21.03.2013

Sahra Wagenknecht, Goethe und die Gretchenfrage

Wie weit reicht unser Mut in dem Kampf um das MENSCHLICHE?

Siehe auch: Marktwirtschaft ohne Kapitalismus und Sozialismus ohne Planwirtschaft. Im Gespräch mit – Sahra Wagenknecht (Wolfgang Schwarz, Das Blättchen, 18.3.2013).


Inhalt
Einleitung
Sahra Wagenknecht
Kultur und Menschentum – einst Begriffe für das Wesentliche
Die wertvollsten Eigenschaften als Anachronismus?
Das Schöne, das Hässliche – und der notwendige Mut
Auf dem Spiel stehende Menschheitszukunft
Rudolf Steiner
Die Frage nach dem Menschen – mit vollem Ernst gestellt
Erbitterte Vorurteile
Das Erkennen des Erkennens
Goethes „gemischter König“ und die heutige Katastrophe
Das Geheimnis der Ideale der Französischen Revolution
Der archimedische Punkt


Einleitung

In diesem Aufsatz möchte ich zeigen, was geschehen muss, damit die menschliche Sehnsucht nach einer menschlichen Welt zu einer vollen Wirklichkeit werden kann.

Es lebt diese Sehnsucht in vielen Menschen – und auch auf politischer Ebene ist ein tief menschliches Streben Einzelner zu erleben. Ich werde mich im Folgenden einmal mehr auf Sahra Wagenknecht beziehen. Doch was ich zeigen möchte, ist, dass selbst die besten Analysen und Forderungen an der Realität scheitern müssen, wenn ein bestimmter Schritt nicht gemacht wird – ein bestimmter Schritt in der Erkenntnis des Wesens des Menschen. Es muss der Mensch vollkommen Ernst machen mit der Erkenntnis seines wahren Wesens. Tut er diesen Schritt, so wird sich das Weitere mit Notwendigkeit ergeben, Schritt für Schritt, ganz von selbst aus dem heraus, was dann begonnen ist.

Sahra Wagenknecht

In einem langen Interview erläutert Sahra Wagenknecht ihre Analyse des heutigen Wirtschaftssystems und Ihre Vision einer menschlichen Gesellschaft. Dabei macht sie sehr deutlich, dass das heutige System entgegen der floskelhaften Schlagworte von „Demokratie“, „Freiheit“ und „sozialer Gerechtigkeit“ gerade das Gegenteil zur Wirklichkeit macht: Der heutige Kapitalismus ist undemokratisch, zutiefst ungerecht und macht die Menschen unfrei. Und schon Goethe habe – lange vor Marx – klar erkannt, was der heraufziehende Kapitalismus für die Kultur und das Menschentum bedeuten wird:

In der Tat – Goethe. Der war zweifelsohne einer der frühesten und zugleich ein höchst differenzierter Kritiker des – damals erst heraufziehenden – Kapitalismus, der zugleich dessen gewaltige produktiven Potenziale nicht verkannte. Ein Blick in den „Faust II“ zeigt das deutlich. Der Titelheld ist progressiv, wo er als Großunternehmer gesellschaftlichen Reichtum schafft, indem er Eigentum erwirbt und produktiv einsetzt – nämlich zur Urbarmachung von Land mittels Dampfkraft und moderner Technologie. Zugleich wird er darüber zum Barbaren, der über Leichen geht – im Stück hat er unter anderem die Ermordung von Philemon und Baucis zu verantworten –, weil sein Trieb zur Reichtumsvermehrung keine Grenze mehr kennt. Kapitalismus, das hat Goethe vor Marx erkannt, ist eben nie nur Tausch, nur Marktwirtschaft, sondern immer auch Raub: „Krieg, Handel und Piraterie“ sind für Goethe „dreieinig“ und „nicht zu trennen“.
Man geht meines Erachtens nicht zu weit, wenn man Goethe bescheinigt, dass er die existenzielle Bedrohung von Kultur, Zivilisation und Humanität, die mit einer durchkommerzialisierten Gesellschaft zwangsläufig einhergeht, geradezu prophetisch vorhergesehen hat. [...]
Besonders aktuell an Goethe finde ich, dass er nicht in eine zynisch-pessimistische Weltsicht auswich, sondern an dem Anspruch und der Zuversicht festhielt, dass der Mensch nicht auf Dauer eine Gesellschaft akzeptieren wird, die seine wertvollsten Eigenschaften – Mitgefühl, soziale Verantwortung, Liebesfähigkeit und Sehnsucht nach Würde und Schönheit – verkümmern lässt und seine unsympathischsten – Habgier, Egoismus und soziale Ignoranz – an die Spitze des gesellschaftlichen Wertekanons setzt. [...]


Die Alternative zum Kapitalismus, eine menschliche Gesellschaft, nennt sie „kreativen Sozialismus“:

Kreativer Sozialismus ist Marktwirtschaft, aber in einem sehr viel sozialeren Sinne, als es der gerühmte rheinische Kapitalismus je war, weil er sich in der elementarsten Frage, nämlich der nach dem Eigentum, nach der Verfügbarkeit über die wirtschaftlichen Ressourcen grundlegend vom Kapitalismus unterscheidet. Was diesen hauptsächlich kennzeichnet, ist ja nicht, dass es Märkte gibt. Die hebelt er mit seiner Tendenz zu immer größeren wirtschaftlichen Einheiten bis zu Oligopolen gegebenenfalls sogar aus, ohne seinen Charakter zu wandeln. Was ihn kennzeichnet, ist vielmehr das Privateigentum, ist der Sachverhalt, dass die wirtschaftlichen Ressourcen der Gesellschaft Spielball privater Renditeinteressen sind und nur einer kleinen Schicht der Bevölkerung dienen, nämlich den Eigentümern, die dabei nicht nur durch Ausbeutung, nämlich durch anderer Menschen Arbeit, reich und reicher werden, sondern zugleich über unglaubliche gesellschaftliche Macht verfügen. In dieser Frage muss eine nicht mehr kapitalistische Wirtschaftsordnung andere Strukturen aufweisen. In meinem Buch habe ich dabei im Übrigen recht ausführlich hergeleitet, dass es „Marktwirtschaft ohne Kapitalismus“ und „Sozialismus ohne Planwirtschaft“ tatsächlich geben kann. [...]
Ich bin dafür, existenzielle Bereiche der Wirtschaft, die für die Gesamtgesellschaft relevant sind beziehungsweise das Leben der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung ganz unmittelbar betreffen, „außer Eigentum“ zu setzen, also nicht einfach zu verstaatlichen beziehungsweise in öffentlich-rechtliches Eigentum zu überführen. [...] Zu diesen existenzielle Bereichen zähle ich neben der Grundversorgung (Wasser, Energie, Mobilität, Kommunikation, Bildung, Gesundheit, Mietwohnungen und kommunale Dienste) vor allem auch Banken und Versicherungen. Das sind die „etwa 100 bis 200 Unternehmen“. Die müssen verfassungsrechtlich so gestellt werden, dass Reprivatisierungen ein für alle Mal ausgeschlossen sind. Das meine ich mit „außer Eigentum setzen“. Für die ganz überwiegende Anzahl der Großunternehmen von Automobilkonzernen über Chemieunternehmen bis zu Handelsriesen ist das nicht notwendig; die könnten und sollten in Belegschaftseigentum überführt werden. [...] Ich stelle mir vielmehr eine Art Stiftungsmodell vor, in dem die Belegschaft die strategische Entscheidungsbefugnis hat. In solch einem Modell darf kein Gewinn an Dritte ausgeschüttet werden. Bei gutem Geschäftsergebnis steigen Löhne und Gehälter, und es kann investiert werden. Das wären dann aber auch die einzigen treibenden Motive für ein (kollektives) Gewinnstreben. [...]


Und in Bezug auf die Eigentumsfrage fügt sie hinzu:

Vergesellschaftungsfragen sind im Übrigen gesellschaftliche Machtfragen, und in dieser Hinsicht stehen die Verhältnisse bei uns derzeit auf eine höchst undemokratische Weise auf dem Kopf: Das System begünstigt völlig einseitig eine verschwindende Minderheit, und die Mehrheit zahlt dafür, dass diese Minderheit, die Reichen, vor Vermögensverlusten geschützt werden. Großinvestoren haben ihre Vermögen nicht erarbeitet, sondern ererbt oder zusammenspekuliert. [...] Ich würde im Hinblick auf diese Schicht daher auch gar nicht von Enteignung sprechen, wenn die Gesellschaft sich das zurückholt, was ihr eigentlich gehört.
Und was den verfassungsrechtlichen Aspekt anbetrifft, so gibt es durchaus ein historisches Vorbild in der Bundesrepublik. Das war die 1948 beschlossene sogenannte Lastenausgleichsabgabe, die Vermögende – zumindest auf dem Papier – zur Aufgabe von 50 Prozent ihres Vermögens verpflichtete und bei der im Nachhinein auch niemand auf die Idee kam, sie als grundgesetzwidrig einzustufen. [...]
Der moralische Makel liegt systembedingt grundsätzlich auf der Seite der Reichen: Das Betriebsvermögen von BMW geht doch nicht auf die Quandts oder Frau Klatten zurück sondern auf die Arbeit der Beschäftigten. Und in deren Hand gehört es auch.

Kultur und Menschentum – einst Begriffe für das Wesentliche

Sahra Wagenknecht ist diejenige Politikerin, die fast allen anderen Zeitgenossen in der klaren Erkenntnis und Analyse der Zusammenhänge weit voraus ist. Sie hat die Mechanismen des heutigen „Wirtschaftssystems“ und der in ihm wirkenden Machtfaktoren und Umverteilungsprozesse klar durchschaut – und wird nicht müde, dies immer wieder in klare, vollkommen verständliche Worte zu fassen. Zugleich erlebt man an ihr immer wieder eine absolute Authentizität, einen tiefen sozialen Impuls. Es ist nicht ein abstraktes Wollen einer gerechteren Welt – es ist ein unmittelbar menschliches, wirklich soziales Wollen.

Und darum gerade geht es – dass wir die Abstraktheit überwinden! Abstrakte Diskussionen über gute und schlechte Systeme, über mehr oder weniger Gerechtigkeit und so weiter. Wir müssen wegkommen, von den abstrakten Fragen wie: „Wieviel Sozialstaat brauchen wir?“ Wir müssen lernen, zu empfinden, warum solche Fragen abstrakt sind. Dafür müssen wir zu einem Erlebnis des wirklich Konkreten, der konkreten Wirklichkeit kommen.

Und hier ist es wunderbar, zu sehen, wie jemand wie Sahra Wagenknecht sieht und empfindet, was das Anliegen Goethes war. Diesem großen Menschen Goethe ging es überall um ... das Menschentum! Um eine Vertiefung des Menschlichen, um eine Erhöhung, eine Erweiterung des Menschlichen. Der Begriff „Kultur“ hatte für einen Menschen wie Goethe noch eine ungeheuerliche Bedeutung. Kultur – das war dasjenige, wozu sich der Mensch innerlich erheben konnte. Kultur war dasjenige, was eigentlich erst das Menschentum des Menschen ausmachte.

Wenn sich das wahrhaft Menschliche in einer Gesellschaft offenbart, dann bringen die Menschen aus ihrem Innersten Kultur hervor. Im Menschen ist es das Sich-Erheben-Können zum Geiste – zu dem Wahren, zu dem Schönen und zu dem Guten. Und außerhalb des Menschen sind es dann die Schöpfungen des Menschen, die seinem Sich-Erheben zum Wahren, Schönen und Guten entspringen, aus diesem hervorgehen. Kultur ist das, was Wirklichkeit wird – innere und äußere Wirklichkeit –, wenn sich der Mensch zum Geiste erhebt. Und man kann genauso gut sagen: zu seinem wahren Wesen.

Die wertvollsten Eigenschaften als Anachronismus?

Sahra Wagenknecht nennt als wertvollste Eigenschaften des Menschen: Mitgefühl, soziale Verantwortung, Liebesfähigkeit und Sehnsucht nach Würde und Schönheit. Das Problem ist, dass gerade dieses Wesentliche fast immer unausgesprochen bleibt und vorausgesetzt wird – wenn man nicht gar resigniert hat und die Hoffnung auf eine Offenbarung dieses Wesentlichen in der Gesellschaft schon ganz aufgegeben hat.

Dabei geht es den wahrhaftigen Menschen – zu denen Sahra Wagenknecht ganz sicher gehört – um nichts anderes als dieses. Um die Frage: Wie kann, wie muss eine Gesellschaft gestaltet sein, um diesem Wesentlichen des Menschen zu entsprechen und dessen Offenbarung zu ermöglichen.

Wie wird unsere Gesellschaft menschlich – das ist in diesem Zusammenhang die Frage: Welche Verhältnisse und Strukturen brauchen wir als Gesellschaft, damit sich Mitgefühl, soziale Verantwortung, Würde und Schönheit offenbaren (können)? Welche Verhältnisse und Strukturen wären selbst Ausdruck der Sehnsucht der menschlichen Seele nach Mitgefühl, Liebe, Würde, Schönheit...?

Unser „modernes“ Zusammenleben hat Formen angenommen, in denen es geradezu lächerlich erscheint, diese Fragen wieder aufzuwerfen – aber es sind die tiefsten, innersten menschlichen Fragen, es ist die eigentliche Sehnsucht der Seele. Die Gestalt, die unser „Zusammenleben“ zunehmend angenommen hat, entfernt den Menschen von sich selbst (und vom Anderen!), entfernt die menschliche Seele von ihrer wahren Sehnsucht. Die heutige Wirklichkeit und die in ihr machtvoll wirkenden Tendenzen, sind im Grunde nichts anderes als ein machtvolles Fortreißen des Menschen von seinem Wesen.

Warum erscheint es heute so lächerlich, Goethe zu zitieren und auf seine tiefe Anschauung vom Menschen hinzuweisen? Warum erscheint dies so anachronistisch? Merkt man denn nicht, dass man mit solchen Empfindungen sein eigenes Menschentum verleugnet und sich dessen eigentlich schämt? Merkt man nicht, dass die Anschauungen, die Impulse eines Goethe gerade heute, mehr denn je ... hochaktuell sind?

Aber damit sie ihre revolutionäre („Re-volution“ bedeutet wörtlich Umkehr, Umwendung – also hier: Besinnung auf das Verlorengehende!) Kraft entfalten können, müssen sie eben auch ausdrücklich in den Mittelpunkt gestellt werden!

Das Schöne, das Hässliche – und der notwendige Mut

Im Moment lassen wir uns doch immer noch treiben von dem Diskurs, den die heutige Realität einem aufzuzwingen scheint. Gerechtigkeit – ja! Aber wir dürfen dies nicht immer auf ökonomische Teilgefechte und -diskussionen beschränken. Im dem Trieb nach gerechten Löhnen, Gehältern, Einkommen, Vermögen wirkt doch immer noch der an das Materielle anknüpfende egoistische Trieb, der den Menschen dann wiederum immer von neuem an das Materielle fesselt. Doch woher kommt eigentlich diese Sehnsucht des Menschen nach Gerechtigkeit? Sie geht doch viel weiter als der Egoismus – sie entstammt doch einer viel höheren Sphäre! Sie steht doch in Beziehung zu dem anderen ... zu Mitgefühl, zu Verantwortungsgefühl. Und auch zu der menschlichen Sehnsucht nach Schönheit!

Die Sehnsucht nach dem moralisch Guten ist gerade die menschliche Schönheit ... im Sozialen. Und das, was Sahra Wagenknecht als das Gegenteil anführte, die „unsympathischsten Seiten“ des Menschen – Habgier, Egoismus und soziale Ignoranz –, das ist gerade das real Hässliche in der Sphäre des Sozialen, des menschlichen Zusammenlebens.

In diesem Sinne müssen die Dinge doch einmal in den Mittelpunkt gestellt werden! Wir müssen uns freimachen von dem Drang, die Alternativen im Einzelnen zu konzipieren, um immer bessere und bessere Argumente und Konzepte dem hässlichen Kapitalismus entgegenzustellen. Die stärkste Kraft zu seiner Überwindung werden wir erst entfalten, wenn wir auf das Eigentliche hinweisen!

Selbstverständlich erkennt man hinter der Forderung bzw. Idee des Belegschaftseigentums, hinter Mindestlohn oder einer Studie zur Machbarkeit der ökologischen Energiewende irgendetwas von diesem Eigentlichen – aber nur den allergeringsten Zipfel, während das wirkliche Eigentliche dahinter gerade wieder verschwindet!

Das Eigentliche ist der Mensch – und zwar die Rettung des wahren Menschentums des Menschen. Und solange wir dies ein wenig lächerlich finden oder nicht „überzeugend“ genug finden, solange haben wir noch nicht wirklich begriffen, um welche Entscheidung es heute eigentlich geht – und solange fehlt uns der durchgreifende Geistesmut, das eigentliche Wesen des Menschen wirklich Ernst zu nehmen ... und für dieses zu kämpfen! 

Die hässlichen Impulse haben unser gesamtes Zusammenleben längst in der Hand – ihre Logik bestimmt heute nahezu alles, auch den gesamten öffentlichen Diskurs. Alles, was nicht knallhart ökonomisch, analytisch und intellektuell argumentiert, wird nicht ernst genommen, wird lächerlich gemacht, als „rückwärtsgewandt“, „naiv“, „blauäugig“ oder „idealistisch“ bezeichnet.

Dass aber das Wesen des Menschen gerade ein idealistisches ist, das gälte es, wieder zu einer erlebbaren Erkenntnis zu machen! Die innere Sehnsucht des Menschen nach Mitgefühl, nach Verantwortung für den Anderen, nach Liebe und Schönheit kann niemals etwas Blauäugiges, Lächerliches sein – oder man müsste den Menschen selbst abschaffen!

Auf dem Spiel stehende Menschheitszukunft

Das Ideal des heutigen kalten, gefühllosen Kapitalismus ist eigentlich die Abschaffung des Menschen. Der Mensch soll sich in eine Rendite-Maschine verwandeln – das ist in seiner Konsequenz das Ideal des heutigen Kapitalismus! Auch dieses System hat also „Ideale“ – aber es sind Anti-Ideale, es sind reale Zerstörungskräfte, die alles Menschliche vernichten wollen und fortwährend auch so wirken! Tag für Tag geht dieses Menschliche in unserer Gesellschaft und in uns selbst, unseren Kindern verloren, schleichend, aber sehr konkret. Selbstverständlich leiden die Menschen auch daran, dies kann gar nicht anders sein. Aber wie oft erwächst aus diesem Leid nicht eine um so stärkere Kraft, sondern gerade Resignation, Anpassung, Zynismus, Egoismus (als Notwehr!), Gefühlskälte, Pragmatismus, Sinnensucht, Medienkonsum, Alkoholgenuss, Depression, Lethargie, Psychose, Suizidgedanken, Leere... Hier können die Vernichtungskräfte des Menschlichen überall unmittelbar beobachtet werden, wie sie am Werk sind!

Und dies muss man nicht abstrakt verstehen, analysieren und thematisieren, sondern konkret empfinden, in seiner unendlichen Dramatik. Menschheitszukunft steht hier auf dem Spiel! Wir sind als Menschheit dabei, unser eigentliches Menschentum zu verlieren – wirklich zu verlieren. Es geht nicht nur um eine „Entfremdung“, um ein „Vergessen“, es geht wirklich um ein Verlieren.

Und dieser ungeheure Kern der gesamten „sozialen Frage“ oder „gesellschaftlichen Frage“ muss als solcher aufgeworfen werden! Wir müssen wieder nach dem Wesen des Menschen fragen. Wir müssen wieder erkennen, dass es hier nicht um abgehobene philosophische Fragen und Diskussionen geht, sondern um das, was unmittelbar die heute notwendige, wichtigste Frage des Menschen ist!

Goethe, Schiller, Novalis – sie sind keine verstaubten Geister früherer Zeiten, die allenfalls noch als „kulturelles Erbe“ gelten können, das niemandem mehr etwas bedeutet, wenn man sich nicht gerade gezwungenermaßen im Deutschunterricht oder Germanistik-Studium damit beschäftigen muss. Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Schiller und Novalis (Friedrich von Hardenberg) waren leuchtende, strahlende Geister, denen es in all ihrem Tun um die Wahrheit des Menschen ging. Diese größten Geister der Neuzeit haben real um das Wesen des Menschen gerungen – sie haben dieses Wesen tief, tief erkannt, und sie haben für sich und die ganze Menschheit etwas er-rungen, erkämpft: ein Erkennen und ein Verwirklichen des höheren, eigentlichen Menschenwesens.

Dies ist die Aufgabe, vor der wir stehen – und heute hat diese Aufgabe eine ungeheure Tragik angenommen, denn sie wird so unendlich versäumt, ja verspottet und geradezu als solche vernichtet! Wenn wir heute nicht mit aller Kraft erfassen, was die tiefsten Impulse eines Goethe und seiner edelsten Zeitgenossen waren, wird eine Zeit kommen – und schon sehr bald –, wo wir zu diesem Erfassen überhaupt nicht mehr fähig sein werden. Der eigentliche Sinn für das Menschliche wird verlorengehen, bis in seine letzten Reste hinein...

Die Ökonomisierung aller Lebensbereiche, die Technisierung, die Bürokratisierung, die Anonymisierung, die Medialisierung – alles wirkt in diese Richtung. Das Wesen des Menschen wird immer mehr verhüllt, ja es liegt längst gleichsam unter meter-, kilometerdicken Schichten von Beton begraben, und der Mensch wird immer kleiner, machtloser, unbedeutender.

Es ist heute schon so weit gekommen, dass vernünftige, richtige, wahre, menschliche Gedanken überhaupt nicht mehr aufgenommen werden. Ein Kartell abstrakter, ängstlicher, kollektiv sich aneinander anpassender Medien hat nicht mehr den Mut, die eigentlichen Fragen zu stellen und der wirklichen Wahrheit das Wort zu leihen. Und das macht etwas mit den Menschen. Immer mehr setzt sich in den Köpfen etwas anderes fest, was nicht die Wahrheit ist, sondern ein Trugbild, eine Lüge, etwas Unmenschliches, etwas, das immer noch unmenschlicher wird...

Rudolf Steiner

Und hier muss man es als eine weitere unendliche Tragik bezeichnen, dass einer der allergrößten Geister der Neuzeit, Rudolf Steiner, so unfassbar stark totgeschwiegen und mit falschen Vorstellungen in Verbindung gebracht wurde. Man stelle sich vor: Ein Mensch, weitaus größer und schöpferischer als Goethe, als Schiller – und er ist nahezu unbekannt und noch dazu unter einem undurchdringlichen Dickicht von Lügen, falschen, hochmütigen und kleinmütigen Urteilen begraben!

Gerade bei Rudolf Steiner finden wir dieses durch und durch wesenhafte Menschliche, auf das es so unendlich ankommt! Und zugleich finden wir es in einer solchen erschütternden Konkretheit, dass überall der Weg von diesem Eigentlichen in die verschiedensten Fragen der äußeren Wirklichkeit gefunden wird! Mensch und Wirklichkeit sind hier vollkommen verbunden – der Mensch ist in seiner Wirklichkeit gefunden, und bis ins Einzelne hinein kann gesehen, erlebt, empfunden werden, wie auch die äußere Wirklichkeit menschlich werden kann, aber auch, welche Kräfte und Entwicklungsimpulse in ihr außerdem wirksam waren und sind.

Nehmen wir einmal nur den folgenden Absatz. In der Auseinandersetzung mit der damaligen sozialistischen Bewegung sagte er 1919 in einem Vortrag das Folgende, ganz auf das rein Menschliche gehend:

Brüderlichkeit und wahrer Sozialismus werden sich nur ausleben können, wenn auf der Grundlage einer wirklichen sozialen Menschenerziehung solche Menschen da sein können, welche an die Stelle der antisozialen Triebe die sozialen Triebe setzen, denn die äußeren Einrichtungen werden keinen Sozialismus machen. Gerade auf dem Gebiete des Wirtschaftslebens wird sich sehr bald zeigen, daß alle äußeren Einrichtungen keinen Sozialismus hervorbringen können, wenn nicht die Menschen, die in diesem Wirtschaftsleben drinnen stehen, dasjenige nach Vernunft und Brüderlichkeit zu ordnen verstehen, was bisher nach den abstrakten Prinzipien der Kapital- und Lohngewinnung, des Angebotes und der Nachfrage auf diesem Boden besorgt worden ist. [...] Körperschaften von sozial zusammenwirkenden Menschen werden es sein, welche dasjenige hervorbringen, was ich in meinem Buche „Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft“ als Ablösung des Kapitals gezeichnet habe.
Wenn wir sehen, wie das Kapital gewirkt hat, dann müssen wir uns vor allen Dingen darüber klar sein, daß dieses Kapital den Menschen loslöste von dem wirklichen sachlichen Interesse an der Produktion. Statt daß man sich hingab an das, was man hervorbringt, es so hervorbringt, daß man ihm die Gesinnung mitgibt: So, wie ich dich mache, dienst du den anderen Menschen, meinen Mitmenschen, die ich brüderlich betrachte –, anstatt dies den menschlichen Erzeugnissen mitzugeben, sieht man heute auf das, was man als den Verkaufspreis des Erzeugnisses ins Hauptbuch schreiben kann. In dieser Loslösung des Menschen vom Interesse am Menschenwert liegt der eigentliche Schaden des Kapital- und Lohnverhältnisses. [...]
Man kann in höchst einfacher Art den Schaden des radikalen Kapitalsystems ausdrücken. Gerechterweise wird im Grunde genommen jedes Kapital dadurch zustande gebracht, daß irgendeine geistige Arbeit etwas produziert, was den Mitmenschen dient, als Güterproduktion dient. Aber an die Stelle dieses Zusammenhanges der geistigen Kräfte des Menschen mit dem Kapital ist etwas anderes getreten, ist getreten der persönliche private Besitz an Grund und Boden, der persönliche private Besitz an den Produktionsmitteln. Niemals kann in einem wirklichen Rechtsstaat ein Recht bestehen auf Grund und Boden als Privatbesitz. Die Verteilung des Grundes und Bodens muß in der Demokratie erfolgen, und die Kapitalverwertung – so wie ich es in meinem Buche „Die Kernpunkte der sozialen Frage“ dargestellt habe – kann nur im richtigen Sinne geschehen, wenn das fertige Produktionsmittel nicht mehr verkäuflich ist, sondern freies Gut ist. Dann wird das, was heute dem Kapital gegeben ist, wieder zurückgegeben an die geistige Arbeit.

Das ist es, was wir anstreben müssen, was wir aber nur anstreben können, wenn wir verstehen werden, die Menschen auch so zu erziehen, daß sie mit freiem Geiste sich selber ihren Mitmenschen gegenüberzustellen wissen, daß sie sich, gleiches Recht, keine Vorrechte verlangend, in die Menschengemeinschaft hineinstellen, und daß sie für das Wirtschaftsleben, das sich nur richten soll nach Produktion und Konsumtion, Organisationen schaffen, die sich in freie Assoziationen, Körperschaften, Genossenschaften gliedern, die auf dem Prinzip wahrhafter Brüderlichkeit mit dem Verständnis für die Bedürfnisse des Konsums der Menschen aufgebaut sind. [...]
Nun kann man sagen: Du behauptest, die Dinge, die du aussprichst, seien praktisch, während es doch idealistische sind! Ja, wer heute nicht einsieht, daß das Idealistische praktisch werden muß, und daß wir gerade deshalb zu den heutigen Zuständen gekommen sind, weil wir immer nur geglaubt haben, das Praktische bestehe in der Routine des Zusammenseins mit den äußeren Einrichtungen, wer nicht einsieht, daß dieser Glaube trügerisch war und die Ideen heute das Praktische sind, der kann nicht wirklich teilnehmen an dem, was für den Neuaufbau unserer Menschheitsentwickelung notwendig ist. Wir leben in einer Zeit, wo der Idealismus – wenn man das so nennen will, was hier aus der Lebenspraxis vorgebracht wird – das Allerpraktischste ist.
18.6.1919, GA 330, S. 288ff.

Die Frage nach dem Menschen – mit vollem Ernst gestellt

Oder nehmen wir nur Steiners Vortrag „Was und wie soll sozialisiert werden?“ Und er hat unendlich vieles Weitere in dieser Richtung entwickelt! Seine ganze Schrift „Die Kernpunkte der sozialen Frage“, der sogenannte „Sozialökonomische Kurs“ und viele weitere Vorträge – immer hat Rudolf Steiner in klaren, ganz und gar menschlichen Gedanken auf das rein Menschliche geschaut.

Bis ins Detail hinein wurde so die Frage beantwortet: Wie würde das menschliche Zusammenleben sich gestalten, wenn wirklich das Menschliche darin wirksam werden würde? Frei von allem Begründungszwang, frei von aller Tendenz nach „umsetzbaren Konzepten“ oder „Rezepten“, frei von jedem falschen Übergewicht des Ökonomischen und der davon aufgezwungenen Logik – frei von allem Unwahren und Begrenzenden, vollkommen frei und wahr entfaltet sich die eigentliche Gestalt des Menschen und einer von Menschen menschlich gestalteten Gesellschaft...

Das ist nicht bloß moderner Mythos (im besten Sinne), das ist nicht nur ein leuchtendes Ideal, das ist reale Sozialwissenschaft des 21. Jahrhunderts – und für weitere Jahrhunderte in die Zukunft hinein! Die Sozialwissenschaft der Zukunft wird eine Wissenschaft sein, die sich von allen falschen Fragen befreien wird, um die wahre, ehrliche, reine Frage nach dem Menschen zu stellen – und aus einer wahren Erkenntnis des Menschenwesens zu erschütternd aufrichtigen Antworten zu kommen.

Nur muss man dazu den Mut haben, sich zu diesem wahren Wesen des Menschen zu bekennen! Man muss den Mut haben, vor den Antworten, die einem entgegenkommen, wenn man der Frage folgt, nicht zurückzuschrecken... Den man kommt mit der Frage nach dem Wesen des Menschen, nach dem Wesen seiner Sehnsucht nach Mitleid, Liebe, Schönheit, nach dem Wahren, Schönen und Guten, unweigerlich in die Realität des Nicht-Materiellen, Nicht-Leiblichen und damit Über-Sinnlichen hinein. Man begibt sich in eine Sphäre, in der das Seelische und das Geistige Realitäten sind. Und man kann entdecken, dass es hier nicht um „Glaubensinhalte“ geht, sondern um ebenso reale Realitäten, wie es die äußere Sinneswelt ist, die wir ja zweifellos als Realität ansehen.

Erbitterte Vorurteile

Doch aus eben diesem Grunde, weil Rudolf Steiner schonungslos und ohne jede Furcht auch von diesen Realitäten gesprochen hat – auch sie wiederum zutiefst differenziert beschreibend –, wird er so unendlich bekämpft, totgeschwiegen oder aber lächerlich gemacht. Von allen Seiten! Von den Kirchen, weil er von der Realität des Spirituellen spricht und an das Geheimnis rührt, das bisher durch die Riegel der „Macht“, des „Glaubens“ und der „Offenbarung“ versperrt war. Von anderer Seite, weil man gerade Angst vor dem scheinbar „Unüberprüfbaren“ hat, weil man fürchtet, auch hier wieder nur „glauben“ zu müssen, obwohl sich so unendlich viel immer mehr gegenseitig beleuchtet und man durchaus innerlich in sehr Vielem folgen könnte, wenn man nur wollte.

Und wieder Andere holen das ewig wirksame Argument hervor, Rudolf Steiners Anthroposophie beinhalte eine Art „Rassismus“, was einfach eine ungeheure Lüge ist. Wenn man allerdings leugnet, dass es in der Menschheitsentwicklung überhaupt Entwicklung gegeben hat, dass es Hochkulturen gab, die die Menschheitsentwicklung zu verschiedenen Zeiten impulsiert und befruchtet haben (Indien, Persien, Ägypten, Griechenland...), dann mag man bei dem bequemen Argument bleiben. Wenn man leugnet, dass auch heute die verschiedenen Völker durchaus eine verschiedene Kultur, ein verschiedenes Temperament, eine verschiedene „Seele“ haben, was man anschauen, empfinden und tiefer zu verstehen versuchen kann, ganz ohne Bewertung – wenn man dies ebenfalls leugnet, dann mag man bei dem lügenhaften, böswilligen Argument bleiben.

Rudolf Steiner hat durch seine Erkenntnisse und sein sich über rund drei Jahrzehnte erstreckendes Lebenswerk unendlich viel mehr vom Wesen des Menschen und seines sinnlich-übersinnlichen Zusammenhanges mit dem Weltganzen offenbart, als alle großen Geister vor ihm! Und diejenigen Menschen und Strömungen, denen es ein Anliegen ist, sein Lebenswerk totzuschweigen, zu verschleiern und mit Lügen zu bedecken, offenbaren ihren eigenen Impuls (oder aber zumindest ihr Nicht-Verstehen) damit nur allzu deutlich...

Das Erkennen des Erkennens

Es war auch Rudolf Steiner, der ein tiefes Verständnis für Goethe und seinen ganzen Erkenntnisansatz eröffnet hat. Nicht zuletzt deshalb ist Steiner zu seiner Zeit sogar zur Herausgabe von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften für die Kürschner- und die Sophien-Ausgabe berufen worden! Doch solange Goethe als „überholt“ oder nur als „Dichter-Denkmal“ gilt, wird die Entdeckung seines ganz mit der Wirklichkeit verbundenen Erkenntnisansatzes weiter auf sich warten lassen.

Rudolf Steiner aber hat das eigentliche Wesen dieses Erkenntnisansatzes offenbart – ausgearbeitet, deutlich gemacht und in aller Tiefe gezeigt, wie der Mensch durch ein Erfassen seiner eigenen Tätigkeit des Erkennens erst in die volle Wirklichkeit durchstößt. Er findet dadurch die eigentliche Wirklichkeit seines Wesens – und hier offenbart sich dann auch das eigentliche Wesen des Zusammenhanges zwischen Mensch und Welt.

Steiner hat hier Goethe weitergeführt, der sich über seinen eigene Erkenntnismethode nie Gedanken gemacht hat. Dieser Schritt ist aber notwendig, denn erst dadurch wird die Methode selbst erkannt – was aber zugleich eine tiefste Selbsterkenntnis des Menschen ist. Und in diesem Geschehen offenbart sich dann erst die ganze Beschränktheit und Fehlerhaftigkeit aller herkömmlicher Erkenntnis. Denn bis dahin wurde immer vom Menschen abstrahiert – das wahre Wesen des Menschen war bis dahin in der Erkenntnis nicht vollkommen anwesend. Der Mensch denkt zunächst mit einem abstrakten Intellekt – und dies ist nur eine bestimmte Form der Erkenntnis, die alles in die abstrakte Beschränktheit verbannt, so „lebendig“ und „normal“ der Mensch diese Erkenntnis und sich selbst in dieser Erkenntnisart auch empfinden mag. Der abgrundtiefe Unterschied wird erst deutlich, wenn man den Abgrund der Abstraktion in dem angedeuteten entscheidenden Erkenntnisschritt zu überspringen vermag.

Anthroposophie ist das, was sich nach diesem Sprung über den Abgrund als volle Wirklichkeit zu offenbaren beginnt – und zugleich dasjenige, was den Menschen an diesen Abgrund heranführen und ihm dessen Überwindung ermöglichen kann...

Goethes „gemischter König“ und die heutige Katastrophe

Goethe ist nicht nur ein „Kultur-Denkmal“, das man getrost verstauben lassen kann. Er ist einer jener großen Geister, die das umfassend Menschliche am tiefsten und umfassendsten gedacht haben – und auch in ihrem künstlerischen Schaffen offenbarten. Der „Faust“ etwa hat im Grunde ganz mit dem Drama des modernen, heutigen Menschen zu tun!

Goethes „Märchen“ von der grünen Schlange und der weißen Lilie hat mit seinem tiefen, „esoterischen“ Gehalt dem Menschen ebenfalls viel zu sagen. Ein Aspekt des Märchens ist der „gemischte König“. Dieser symbolisiert den Menschen, dessen Seelenkräfte vermischt bleiben und in ihrer Eigenart nicht klar erkannt werden: Denken und Vorstellung, Gefühl, Wille. Aber auch im Ganzen der Gesellschaft haben wir heute den „gemischten König“ – es ist unheilvoll vermischt, was in seiner Eigenart erkannt werden und sich entwickeln dürfen müsste.

Der „gemischte König“ im Großen ist das fortwährende unheilvolle Ineinandergreifen und Ineinanderfließen von Geistesleben, Staats- und Rechtssphäre und Wirtschaftssphäre. Auch hier war es wieder Rudolf Steiners revolutionäre Entdeckung, die wahre Natur dieser Dreiheit in ihrer ganzen, wunderbaren Klarheit aufzudecken.

Staat und Wirtschaft, Wirtschaft und Bildungswesen, Geistessphäre und Staat – überall und wechselseitig gibt es Vermischungen, die das Richtige in das Falsche, das Gute in das Schlechte, das Wahre in die Unwahrheit verwandeln. Jeder dieser drei Bereiche könnte sich in seiner Reinheit entfalten, doch die Vermischung führt zu einer fortwährenden Korrumpierung dieser drei Bereiche, in sich und auch gegenseitig.

Statt dass die Geistessphäre – unter anderem das Bildungs- und Forschungswesen – sich ganz frei entwickeln kann und der menschliche Geist ohne jede Beeinflussung zu wirklich freien, unvoreingenommenen Erkenntnissen und Gestaltungen kommen kann, wird das heutige Geistesleben beherrscht von Vorgaben, die von außen kommen: vom Staat, von der Wirtschaftssphäre. Und umgekehrt ist die Wirtschaftssphäre heute zutiefst korrumpiert und geradezu besessen von ganz bestimmten Anschauungen und Ideologien, die wiederum einem korrumpierten Geistesleben entsprechen. Das eigentliche Wesen der Wirtschaft – die gegenseitige Versorgung der Menschen mit dem, was sie brauchen –, ist in etwas vollkommen anderes pervertiert worden: In den Kampf aller gegen alle um „Marktanteile“, um Gewinn, Profit, Renditen, Zielmargen, Zielgruppen, Absatzmärkte...

Und auch der mittlere Bereich – der Bereich des zwischenmenschlichen Rechts – ist zutiefst von verzerrten Vorstellungen und Ideologien, Forderungen einer pervertierten Wirtschaft usw. korrumpiert. Auch in der Rechtssphäre geht es nicht um den Menschen. Die allerwichtigsten Fragen werden hier gar nicht mehr behandelt – sondern werden durch ganz andere Faktoren bestimmt. Was ist Menschenwürde? Was ist ein menschenwürdiger Lohn? Auf welche Arbeitszeiten wollen sich die Menschen miteinander demokratisch einigen? Was sollen die Besitzverhältnisse in einer menschlichen Gesellschaft sein? All das sind allergrundlegendste Rechtsfragen – und sie müssen in der Rechtssphäre aufgeworfen werden, und zwar vollkommen unbeeinflusst. Keinerlei Boten der Macht, des Kapitals und perfider Eigeninteressen dürfen hier mitsprechen, sondern nur der unmittelbare Beschluss der vollkommen gleichberechtigten Menschen – Demokratie! Wir haben heute einen „Rechtsstaat“, der den zentralsten Rechtsfragen gerade ausweicht!

Das Geheimnis der Ideale der Französischen Revolution

Rudolf Steiner hat in seiner Entdeckung, die sich dann als umfassende „Bewegung für soziale Dreigliederung“ entfaltete (und unter anderem von den Arbeitern tief begeistert aufgenommen wurde, bis die sozialistischen Führer sie aus ideologischer Beschränktheit bekämpften), den Gordischen Knoten der Französischen Revolution aufgelöst. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit! Wie sollen diese drei Ideale zusammenwirken – widersprechen sie sich nicht immer wieder gegenseitig?

Wenn man Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit unterschiedslos zusammendenkt und jeweils auf denselben Bereich „projiziert“, etwa das Wirtschaftsleben, kann man nur zu immer neuen Antinomien, unauflöslichen Widersprüchen kommen. Doch wie, wenn jedes dieser Ideale sein wahres Wesen in einer je eigenen Sphäre entfaltet?

Freiheit im Geistesleben! Nicht die Wirtschaft soll „frei“ sein – gegen den Menschen; nicht der eine Mensch soll „frei“ Willkür und damit Unrecht gegen den anderen walten lassen dürfen; sondern frei entfalten dürfen soll sich der menschliche Geist, das Streben nach Erkenntnis, das Streben auf dem Gebiet der Kunst, das Streben auf dem Gebiet der Religion. Freiheit im Geistesleben, Freiheit im Bildungswesen, volle Freiheit für den menschlichen Geist!

Und dann: Gleichheit im Rechtsleben! Volle Gleichheit zwischen Mensch und Mensch in allen Fragen, in denen der Mensch wirklich gleich ist! Die Fragen der Menschenwürde müssen als Rechtsfragen erkannt werden – und hier müssen demokratische Entscheidungen möglich werden. Menschenwürde der Arbeitsverhältnisse! Menschenwürde und Einkommensfrage! Das sind Fragen, in denen sich alle Menschen von gleich zu gleich gegenüberstehen und die nicht autoritär, obrigkeitsstaatlich, wissenschaftlich oder nach anderen Einflüssen zu lösen sind, sondern unmittelbar demokratisch. Volle Gleichheit der Menschen – Demokratie!

Und wenn der gemischte König so weit überwunden und auch geheilt worden sein wird, wird nach und nach auch das dritte möglich werden: Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben! Wirtschaft dient den Menschen – und in der modernen arbeitsteiligen Wirtschaft dient schon längst ein Mensch dem anderen, arbeitet jeder für jeden. Und wie leicht könnte dies auch zum bewussten Prinzip der Wirtschaftssphäre werden! Würde die künstliche, perverse Ideologie der Profitmaximierung als Selbstzweck wegfallen, könnte sofort das eigentliche Motiv des Wirtschaftslebens Platz greifen: Eine möglichst effektive, im guten Sinne ökonomische Versorgung der Menschen mit dem, was sie brauchen.

Dieser eigentliche Sinn des Wirtschaftslebens könnte ohne das pervertierte Motiv des Egoismus und des Konkurrenzkampfes – ja Krieges aller gegen alle – sofort Platz greifen, indem sich die einzelnen Akteure des Wirtschaftslebens miteinander vernetzen. Es könnte Absprachen geben – nicht im Sinne von Kartellen der Profitgierigen gegen die Schwächeren, sondern gerade im Sinne gemeinsam zu findender Anschauungen und Urteile über die beste, gerechteste Verteilung der Kosten und Gewinne im Verlauf der gesamten Wertschöpfungskette. Wieviel steht dem Produzenten zu, wieviel dem Händler, wieviel dem Endverkäufer, wieviel dem Konsumenten? Das muss kein Kampf und kein Gegeneinander, keine Machtfrage sein – es kann durch Fortfall der Ideologie sofort eine Frage werden, in der menschliche Vernunft und der gute Wille walten – der Wille, den anderen Menschen und seine Bedürfnisse ebenso zu verstehen wie die eigene momentane Sichtweise. Vernetzung und Suche nach gemeinsamen „sozialen Urteilen“ – Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben!

Der archimedische Punkt

Das ist der Punkt, der in voller Klarheit die Welt der Lügen, der Ideologien und der verkürzten Vorstellungen aus den Angeln heben kann: Das Erkennen des gemischten Königs und das Erkennen, wie die drei Ideale der Französischen Revolution in drei Gliedern des gesellschaftlichen Organismus erst ihr wahres Wesen entfalten!

Wie lange wollen und können wir den „gemischten König“ noch ertragen – der alles Menschliche verdeckt, verzerrt, an den Rand drängt und den vernichtenden Kräften aussetzt? Wie lange wollen wir es noch zulassen, das wahrhaft Menschliche nicht zu sehen und nicht mit vollem Bewusstsein zu ergreifen?

Wir alle sind dieser gemischte König – wir alle leben in der Gesellschaft, die der menschliche Geist sich geschaffen hat. Das heutige menschenverachtende Wirtschafts- und Gesellschaftssystem ist nur die konsequente Eskalation der bisher geltenden Anschauungen über den Menschen und die Gesellschaft. Wir müssen über den „Kapitalismus“, der eindeutig auf dem Egoismus beruht und diesen fortwährend fördert, hinauskommen – wir müssen den Blick mit vollstem moralischem Mut auf die wirkliche Frage nach dem Menschen richten. Dann werden wir zu den richtigen Erkenntnissen kommen.

Freiheit im Geistesstreben! Befreit sich der Mensch erst einmal von allen Denkfesseln und ideologischen Vorstellungsschranken, wird er zur Wirklichkeit durchdringen – und wird er wirkliche Erkenntnisse gewinnen. Und diese Erkenntnisse werden zugleich durch und durch moralisch sein, denn das Moralische selbst wird eine der tiefsten Erkenntnisse des Menschen werden. Die volle Realität des Moralischen, zutiefst individuell vom einzelnen Menschen gefunden und erlebt, wird zu einer Erkenntnis werden und alles andere Erkennen durchdringen, durchwärmen...

Dann wird die Erkenntnis erst wahrhaft menschlich werden – und dann wird auch das menschliche, gesellschaftliche Zusammenleben wahrhaft menschlich werden können. Das Menschliche wird zur Offenbarung kommen. Ecce homo! SIEHE, DER MENSCH!