Die Geburt aus dem Fleische macht den Menschen zu Mann oder Frau – die Geburt aus dem Geiste lässt ihn „aus Gott“ geboren werden, hier löst sich alle Einseitigkeit auf...

Der Mensch ist alle Ding: ist’s, daß ihm eins gebricht,
So kennet er fürwahr sein Reichtum selber nicht.
(Angelus Silesius)