12.02.2013

Frank Schirrmacher – und die ungeheure Frage der Gegenwart

Gedanken zu der heute notwendigen tiefgreifenden Erkenntnis angesichts der Krise unserer Gesellschaft.


Inhalt

Ein führender Journalist erhebt seine Stimme
Die unfassbare Realitätsblindheit von Schirrmachers Kritikern
Eine Frage an Schirrmacher: Um welche Menschen geht es?
Die notwendigen Folgen des Egoismus
Not-wendige Besinnung auf den Menschen
Die Geburt der Menschlichkeit


Ein führender Journalist erhebt seine Stimme

Frank Schirrmacher, seit 1994 einer der Herausgeber der konservativen FAZ, hat sich seit der ungeheuerlichen Finanzkrise zu einem immer schärferen Kritiker des heutigen Systems entwickelt. Seine innere Wende in Bezug auf die Beurteilung der heutigen Ökonomie zeigte sich im August 2011 in dem Artikel „Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat“.

Hier schrieb er in scharfer Kritik gegenüber der völligen Konzeptlosigkeit der Politik:

„Die CDU hat ihre an die Finanzmärkte ausgeliehenen immateriellen Werte, ihre Vorstellung vom Individuum und vom Glück des Einzelnen, niemals zurückgefordert. Sie hat nicht nur keine Verantwortung für pleitegehende Banken verlangt, sie hat sich noch nicht einmal über die Verhunzung und Zertrümmerung ihrer Ideale beklagt. [...] Der Preis der CDU ist weit mehr als ein Wahlergebnis. Es ist die Frage, ob sie ein bürgerlicher Agendasetter ist oder ob sie das Bürgertum als seinen Wirt nur noch parasitär besetzt, aussaugt und entkräftet.“


Nun erscheint Schirrmachers Buch: „Ego – das Spiel des Lebens“. „Spiegel“-Herausgeber Jakob Augstein schreibt: „‚Ego’ ist [...] ein Buch über den menschenverachtenden Irrsinn des totalitären Kapitalismus.“.

Im Interview mit dem „Spiegel“ sagt Schirrmacher: „Wir sind in einen Zustand der permanenten Instabilität eingetreten.“ Und ein kleiner Artikel auf WEB.de berichtet weiter:

Die Staaten sind nach Ansicht Schirrmachers in der Sackgasse: Die „marktkonforme Demokratie“ habe auf die aktuellen Krisen keine rationalen Antworten mehr. Die Politiker drehten sich im Kreis und legten sich wie in einem Käfig nur noch auf eine Rationalität fest („Scheitert der Euro, scheitert Europa“). Es fehlten die Antworten, wie der neue Informationskapitalismus gebändigt werden könne. Zugleich habe es die neue Ökonomie geschafft, die Verantwortung für die Widersprüche des Systems auf das Ich des Einzelnen abzuwälzen.


Doch bevor man in der Öffentlichkeit diese weitreichenden Urteile überhaupt auf sich wirken lassen kann – was dringend notwendig wäre! –, versuchen die ersten Kritiker dem schon die Spitze abzubrechen und alle Wucht zu nehmen.

Peter Sloterdijk, der in seinen Gedanken vielfach einem ungeheuren Reaktionismus dient – wie ich in meinem Werk „Zeit der Entscheidung“ anhand einschlägiger Beispiele deutlich ausführe –, meint im „Focus“, der moderne „homo oeconomicus“ sei ein Popanz, die Zeit gehöre längst wieder dem Nachdenken über Empathie, Kooperation und andere „Bürgertugenden“. Da fragt man sich: In welcher Scheinwelt lebt dieser Mann?

Desgleichen der „TV-Philosoph“ Richard David Precht. Er sagt im „Focus“, zwar gebe es eine Radikalisierung der Arbeitswelt und ihrer Belastungen, aber: „Für viele ist es zum Lebensideal geworden, Zeit zu haben, mit den Kindern zu spielen, mit Freunden Kaffee zu trinken.“

Die unfassbare Realitätsblindheit von Schirrmachers Kritikern

Angesichts solcher „Einsprüche“ gegen das Buch von Frank Schirrmacher möchte man vor Verzweiflung gleichsam auf die Knie fallen – weinend und klagend über die Arroganz und selbstgewählte Dummheit solcher Menschen, die sich wahrscheinlich selbst noch als herausgehobene Vertreter der „Intelligenz“ ansehen. Das sind sie in anderer Hinsicht dann auch – Vertreter einer Intelligenz, die derart abgehoben und lebensfremd auf eine ihr völlig entfremdete Welt schaut, dass sie nur noch kindischen Unsinn reden kann. Was diese Intelligenz produziert und absondert, ist derart oberflächlich, dass man sich nicht wundern würde, wenn sie demnächst nur noch unverständliche Brabbellaute von sich geben würde. 

Es ist nicht ein kalter Zynismus, der in diesen Worten liegt und mich dies sagen lässt – sondern wirklich die tiefste Verzweiflung. Haben denn diese Menschen überhaupt kein Urteilsvermögen mehr? Ist ihnen die Realität wirklich derart entglitten, dass sie nicht sehen, was geschieht? Wirklich sehen und entsetzten Auges davor stehen!?

Offenbar nicht. Angesichts der heutigen Arbeitswelt, die zu einer ungeheuren Ausbeutung und Demütigung von Millionen Menschen geworden ist (und ich spreche jetzt allein von dem „wohlhabenden, reichen Deutschland“!), ist es völlig irrelevant, ob die Menschen immer mehr das Ideal haben, Zeit für sich, ihre Kinder und ihre Freunde zu haben. Diese Zeit wird ihnen gerade genommen! Und selbst wenn man Zeit findet – die innere Ruhe, mit seinen Kindern zu spielen, mit seinen Freunden zu sprechen, sie wird einem gerade genommen!

Sicherlich, es gibt die ungezählten wunderbaren, heilen Familien des gehobenen Mittelstandes, denen es noch gut geht: Vielleicht reicht sogar die Arbeit des einen Partners allein aus, um ein glückliches, heiles Familienleben führen zu können; vielleicht haben aber auch beide eine befriedigende Arbeit – was auch den Wohlstand steigen lässt, noch extravagantere Urlaube möglich macht, alle Sorgen fortnimmt usw. –, aber gerade dieses Glück, diese Sorglosigkeit macht ja blind!

Und so gibt es in jeder Gesellschaft unzählige Parallelwelten. Wer per Mausklick Reichtum erwirbt und Andere ruiniert, interessiert sich für diese Anderen nicht. Wer ein heiles Familienglück genießt, interessiert sich für die Anderen nicht.

Wer sind diese Anderen? Es sind ungezählte Menschen – inzwischen sicherlich oftmals die Mehrheit –, die keine befriedigende Arbeit haben; die, selbst wenn ihre Arbeit sie befriedigt oder sie sie dennoch irgendwo gern tun oder hinnehmen, von dieser Arbeit ihre Familien nicht ernähren können; die vielleicht überhaupt keine Arbeit haben; die täglich vom Jobcenter oder auf einem befristeten Arbeitsplatz gedemütigt werden und sich fragen, ob es überhaupt einen Sinn macht, dass sie noch weiter ... existieren!

Ungezählten Menschen in diesem „reichen“ Land ist kein heiles Familienglück vergönnt, ist stattdessen tägliche Sorge, tägliches Leiden und das tägliche Erleben von Sinnlosigkeit und Ausgestoßensein beschieden. All diese Menschen leben ihr Leben weiter, versuchen irgendwie durchzukommen; versuchen wahrscheinlich, ihre Kinder nicht allzu viel von der erdrückenden Last ihrer Erlebnisse spüren zu lassen; versuchen, sich für die Schulferien irgendetwas einfallen zu lassen, obwohl sie wissen, dass sie nicht wegfahren können, nicht einmal 70 Euro für einen einzigen Tag Ferienwohnung haben – und sie leben weiter, immer weiter, mit ihren Kindern, in einer echten, bitteren Armut.

Das größte Leid dieser Armut ist vielleicht das, dass es nicht gesehen wird. Nicht gesehen von denen, die mehr haben; die das Glück haben, die genug haben. Nicht gesehen von den Mitmenschen, die doch im gleichen Land leben, in der gleichen Stadt, ja vielleicht sogar Wand an Wand...

Ideale sind wunderbar, wenn sie verwirklicht werden können. Sie werden aber zu einer bloßen Hoffnung, zu einem unerfüllbaren Wunsch, wenn die Wirklichkeit ihnen so stark widerspricht, dass gar keine Möglichkeit besteht, dasjenige zu tun, was einem als lebendiges Ideal vor Augen steht! Man rede als sogenannter „Philosoph“ nicht von Idealen, wenn man selbstgefällig nicht einmal den Willen aufbringt, die Realität anzuschauen – die volle heutige Realität, die diesen Idealen viel gnadenloser widerspricht, als man es sich mit einem behaglichen Einkommenspolster und wunderbar sorgloser Freizeit je vorstellen würde!

Eine Frage an Schirrmacher: Um welche Menschen geht es?

Damit hängt eine Frage zusammen, die ich gerne auch an Frank Schirrmacher richten würde. In seinem Artikel „Ich beginne zu glauben...“ zitiert er Charles Moore, den erzkonservativen ehemaligen Berater von Margret Thatcher, der sich ebenfalls fragt, ob die Linke nicht recht hat. In einem aufsehenerregenden Artikel im „Daily Telegraph“ schrieb Moore, die Linke habe verstanden, „wie die Mächtigen sich liberal-konservativer Sprache als Tarnumhang bedient haben, um sich ihre Vorteile zu sichern.“

Und dann zitiert Schirrmacher Moore, der sich mit kritischem Blick auf die heutige Gegenwart an die Leser wendet:

„Ihre Chancen für einen Job, für ein eigenes Haus, eine anständige Pension, einen guten Start für Ihre Kinder, werden immer kleiner. Es ist, als ob man in einem Raum lebt, der immer mehr schrumpft.“


Das ist die Erfahrung der Mittelschicht, ja sogar der mittleren Oberschicht – all jener Menschen, die sich bisher sogar ein eigenes Haus leisten konnten; deren Kinder wie selbstverständlich studieren konnten und nachher gut bezahlte Jobs bekamen. Menschen, die immer gedacht haben, es gehe allen so gut, und die bisher nie wirklich zur Kenntnis genommen haben, dass es nie allen so gut gegangen war wie ihnen.

Schirrmacher ergänzt nach diesen Worten von Moore nun folgendes:

„Die CDU aber [...] sieht nicht, wer in diesen schrumpfenden Räumen sitzt: Lehrer und Hochschullehrer und Studenten, Polizisten, Ärzte, Krankenschwestern, gesellschaftliche Gruppen, die in ihrem Leben nicht auf Reichtum spekulierten, sondern in einer Gesellschaft leben wollen, wo eindeutige Standards für alle gelten, für Einzelne, für Unternehmen und für Staaten [...].“


Und dies ist meine Frage an Schirrmacher: Um welche Menschen geht es ihm – und um welche nicht? Er zählt hier im Grunde ebenfalls die gehobene Mittelschicht auf. Die Frage ist also: Wie konservativ ist Schirrmacher? Betrachtet er Polizisten, Krankenschwestern, Lehrer und Studenten als heilen Kern, Urbild und Maß der Gesellschaft; gilt nur ihnen sein Interesse und sein Wohlwollen? Sieht auch er noch nicht die volle Realität?

Ist die untere Mittelschicht und die Schicht der wirklich ganz Armen eine Menge von Menschen, die für Schirrmacher nicht mehr zum Zentrum der Gesellschaft gehören, weil alle Menschen, jeder Einzelne, in dieses Zentrum hineingehört? Wann haben wir begonnen, in unserem Denken Menschen auszuschließen? So subtil auf sie herabzublicken, dass wir sie in verschiedenen Gedankengängen gar nicht mehr einbeziehen? Wo stehen in Schirrmachers Denken – der bereits kritisch auf die heutige Ökonomie blickt – die Handwerker, die Verkäuferinnen, die Taxifahrer, die Kinoverkäufer, die Friseure, die Wachschutzleute, die Arbeitslosen (die vielleicht einmal Krankenschwester, Sekretär, Verkäufer etc. waren, aber entlassen wurden), die Langzeitarbeitslosen, die Obdachlosen?

Gibt es irgendwo in den Gedanken von Frank Schirrmann eine Schere, wo er sagt: „Diese Menschen dürfen eben nicht auf ein Haus, auf einen guten Job oder zumindest einen schönen Urlaub hoffen.“? Widmet er sein Denken nur einem engeren Kreis der Gesellschaft, den er noch immer als Kern denkt, während andere ... selbst schuld sind?

Die notwendigen Folgen des Egoismus

Dies ist der entscheidende Punkt, der im heutigen Denken die Gesellschaft zerstört und durchlöchert: Die Frage nach der Schuld.

Es geht um die Frage: Wer ist angeblich für sein Schicksal (und Glück) selbst verantwortlich – und wer wird durch die gesellschaftlichen Verhältnisse in seine Schicksalssituation hineingezwungen? Hat unsere Gesellschaft wirklich bisher – vor der Finanzkrise – einen Rahmen gehabt, in dem jeder oder fast jeder an einem Ort wirken konnte, der seinen Begabungen entsprach, der gerecht vergolten wurde und der ein menschenwürdiges Leben ermöglichte?

Diese schwere Illusion wird wohl nur bei Menschen aufgetreten sein, denen es bisher überdurchschnittlich gut ging. Es wäre unendlich wichtig, dass auch sie nun aus dieser Illusion erwachen. Die Realität war schon immer die, dass der Kapitalismus auf der Basis des geforderten und geförderten Egoismus basiert. Darüber wird man kaum in Streit geraten. Was aber im jetzigen historischen Augenblick endlich erkannt werden könnte, ist, dass Egoismus immer Opfer hervorbringt – Not, Elend und Ungerechtigkeit für viele Menschen.

Historisch richtet die Gegenwart nun eigentlich die Frage an den Menschen: Willst Du so weiterleben? Oder kannst Du nicht doch noch als denkendes, empfindendes und wollendes Wesen eine andere Gesellschaft denken, erhoffen – und verwirklichen?

Bisher hat man über die eiserne Notwendigkeit dieses Zusammenhanges, dass Egoismus immer Leid und Ungerechtigkeit hervorbringt, schamhaft die Augen verschlossen – so offensichtlich diese Gesetzmäßigkeit auch ist! Solange der Opfer nicht zu viele waren und solange dies durch staatliche Almosen noch halbwegs menschenwürdig aufgefangen wurden, hat man gemeint, dieses System einer auf Egoismus gebauten Wirtschaft (und damit letztlich Gesellschaft) sei naturgegeben und „gut“, ja „das Beste aller möglichen Systeme“.

Wer von den realen Folgen dieser Illusion selbst betroffen wurde, der ist selbstverständlich aufgewacht und konnte bemerken, dass diese Gesellschaft auf einer Lebenslüge aufbaut. Aber die Anderen? Sie träumten weiter, bis der Egoismus, dessen Mittel und dessen reale Folgen so groß wurden, dass es die Gesellschaft regelrecht entzwei riss. Schockiert wachen nun zahllose Menschen auf und fragen sich, wo die „moralischen Werte“ oder auch die „Gerechtigkeit“ geblieben ist – in einer Gesellschaft, die schon immer, seit Bestehen der marktwirtschaftlichen Bundesrepublik, auf dem Egoismus aufbauen wollte!

Es ist doch so: Der Egoismus wirkte schon immer. Schritt für Schritt ist ihm die Politik entgegengekommen (mit steuerlicher Umverteilung), hat ihn weiter angeheizt und ihm die Schleusen geöffnet („Liberalisierung“ der Finanzmärkte). Nun, wo die krassen Folgen dieses Egoismus sichtbar werden und selbst die Mittelschicht vor sinkenden Reallöhnen, zunehmenden Entlassungen, Langzeitarbeitslosigkeit etc. steht, also massiv die Folgen eines gesellschaftlich jahrzehntelang gewollten Egoismus zu spüren bekommt, erwacht man.

Aber dies ist notwendig – es muss erwacht werden!

Not-wendige Besinnung auf den Menschen

Und dann muss auch Zeit für die Besinnung da sein. Jetzt ist noch einmal ganz neu die Frage zu stellen: In welch einer Gesellschaft wollen wir leben? Was für eine Gesellschaft wollen wir unseren Kindern hinterlassen? Sind wir noch fähig, uns vor unseren Kindern zu schämen, dass wir sie in eine von Egoismus geprägte, auf dem Egoismus basierende Gesellschaft hineinwachsen lassen? Dies ist wohl der Punkt, wo eine innere Umkehr einsetzen kann: Bei einer tiefen Scham vor uns selbst, angesichts unserer Kinder, sofern wir in ihnen noch die Unschuld empfinden können, die auch wir einst in uns hatten.

Wir sollten die gegenwärtige Situation als Chance betrachten – als geschenkte Gelegenheit, uns tiefer als jemals bisher auf unsere Situation als Mensch zu besinnen. Der bisherige Versuch, die Frage nach dem Menschen zu lösen, ist grandios gescheitert – und die Auswirkungen dieses Scheiterns werden uns erst in den kommenden Jahren ereilen, mit jetzt noch ungeahnter Massivität. Aber der Kapitalismus, der aus innerer Logik heraus zu einem sogenannten „Turbokapitalismus“ werden musste, ist nur eine Denkvariante – eine der schlechtesten, die jedoch unserer bisherigen Bewusstseinssituation entsprach.

Neue Möglichkeiten werden durch Leid und Erwachen errungen. Das Scheitern des Egoismus sollte uns deutlich machen, dass die Frage völlig offenbar auf der Hand liegt: Warum handeln wir gegenüber den Menschen, die wir kennen und die uns vertraut werden, nicht egoistisch? Die Antwort ist sehr einfach: Weil der Mensch ein ganz anderes Wesen ist, als es die von ihm selbst erdachte kapitalistische Theorie es ihn glauben machen wollte.

Warum erdenken wir immer so schnell intellektuell irgendwelche Theorien, Welt- und Menschenbilder? Können wir nicht einmal reale Bewusstseins- und Seelenforschung betreiben? Die Menschheit sollte dies wagen, denn wenn sie es nicht wagt, werden die Konsequenzen in den künftigen Jahrzehnten furchtbar sein.

Der Mensch, der einmal aufhört, fertige Gedankenmodelle wiederzukäuen, um selbstständig reale Forschung im eigenen Inneren zu betreiben, der wird nach und nach schon eine Seele, einen seelischen Innenraum entdecken. Und derjenige, der es schafft, bei dem Wort „Seele“ nicht sofort aufzulachen oder den Kopf zu schütteln, sondern tatsächlich einmal den Versuch macht, herauszufinden, ob er mehr als nur eine Leibeshülle ist, dem wird das Lachen (oder Schütteln) schon im Halse steckenbleiben, denn auch er wird finden, dass die Leibesfunktionen und die kalt und abstrakt gedachten intellektuellen Gedanken nicht alles am Menschen sind.

Und wenn der Mensch dieses Etwas entdeckt, das ihm viel innerlicher zueigen ist als seine bloße Leiblichkeit – wenn er entdeckt, dass er empfinden kann, dass er sich freuen kann, dass er trauern kann, sich Sorgen machen kann, lieben kann, Treue empfinden kann, Mut, Staunen, Ehrfurcht, Dankbarkeit... Wenn der Mensch dann weiter empfinden kann, dass all dies in einem Innenraum empfunden wird, wenn dieser Innenraum in seiner stillen Besinnung größer und größer, realer und realer wird... Dann ist wirklich so etwas wie eine innere Umkehr möglich. Eine Umkehr, durch die der Mensch erstmals seit Jahrhunderten diesen Innenraum wiederfindet und dessen Realität erkennt.

Die Geburt der Menschlichkeit

Aufgrund dieser inneren Umkehr wird dann denkbar, was heute undenkbar erscheint: Dass der Mensch sich fragt: Wie kann, ja wie muss eine Gesellschaft eingerichtet sein, wenn ich sehe, wie jeder Mensch diesen Innenraum hat, Seele hat, nicht nur ein von Leibesinstinkten getriebenes Raubtier ist, nicht ein egoistischer Autist ist, sondern ein Wesen, das lieben kann, das helfen kann, teilen kann, schenken kann, vertrauen kann...?

Wie muss eine Gesellschaft aussehen, in der dieser seelische Innenraum überhaupt eine Chance hat, sich zu entwickeln – und sich auch zu offenbaren? Nicht ist die Frage, wie kann eine Gesellschaft aussehen, in der wir darauf vertrauen, dass der Mensch „gut“ ist? Aber: Wie kann und muss eine Gesellschaft aussehen, in der der Mensch den größtmöglichen Raum bekommt, dieses Gute – was er immer schon in sich hat – zu entwickeln, stärker werden zu lassen und offenbaren zu können, zum Wohl aller? Wie muss eine solche Gesellschaft aussehen?

Und noch etwas anderes kann gehofft werden, wenn der Mensch dazu kommt, seine Seele wiederzuentdecken: Wenn dieses geschilderte Innenerlebnis wirklich etwas Reales wird – dann wird auch das Erleben der Gleichheit von Mensch zu Mensch wieder etwas Reales.

Wir dürfen uns doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch diese Grundlage unserer Demokratie zu einem vollkommenen Abstraktum verkommen ist. Auf dem Papier sind die Menschen vielleicht noch gleich – aber in der Realität doch nicht! Schon wenn auf dem Papier, das sich Abitur nennt, eine bestimmte Note steht, sind die Menschen nicht mehr gleich. Und noch viel früher! Schon wenn auf dem Gehaltsschein des einen Vaters eine 1.700 und auf dem des anderen Vaters eine 3.700 steht sind die Väter und auch die Kinder dieser Väter nicht mehr gleich – allein schon von den realen Lebenschancen gesehen!

Wenn der Mensch seine Seele entdeckt, wird er real erleben können, dass auch jeder andere Mensch ein solches seelisches Wesen ist – und dann wird die Zeit (wieder) kommen, wo Mensch und Mensch sich viel brüderlicher gegenüberstehen wird. Man wird nicht mehr empfinden, dass es „gerecht“ sei, wenn der eine Mensch so viel und der andere Mensch viel weniger „verdient“, das heißt bekommt.

Man wird empfinden, dass jeder Mensch so viel verdient und haben soll, wie er braucht, um sich und seine Lieben zu ernähren – und mit allen anderen Menschen würdig in dieser einen Gesellschaft zusammenzuleben. Man wird empfinden, dass die Arbeit eines Lehrers und einer Ärztin, die Arbeit eines Handwerkers, eines Behördenmitarbeiters, einer Rechtsanwältin, einer Altenpflegerin – dass alle diese Arbeiten für andere Menschen die gleiche Bedeutung haben. Und man wird mehr und mehr zu der inneren Sehnsucht kommen, dass es zwischen der „Bezahlung“ all dieser Tätigkeiten nicht so große Unterschiede geben möge, wie es sie heute gibt.

Die Wiederentdeckung der Realität der Seele wird den Menschen dazu führen, den anderen Menschen real wiederzufinden. Und dies wird unsere Gesellschaft grundlegend verändern. Erstmals seit Jahrzehnten (oder noch viel länger) wird sie menschlicher werden – und diese Umkehr wird keine Grenze haben, die Entwicklung wird weiter in Richtung Menschlichkeit gehen. Der Mensch wird sich selbst immer tiefer erkennen.

Dass heute „konservative“ und „erzkonservative“ (Schirrmacher über Moore) Vertreter der gehobenen Mittelschicht das hässliche Antlitz des Kapitalismus erkennen, ist der Anfang – ein unendlich wichtiger und bedeutsamer Anfang. Lassen wir die Erkenntnis, die die letzten Jahre langsam in uns aufdämmern lassen, immer stärker und stärker werden – um angesichts des selbst geschaffenen Monstrums tatsächlich uns als Menschen wahrhaft zu finden!