2013
Von den Schwierigkeiten, sich über den Menschen und das Moralische Begriffe zu bilden
Eine Begegnung mit Hindernissen – und ein Versuch zur Lösung.
Inhalt
Einleitung
Meine Wahrheit, deine Unwahrheit?
Vorstellungen, Gedanken und Wahrheitsliebe
Was bedeutet Selbsterziehung?
Die Realität des Moralischen
Der moralische Aspekt der Selbsterziehung
Innere Entwicklung – ein „Muss“?
Was ist die Würde des Menschen?
Der Mensch – zwischen (Geworden-)Sein und Werden
Einleitung
Vor kurzem nahm ich an einer kleinen Tagung „Mensch und System“ der Freien Bildungsstiftung teil, auf der ich auch selbst einen Vortrag hielt.
Ich versuchte, in meinem Vortrag deutlich zu machen, dass wir in der heutigen Zeit den wirklichen Menschen in vielerlei Hinsicht sehr weitgehend verloren haben – in der Begegnung (sofern sie nicht gerade engste Freunde betrifft, aber vielleicht auch da), und im Weiteren auch in Bezug auf das Menschenbild an sich. Und ich machte deutlich, wie sehr es heute auf eine Selbsterziehung ankommt, um den Menschen wiederzufinden – viel tiefer, als es gewöhnlich der Fall ist. Dass man diesen Impuls aber erst dann fassen wollen und können wird, wenn ein vertieftes, erweitertes Menschenbild auch die Erkenntnis des Menschen und die Sehnsucht nach dem Menschen vertieft.
Ich wies auf die Grundpolarität der beiden im Menschen überall differenziert wirksamen Impulse hin: auf den selbst-bezogenen, im Extrem egoistischen Impuls und auf den auf den Anderen gerichteten Impuls, der im Idealfall zu wahrer Selbstlosigkeit im besten Sinne, zu reinster Liebe wird.
In dem anschließenden Gespräch ergab sich auch die Frage nach „Gut“ und „Böse“ und nach der Existenz von „Widersachermächten“, wesenhaften Kräften des Bösen, wie sie zum Beispiel in einem solchen Phänomen wie dem Nationalsozialismus tief erlebbar werden könnten.
Es zeigten sich in diesem Gespräch die ungeheuren Schwierigkeiten, die einer tieferen Annäherung an ein Verständnis des Rätsels „Mensch“ zunächst in sehr grundsätzlicher Form im Wege stehen.
Für mindestens einen Menschen war es überhaupt nicht deutlich geworden, was mit „Selbsterziehung“ eigentlich gemeint sei. Ein anderer fragte sich, was denn eigentlich mit „Entwicklung“ gemeint sei, warum man sich „entwickeln“ müsse, schon Kinder würden doch als volle Menschen geboren und hätten von Anfang an die volle Menschenwürde. Und was sollten Begriffe wie „Gut“ und „Böse“, von „Widersachermächten“ und so weiter, es wäre doch viel richtiger, z.B. von „destruktiven Impulsen“ zu sprechen.
An diesen Fragen und Tatsachen wird die ganze Schwierigkeit deutlich. Jeder kann Begriffe vom Menschen und vom Menschlichen haben – und doch kann eine Verständigung über das, was jeder als den „Begriff des Menschen“ erlebt, unendlich schwierig sein, ja von Uneinigkeit überschattet zu sein und sogar schnell in Diskussionen, wenn nicht gar Streit zu führen. Das muss und es sollte natürlich überhaupt nicht sein – aber die Schwierigkeit, zu gemeinsamen Begriffen zu kommen, ist zunächst sehr groß, und sie bleibt solange bestehen, bis man sie zu überwinden vermag ... und eine solche gemeinsame Begriffsbildung gelingt.
Im Folgenden möchte ich versuchen, diese Hindernisse aufzuarbeiten und aufzulösen.
Meine Wahrheit, deine Unwahrheit?
Die auftretenden Schwierigkeiten hängen alle miteinander zusammen – sie ermöglichen und steigern sich gegenseitig. Wenn das Knäuel an einem Punkt entwirrt werden kann, klären sich auch die anderen Fragen viel, viel einfacher. Das kann auch gar nicht anders sein, wenn es um wirkliche Begriffe geht, denn diese müssen in einem Zusammenhang miteinander stehen, sich gegenseitig ergänzen, auf diese Weise auch beleuchten. Dies ist das Wesen der Begriffswelt. Andernfalls wäre man bei undurchschauten, bloßen Vorstellungen. Diese können unverbunden nebeneinander stehen, sogar fortwährend miteinander kollidieren, sich widersprechen usw. – denn man hat es nicht mit Realitäten zu tun, nicht mit Wahrheiten, nicht mit dem Wesen der Dinge, sondern eben mit bloßen Vorstellungen, mit demjenigen, was sich jemand als „Bild von den Dingen“ macht. Das Ziel jeder Erkenntnis aber ist es doch, nicht bei den subjektiven Vorstellungen stehenzubleiben, sondern zu einer realen Erkenntnis, zum Wesen der Sache vorzudringen, ganz real, innerlich erlebt.
Natürlich liegt schon hier die erste Schwierigkeit. Man wird heute sehr oft schon damit gar nicht mehr verstanden, wenn man von „realen Wahrheiten“, von einem realen Erleben der Wahrheit spricht. Die einen leugnen die Existenz „realer“ oder „objektiver“ Wahrheit(en), weil es eben nur subjektive und relative Wahrheiten gebe, in zahlloser, individueller Variation. Die anderen wollen dies gar nicht unbedingt beurteilen, wehren sich aber dagegen, dass jemand eine solche „objektive“ Wahrheit erkannt haben könne, solange das bedeuten würde, anzuerkennen, dass die eigene Wahrheit weniger objektiv sei.
In unserer Gesellschaft steht jemand, der behauptet, eine Wahrheit erkannt zu haben, die der eigenen Wahrheit widerspricht – oder zu widersprechen scheint! – unter Generalverdacht, ein hochmütiger Fanatist zu sein. Darin macht sich ein tiefes Streben nach Gleichheit geltend. Meine Wahrheit ist so wahr wie deine Wahrheit! Und wenn jemand recht haben sollte, so bist du es mit deinem Gerede von der wahren Wahrheit garantiert nicht!
Dieses tiefe Streben nach, ja dieses tiefe innere Erleben von Gleichheit ist tief berechtigt – aber es äußert sich hier auf einem falschen Gebiet, es vermischt die Gebiete. Schon die Tatsache, dass man in Streit geraten kann, kann ein erster Hinweis sein. Solange man in Streit geraten muss, kann von Wahrheit keine Rede sein. Denn die Wahrheit selbst und die Liebe zur Wahrheit machen weise – der Weise aber ist fähig, nicht zu streiten, auf das Hinweisen und Beharren auf einer Wahrheit zu verzichten, selbst wenn ganz offensichtlich ist, dass dieser Wahrheit die größten Irrtümer gegenübergestellt wurden.
Was uns auf dem Gebiet der Erkenntnis, der Frage nach der Wahrheit, so unbarmherzig, so beharrlich, so eigensinnig und so empfindlich und verletzlich werden lässt, ist nicht unser Streben, unsere Sehnsucht nach, unser Erleben von Gleichheit, Gleichberechtigung, Gleichwertigkeit, sondern dieses wird überlagert von einem ganz anderen Impuls, der gerade eine Ungleichheit zur Erscheinung kommen lässt: Es geht um die Tatsache, dass jeder Mensch seine eigenen Gedanken und Vorstellungen zunächst für wahr hält – absolut und unerbittlich.
Wenn aber die eigenen Vorstellungen wahr sein sollen, dann müssen die Vorstellungen des Anderen, die den eigenen zu widersprechen scheinen, falsch sein. Und so kann man die Ungleichheit auf diesem Gebiet gar nicht vermeiden! Solange nicht beide Seiten vereinbar sind, solange bleiben Widersprüche, und dann gilt: Wenn der eine recht hat, kann der andere nicht recht haben. Wenn ich meine, recht zu haben, muss der Andere irren. Solange das so ist, ist die Ungleichheit doch offensichtlich? Der eine irrt, der andere nicht! Vielleicht irren auch beide – aber jeder auf andere Art. Dann hätte man eine gewisse Gleichheit...
Vorstellungen, Gedanken und Wahrheitsliebe
Die erste Erkenntnis, die notwendig ist, um hier weiterzukommen, ist die des Unterschiedes zwischen Vorstellungen und Gedanken.
Vorstellungen können absolut falsch sein und mit der Wirklichkeit nicht das Geringste zu tun haben. Ich kann mir vorstellen, dass es auf der Erde kleine grüne, schleimige Männchen gibt. Ich brauche dafür keinerlei Begründung als meine Vorstellung und meinen Glauben an diese. Sie muss mit keinem einzigen Teil der Wirklichkeit in irgendeinem Zusammenhang stehen. Es reicht, wenn ich irgendwann einmal davon geträumt habe, wenn ich als Kind einen bestimmten Film gesehen habe, wenn mir als Kind ein Nachbarsjunge davon erzählt hat oder wenn ich auf irgendeine andere Weise zu dieser Vorstellung gekommen bin bzw. diese sich in mir eingenistet hat.
Wirkliche Gedanken haben mit Denken zu tun. Es reicht nicht, sich einfach etwas vorzustellen, sondern es geht zumindest um ein Nachdenken. Gedanken aber haben mit anderen Gedanken zu tun. Die Gedankenwelt, die Begriffswelt, hat überall Querbezüge. Wir sprechen von einem inneren Zusammenhang der Gedanken, von Logik. In der Gedankenwelt ist Widerspruchsfreiheit des ganzen Gedankenzusammenhangs zum Beispiel eine Bedingung dafür, dass dieser ganze Zusammenhang wahr sein kann. Sobald Widersprüche auftreten, die wirkliche, nicht nur scheinbare, nicht nur vorübergehende, sondern wirkliche, unüberbrückbare Widersprüche sind, ist deutlich, dass es an mindestens einer Stelle einen Irrtum, einen falschen, einen unwahren Gedanken geben muss. Oder vielleicht ist das Ganze nur an einer Stelle wahr – und alles andere ist falsch... Unüberbrückbare Widersprüche zeigen jedenfalls Punkte an, an denen man ansetzen kann, um nach Irrtümern zu suchen.
Das Streben nach Gleichheit ist auf diesem Felde wirklich am falschen Platz. Denn solange es verschiedene Meinungen gibt – es kann ja an diesem Punkt noch längst nicht von „verschiedenen Wahrheiten“ die Rede sein, sondern es geht ja um Meinungen, nämlich um die Meinung, man hätte recht, man hätte die Wahrheit –, gibt es ja keine Gleichheit! Es sei denn, man würde zugeben, dass der Andere ebenso stark recht hätte, wie man selbst, aber das will und kann man ja in der Regel nicht!
Aber es ist auch ganz sinnlos, in eine falsche Harmonie zu verfallen – selbst wenn man dazu in der Lage wäre! –, denn was wäre gewonnen, wenn der eine behauptet, „zwei plus zwei ist vier“, und der andere behauptet, „zwei plus zwei ist fünf“ – und jeder anerkennt, dass der andere auch recht habe?
Nun, an einem solchen Beispiel wird die Problematik und ihre mögliche Lösung sehr deutlich. Aber die Schwierigkeit ist eben, dass bei anderen als derart klaren, durchschaubaren, mathematischen Wahrheitsfragen jeder meint, auf der Seite des „zwei plus zwei ist vier“ zu stehen, dass also auch derjenige, der sagt „zwei plus zwei ist fünf“ recht zu haben meint. Dies ist so, weil die übrigen Wahrheiten nicht so klar, leicht und eindeutig zu durchschauen sind – sondern man sich um diese vielmehr sehr streiten kann. Sie mögen von dem einen durchschaut sein, aber der andere meint dies ebenso, und er wehrt sich verbissen gegen jede Behauptung einer durchschauten Wahrheit, wenn diese seiner eigenen widerspricht...
Solange dies so ist, kann man der Wahrheit nicht näher kommen. Dies wird erst möglich werden, wenn man anerkennt, dass man selbst der Wahrheit weniger nahe sein könnte als der Andere. Prinzipiell anerkennt dies jeder – aber in jedem Einzelfall verweigert man es doch wiederum bis zum Letzten... Erst wenn man die Wahrheit, die der andere vielleicht erkannt hat, endlich selbst auch anerkennen muss (!), weil man seinen Irrtum letztlich durchschaut und eingesehen hat, ist man bereit, anzuerkennen, dass der andere die Wahrheit tatsächlich erkannt hatte – und man ihm Unrecht tat, dies abzustreiten...
Solange man aber immer wieder diese Haltung hat, kann man der Wahrheit immer nur sehr schwer näher kommen. Für die Wahrheit kommt es überhaupt nicht darauf an, ob ich oder der Andere sie erkannt hat, ja, ob irgendjemand sie erkannt hat. Sie kann sich überhaupt nicht danach richten, wer sie erkannt hat! Die Wahrheit wird niemals sagen: „Ja, du hast auch recht, zwei plus zwei ist auch fünf...“ Sondern die Wahrheit ist unbestechlich, sie ist, wie sie ist. Es spielt keine Rolle, wie sehr man streitet, wie sehr man selbst recht haben will. Entweder, man hat recht oder nicht. Entweder ein Gedanke ist wahr, oder er ist es nicht. Entweder man steht in seinem Gedanken in Übereinstimmung mit der Wahrheit, mit der Wirklichkeit, oder man tut es nicht. Das ist es, womit man sich anfreunden muss, wenn man ein Freund der Wahrheit werden will.
Um die Wahrheit objektiv erkennen zu können, muss man die Wahrheit lieben lernen – die Wahrheit, die (wahre!) Erkenntnis der Wahrheit, muss einem wichtiger werden als das Rechthaben, das Schon-Erkannthaben(-Wollen) der Wahrheit. Es muss einem um die Wahrheit gehen, nicht um den eigenen Erfolg und das eigene Erreichthaben.
Wenn man die Wahrheit so liebt, dann kann man hunderttausend Irrtümer zugeben, dann kann man hunderttausendmal zugeben, dass der Andere recht hatte, selbstverständlich, und sogar jedes Mal dankbar sein, durch ihn wiederum eine Wahrheit gefunden zu haben. Aber wenn man selbst eine Wahrheit gefunden hat, dann weiß man es sicher. Denn man hat sie erkannt, und man weiß und erlebt, was man erkannt hat. Diese Sicherheit wird aber nur möglich, wenn das Erkennen ganz rein und ganz real gemacht wird. Dafür muss man sich von aller Eigenliebe und allem Egoismus im Erkennen befreien. Das Erkennen muss vollkommen selbstlos werden, selbstlose Liebe für die Wahrheit – dann kann sichere Erkenntnis möglich werden. Auch sichere Erkenntnis, dass ein Anderer eine Wahrheit erkannt hat – dies macht dann überhaupt keinen Unterschied mehr.
Erkenntnis ist Erkenntnis, Wahrheit ist Wahrheit. Man selbst kann sich zur Wahrheit erheben oder auch nicht. Es spielt überhaupt keine Rolle, ob man es nach einem anderen und sogar nur dank eines anderen tut... Die Wahrheit ist unbestechlich und scheint wie die Sonne für jeden, und nur um sie geht es. Wer die Wahrheit (wirklich) liebt, findet das Glück nur da, wo er sich wirklich zu ihr erhoben hat. Er wird nicht meinen wollen, es schon getan zu haben, wenn es noch nicht so ist.
Was bedeutet Selbsterziehung?
Was ist nun Selbsterziehung? Diese innere Selbst-Erziehung zur reinen Wahrheitsliebe ist schon eine Form von Selbsterziehung! Selbst-Erziehung ist alles, was eine bewusste, innere Entwicklung bedeutet. Im weiteren Sinne natürlich überhaupt jede bewusste Entwicklung, auch eine äußere Ausbildung, insofern man selbst diese Entwicklung lenkt und in die Hand nimmt. Doch im engeren Sinne geht es um die mehr innere, seelische Entwicklung – um die bewusste Entwicklung, „Erziehung“, Verwandlung, Läuterung, Vervollkommnung seiner seelisch-geistigen Kräfte und Fähigkeiten. Es geht um eine Entwicklung und Verwandlung des Denkens, des Fühlens und des Wollens.
Auch das Kleinste auf diesem Gebiet ist Selbsterziehung. Wenn ich eine Gewohnheit ändere, ist dies Selbsterziehung. Wenn ich mir eine Fähigkeit erringe, ist dies Selbsterziehung. Wenn ich mir bewusst erringe, Dinge anzuschauen, ist dies Selbsterziehung – und auch dies ist die Erringung einer neuen Fähigkeit, einer (vielleicht allmählichen) Änderung einer Gewohnheit.
Hinzu kommt nun die moralische Bedeutung dieses Tuns. Man kann all diese Dinge nur für sich tun. Ja, man kann sich sogar Gewohnheiten und Fähigkeiten aneignen, die ganz explizit nur einem selbst dienen sollen, ja, vielleicht sogar ausdrücklich unmoralisch und böse sind. Man kann sich zum Beispiel ganz bewusst die Fähigkeit anerziehen, sein Gewissen auszuschalten, kein Mitleid mehr zu empfinden, keine Bedenken bei diesem oder jenem mehr zu haben und so weiter. Auch das wäre Selbsterziehung – aber eine solche, die einem schwarzen Pfad, einem Betreten des Bereiches der Schwarzen Magie entsprechen würde...
Im eigentlichen Sinne jedoch bedeutet Selbsterziehung das Gegenteil. Sie bedeutet eine Entwicklung des wahrhaft Menschlichen, eine Steigerung des Menschentums, eine Vervollkommung, ein immer weitergehendes Entwickeln des Voll-Menschlichen.
Auch hier regen sich wieder ganz ähnliche Bedenken und Widerstände wie in Bezug auf die Wahrheit. Und wir werden diese Widerstände auch in einer ähnlichen Weise überwinden müssen.
So, wie man erst einmal grundsätzlich erkennen kann, dass es Wahrheit gibt und dass man sie erkennen kann oder aber auch recht weit von ihr entfernt sein kann, so kann man auch anerkennen, dass es menschliche Schwächen gibt – und dass wir ja alle täglich umfassend und vielfältig mit solchen Schwächen konfrontiert sind, in uns selbst und auch bei anderen Menschen. Auch hier ist es wiederum so, dass man dabei unmittelbar in die vollkommene Ungleichheit geht: Die Schwächen des anderen nimmt man in der Regel unendlich stark wahr, die eigenen Schwächen würde man am liebsten ganz übersehen... So, wie man auf dem Gebiet der Erkenntnis immer gerne glaubt, man selbst habe die Wahrheit, so glaubt man auf dem Gebiet der menschlichen Schwächen, man selbst habe die Vollkommenheit. Und so, wie einem die Gedanken des anderen unmittelbar als „Unwahrheit“ ins Auge springen, so springen einem die Schwächen bzw. bei einem Streit die „Schuld“ des anderen unmittelbar ins Auge...
Das erste Gebiet hat mit dem Denken zu tun, das zweite vor allem mit dem Handeln, dem Verhalten, dem Tun, in dem sich der Wille des Menschen auslebt. Selbstverständlich gehen die Dinge ineinander über, denn auch das Abstreiten, dass der andere recht hat, ist ein Tun – und auch alles Denken ist ein Tun. Und die Selbsterziehung kann sich auf alles erstrecken, was man bewusst in der Hand hat oder bewusst in die Hand bekommen kann. Man kann auch ein Gefühl „tun“, indem man zum Beispiel danach strebt, es zu empfinden, es zu vertiefen – oder auch, es gerade nicht zu empfinden... Selbsterziehung kann überall da ansetzen, wo der Wille des Menschen wirksam werden kann. Selbsterziehung ist letztlich immer Erziehung des Willens – und dieser Wille kann im Handeln, im Fühlen und im Denken wirken und erzogen, gestärkt, verwandelt, geläutert werden.
Wer möchte nun bestreiten, dass der Mensch einer inneren Entwicklung fähig ist? Und dass es unendlich viele Bereiche gibt, in denen eine innere Selbsterziehung möglich ist? Die Bereiche sind so unendlich, wie die menschlichen Schwächen und die menschlichen Fähigkeiten!
Die Realität des Moralischen
Und diese Selbsterziehung enthält unmittelbar einen moralischen Aspekt. Warum? Allein schon deshalb, weil Menschsein vom Moralischen überhaupt nicht zu trennen ist. Und hier liegt wiederum eine Schwierigkeit – nämlich die Schwierigkeit, den Begriff des Moralischen rein, gleichsam „ohne das Moralische“ zu fassen. Mit anderen Worten: Wie kann Moral gedacht werden, ohne zu moralisieren?
Es ist eine ähnliche Frage wie die andere: Wie kann Wahrheit gedacht werden, ohne zu missionieren? Und wir haben gesehen, dass es selbstverständlich die Wahrheit gibt – ob man sie erkennt oder nicht. Man muss gar nicht mit der Wahrheit „hausieren gehen“, Erkennen muss die Wahrheit jeder selbst, in voller Freiheit – Erkenntnis kann nur eine freie Tat sein. Selbst wenn es möglich wäre, jemanden gewaltsam dazu zu bringen, eine Wahrheit einzusehen, ist die Einsicht, die Erkenntnis, ein inneres Geschehen, auf das man keinen Einfluss hat – und natürlich wird man der Wahrheit keinerlei Dienst erwiesen haben, wenn ein Mensch ihre Erkenntnis auf einen Zwang zurückführen muss...
So, wie es die Wahrheit gibt, so gibt es auch das Moralische – ob man es will oder nicht. Von Paul Watzlawick stammt das Wort „Man kann nicht nicht kommunizieren“. Und so muss man sagen: „Man kann nicht nicht handeln.“ Selbst ein Nicht-Handeln ist eine Tatsache, hat eine Bedeutung, hat Folgen, hat Wirkungen. Und so gilt auch: „Man kann sich nicht außerhalb der Moral stellen.“ Alles, was man tut oder auch nicht tut, hat fortwährend eine moralische Bedeutung – und das bedeutet nichts anderes als: Konsequenzen im Weltganzen.
Ganz losgelöst von individuellen Moralbegriffen ist es zunächst eine Tatsache, dass jede Handlung Wirkungen hat – und dass sie immer alledem gegenübersteht, was in demselben Moment stattdessen hätte getan werden können. Und hier tritt das Phänomen, die Realität des Moralischen gleichsam in die Wirklichkeit ein. Hier kommt dasjenige ins Spiel, was man zu umschreiben versucht mit Fragen wie: „Was wäre besser gewesen?“ „War dies gut, oder war es nicht (so) gut?“ Es geht hier noch überhaupt nicht um subjektive und individuell beurteilende Begriffe von „gut“ und „schlecht“ bzw. vielleicht sogar „böse“. Sondern es geht um die vollkommen objektive Frage: War dies gut? Für wen auch immer: Für den Anderen, für das Ganze – oder vielleicht auch: für mich. Das ist die Frage!
Und unabhängig davon, ob man eine objektive Antwort auf solche Fragen für möglich hält oder nicht, lassen sich diese Fragen stellen – und in diesen Fragen liegt die moralische Frage. Man mag also eine objektive Antwort zunächst für unmöglich halten, Tatsache ist, dass die Fragen sich stellen, „von allein“. Jede Handlung hat Wirkungen (und auch ausbleibende Wirkungen) – und all dies hat moralische Bedeutung, weil in den Handlungen und ihren Wirkungen das Moralische bereits untrennbar enthalten ist, ob man es will und mag oder nicht.
Im uneindeutigsten Fall hat eine Handlung vielleicht scheinbar überhaupt keine moralische Komponente – vielleicht gerade, weil es eine Nicht-Handlung zu sein scheint. Man kann sich zum Beispiel entschließen, eines Sonntags einfach im Bett liegen zu bleiben und nichts zu tun. Dies scheint weder gut noch schlecht zu sein. Vielleicht ist es für einen selbst gut und genau das Richtige. Aber selbst das ist wieder ein Moralisches – es ist gut für einen! Dann ist es auch gut, zumindest in dieser Hinsicht. Aber vielleicht hätte man gerade an diesem Tag etwas tun können, was für einen anderen Menschen unendlich gut gewesen wäre – auch das ist dann eine Realität. Es ist nicht geschehen... Aber vielleicht ist das Liegenbleiben zunächst weder gut noch schlecht, weder für einen selbst noch für einen anderen. Warum tut man es dann? Aber selbst wenn es zunächst so wäre: Dann ist selbst dieses „weder – noch“ ein Moralisches, denn es ist ein „weder – noch“, auch das ist etwas... Es ist erst einmal ein Nichts-Tun, auch das ist etwas...
Diese Überlegungen können zu einem Gefühl führen, wie sehr das Moralische immer anwesend ist, wie es eine Realität ist, der man nicht einfach dadurch entkommen kann, dass man sie nicht zur Kenntnis nimmt.
Der moralische Aspekt der Selbsterziehung
Es geht gar nicht darum, dass jemand anderes beurteilt, wie moralisch das eigene Verhalten ist, sondern allein um die Erkenntnis, dass jedes einzelne Verhalten einen moralischen Aspekt hat. Jedes einzelne Tun, jedes Unterlassen, jede menschliche Schwäche, jede Handlung der Selbsterziehung. Man kann zum Beispiel Selbsterziehung nur für sich betreiben – dann ist dieses innere Tun für einen selbst „gut“. Wenn man es „nur für sich“ tut, hat aber auch dies einen moralischen Aspekt – man kann ihm nicht entgehen, auch wenn niemand anderer ihn bewertet!
Umgekehrt aber wird das, was man „für sich tut“, nahezu immer auch Auswirkungen auf das Weltganze haben. Selbst, wenn sich ein Mensch durch innere Schulung „nur“ ein klareres Denken aneignet – wird dies mit Sicherheit wohltuende Folgen auch auf seine ganze Umgebung haben, denn man kann nicht „nur für sich“ denken. Das Denken hat immer Wirkungen auf das Fühlen und Tun und dieses hat Wirkungen auf die ganze Umgebung. Wenn man das, was man sich erringt, also nicht ganz bewusst in vollem Egoismus auch im Fühlen und Handeln nur für sich nützlich macht, wird auch die innerste Selbsterziehung etwas Gutes für die ganze Umgebung haben – auch dann, wenn der Mensch dies zunächst gar nicht mit beabsichtigt hatte!
Hier wird doch wirklich offenbar, dass jede Einseitigkeit des Urteils und der Betrachtung aufhört – ganz abgesehen davon, dass es wie gesagt überhaupt nicht um individuelle Urteile individueller Menschen geht, sondern um die objektive Tatsache der Realität des Weltganzen, in dem jeder Mensch drinnensteht, in jeder Sekunde.
Nun kann man als Mensch diese objektive Realität des Moralischen auch sehr bewusst ergreifen wollen – und hier beginnt eine neue Realität der Selbsterziehung. Da, wo der Mensch den Entschluss fasst, zum Beispiel eine Schwäche zu verwandeln, weil er erkannt hat, dass er damit seiner Umwelt immer wieder Unrecht tut, so nimmt er das Moralische ganz bewusst und unmittelbar mit in seinen Willen auf. An diesem Punkt ringt er um eine Selbsterziehung, weil er sich bewusst und willentlich fähiger machen will, gut zu handeln, das Gute in sein Handeln aufzunehmen, in seinen Taten zu verstärken.
Das ist Vervollkommnung in unmittelbar moralischem Sinne: Vervollkommnung zum Guten, zum Wohle anderer, der Umwelt, des Weltganzen.
Selbstverständlich dient diese Vervollkommnung auch dem einzelnen Menschen selbst – diese beiden Aspekte sind gar nicht zu trennen. Der Mensch, der sich in Richtung auf den Anderen, seine Mitwelt hin, vervollkommnen will, vervollkommnet immer sich selbst – und so sind Selbstlosigkeit und innere Selbst-Entwicklung gar nicht zu trennen.
Hier findet dann auch der „Egoismus“ seine Erfüllung und seine volle Erlösung, denn hier hört aller Widerspruch zwischen Egoismus und Selbstlosigkeit auf. Da, wo man eine innere Entwicklung in die Hand nimmt, die man selbst will, weil man sich selbst vervollkommnen will, um ein besserer Mensch zu werden, ein moralischer Mensch, ein Mensch, der mehr als zuvor das Gute in seinen Willen aufnehmen kann, konkret, da fällt aller Widerspruch zwischen Ich und Welt, der sich auf anderen Gebieten so oft geltend macht, in sich zusammen.
Aber auch umgekehrt: Selbst wenn man zunächst nur sich selbst vervollkommnen will – die Vervollkommnung wird, wenn sie wirklich die menschlichen Fähigkeiten zur Entwicklung bringt, ohne dass sich zugleich der Egoismus verstärkt, von selbst eine immer tiefere Tendenz zur Welt hin im eigenen Willen erwecken. Denn der Mensch, der seine Entwicklung in die Hand nimmt, wird immer mehr Mensch. Das wahrhaft Menschliche aber ist die Verbindung von Ich und Welt. Jede Vervollkommnung, und sei sie zunächst scheinbar noch so einsam selbstbezogen, bringt den Menschen seinem wahren Wesen näher – damit aber auch der Harmonie zwischen seiner Individualität und dem übrigen Weltganzen...
Innere Entwicklung – ein „Muss“?
Wenn man diese Realitäten empfindet und sich darüber besinnt, so kann man doch unmittelbar erleben, dass der Mensch sich entwickeln kann und „warum er sich entwickeln sollte“? Dann kann man die Frage: „Warum soll/muss sich der Mensch denn entwickeln?“ selbst beantworten. Er soll/muss es nicht – es liegt bei ihm. Wenn er sich mehr als bisher fähig machen will, zum Weltganzen Gutes beizutragen, wird er sich innerlich entwickeln müssen – aber er wird es dann auch wollen. Es gibt also in diesem Sinne überhaupt kein „müssen“ – es gibt nur ein Wollen oder ein Nicht-Wollen, oder aber verschiedene Richtungen und Grade des Wollens. Was jeder will, das muss er selbst wissen – und versuchen.
Wenn man also auf die Notwendigkeit der Selbsterziehung hinweist, ist damit immer nur gesagt: Wenn man sich tiefere Seelenfähigkeiten als die gewöhnlichen erringen will – was unmittelbare Folgen auf das Denken, Fühlen und Wollen, den ganzen Zusammenhang des Menschen mit der übrigen Welt hat –, so muss man sich diese Seelenfähigkeiten innerlich erarbeiten. Es ist eigentlich eine halbe Tautologie, eine Selbstverständlichkeit. Eigentlich geht es nur um die Erkenntnis, dass diese gewöhnlichen Seelenfähigkeiten vertieft werden können – und dass damit sich auch alles andere vertieft. Ob man dies will, liegt in der freien Entscheidung jedes einzelnen Menschen.
Es gibt hier natürlich noch eine mehrfache Schwierigkeit, insbesondere die Abneigung, sich von anderen Menschen auf moralische Tatsachen hinweisen zu lassen. Der Grund hierfür liegt vor allem darin, dass man in einem solchen Hinweis, dann zugleich auch ein „Du sollst“ mithört – ob es nun implizit tatsächlich ausgesprochen wurde oder nicht. Hier spielt die unmittelbare Abneigung gegen die Selbsterziehung an sich mit. Hätte man diese Abneigung nicht, gäbe es keinerlei Problem, zu hören, dass Selbsterziehung für bestimmte Ziele unumgänglich ist. Dies wäre zugleich ja ureigene, klare Erkenntnis. Warum sollte es ein Problem sein, diese Wahrheit aus dem Munde eines anderen erklingen zu hören?
Diese Abneigung gegen die Selbsterziehung steckt in uns allen – selbst wenn man längst eine intensive Selbsterziehung begonnen hat. Denn dass Selbsterziehung überhaupt nötig ist, zeigt ja bereits, dass der Mensch Widerstände in sich selbst zu überwinden hat! Einer der größten Widerstände aber ist die Abneigung gegen die Selbsterziehung an sich. Oftmals ist jeder Schritt der Selbsterziehung außerordentlich schwer – und zwar nicht nur, weil unsere Schwächen so stark in uns verwurzelt sind, sondern auch, weil der Wille, sie wirklich zu überwinden, oft so ungeheuer schwer aufgebracht wird. Wäre dieser Wille in voller Größe und Vollmacht anwesend, so wäre die Überwindung aller Schwächen so leicht, wie Berge zu versetzen... Dieser mangelnde, weniger starke und kräftige Wille ist aber gerade die Folge dessen, dass unser Wille immer schon teilweise gelähmt ist durch den Nicht-Willen zur Selbsterziehung, der den vorhandenen Willen aufhebt, ihn schwächer macht...
Dies sind die zwei Seelen, die jeder Mensch fortwährend in seiner Brust hat, ohne Ausnahme. Die Frage ist immer nur die nach dem jeweiligen Kräfteverhältnis dieser beiden...
Nun kann eine Abneigung gegen Worte über die Selbsterziehung natürlich auch daraus entspringen, dass der Sprechende wirklich implizit ein „Du sollst“ mitklingen lässt. Doch angesichts der zuvor geschilderten Tatsachen ist es sehr wahrscheinlich, dass man so etwas auch dann schon mitzuhören meint, wenn es gar nicht ausgesprochen wurde. Es könnte zum Beispiel sein, dass man sich nur deshalb „von niemandem etwas sagen lassen will“, weil ein Wort über die Selbsterziehung eigentlich das eigene tiefere Gewissen erweckt, der Nicht-Wille jedoch diese Stimme sofort unterdrückt und sich dann, nach außen projiziert, als Abneigung gegen das angeblich „Moralisierende“ geltend macht.
Was nun die innere Wirklichkeit der Beteiligten ist, wird der eine vom anderen nicht von außen beurteilen können. Dies kann man nur in voller Wahrhaftigkeit selbst (insbesondere bei sich) erkennen. Doch noch einmal sei es angedeutet, dass man gerade dann, wenn man selbst auf dem Weg der inneren Selbsterziehung wandelt, einerseits seine eigenen Widerstände immer besser erkennen und bearbeiten lernt – und andererseits auch immer mehr Verständnis für den Mitmenschen gewinnt, selbst wenn er einmal aus einem noch sehr abstrakten und missionarischen Eifer heraus ein „Du sollst“ mitklingen lassen würde. Ein solcher innerlich übender Mensch könnte innerlich mit warmer Güte lächeln und (ebenso innerlich!) sagen: „Ich tue bereits...“. Er hätte es nicht nötig, nun ebenfalls mit einem „Du sollst“ zu reagieren und dem anderen vorzuhalten: „Du sollst nicht moralisieren“...
Diese Gedanken sollen Anregungen sein, die eigene Selbsterkenntnis immer weiter zu vertiefen – wenn man es möchte und wenn es noch notwendig sein sollte, denn vielleicht weiß und verwirklicht man auch dies alles schon...
Was ist die Würde des Menschen?
Es gibt nun noch die Frage der Menschenwürde. Sie stand im Zusammenhang mit der Frage: Warum muss man sich entwickeln? Ist nicht schon ein Kind ein „voller Mensch“ und hat nicht jeder Mensch die volle Menschenwürde?
Im Grunde lassen sich diese Fragen aus allem zuvor Entwickelten sehr weitgehend unmittelbar beantworten.
Man „muss“ sich nicht entwickeln – doch jeder Mensch kann erleben, wie ungeheuer vielfältig die Möglichkeiten sind, sich immer mehr zu vervollkommnen, sich zum wahrhaft Menschlichen zu entwickeln.
Was ist nun das „wahrhaft Menschliche“? Wir brauchen gegen diese Frage überhaupt keine Abneigung zu haben – diese Abneigung kommt letztlich immer nur aus unserem eigenen Unwillen und Widerstand gegen die Selbsterziehung und aus der Erkenntnis, dass wir noch nicht vollkommen sind. Dies beides können wir nur sehr selten völlig gleichmütig und voll anerkennend ertragen: Dass wir einen Unwillen gegenüber der Selbsterziehung haben, und zu erkennen, wie unvollkommen wir sind.
Aber es kommt noch etwas hinzu: Wir wollen das wahrhaft Menschliche in Freiheit erkennen und erringen. Und dazu gehört auch, dass wir uns eigentlich nicht „sagen lassen“ wollen, was das „wahrhaft Menschliche“ sei. Denn im tiefsten Inneren wissen wir es sehr gut. Wir alle kennen es. Und wir alle kennen auch unsere Schwächen, Versäumnisse und Widerstände in dieser Richtung. Alles Sprechen vom „wahrhaft Menschlichen“ konfrontiert uns aber auch wiederum damit – und das macht es so schwierig.
Womit ein Mensch keine Probleme hat, ist, wenn ein anderer Mensch durch ein Sprechen vom wahrhaft Menschlichen für dieses begeistert – wenn dieses Sprechen auch in einem selbst den besten Willen aufruft, erweckt, befeuert.
Andererseits liegen die Widerstände auch in uns. Es kann jemand noch so begeisternd und freilassend sprechen – es kann doch immer wieder Menschen geben, die auch dann noch ein „Du sollst“ hören. Und es gibt andere Menschen, die sich selbst daran, dass jemand mehr die „Notwendigkeit“ der Selbsterziehung betont, begeistern können oder die diesem Menschen zumindest voller Interesse zuhören können, ohne dass sich in ihnen Widerstand regt...
Letztlich geht es doch nicht um die Frage, ob jemand „freilassend genug“ gesprochen hat. Es geht immer um uns selbst, auch in diesem Fall. Konnten wir einem Menschen zuhören oder nicht? Konnten wir ihn freilassend sprechen lassen oder nicht? Konnten wir hören und empfinden, was er eigentlich sagen wollte, haben wir dies gehört oder nicht? Wenn wir diese Fragen nicht uneingeschränkt mit Ja beantworten können, bleibt noch genug für unsere eigene Selbsterziehung und Vertiefung unserer Menschlichkeit...
Schauen wir nun auf die Menschenwürde. Was ist die unantastbare Würde des Menschen? Diese liegt bereits darin, dass er ein „heiliges“ Wesen ist, eine einzigartige Individualität, allein schon darin liegt die Würde des Menschen. Und darin, dass dieses jeweils einzigartige Wesen der Entwicklung fähig ist – ob es diese dann ergreift oder nicht!
Denn natürlich ist auch die Frage der Individualität nicht so einfach. Man kann sich schon einmal tief befragen: Wo genau sind wir wahrhaft individuell? Individualität ist auch etwas, was sich entwickelt und was errungen werden muss, was sich immer weiter verstärken und vertiefen kann... Man sollte nichts einfach selbstverständlich hinnehmen, sonst werden die Wahrheiten abstrakt, nicht eine Wirklichkeit, sondern ein Glaube, vielleicht ein bloßes „Gefühl“. Auch ein solches ist natürlich sehr wesentlich, aber hier sollte die Erkenntnis einsetzen – denn sonst kann es sein, dass man um seiner eigenen Vorstellungen willen, die tiefere Wahrheit gerade ablehnt, weil man sie nicht zu erfassen vermag...
Der Mensch – zwischen (Geworden-)Sein und Werden
Man gerät in den Irrtum, wenn man meint, „Menschenwürde“ und „Entwicklung“ würden sich widersprechen. Dann bewegt sich das Denken noch nicht in der Wirklichkeit. Das Gegenteil ist richtig: Beides ist eine volle Realität, aber durch den Begriff Entwicklung gewinnt der Begriff der Menschenwürde erst seine wahre Erfüllung! Die größte Würde des Menschen liegt darin, dass er ein Wesen ist, das sich entwickeln kann und darf! Wäre es von Anfang an fertig, so wäre es ein Automat, ein fertiges Geschöpf, Freiheit gäbe es nicht.
Dass der Mensch sich selbst weiter entwickeln kann, ist sozusagen die Mitte oder auch die Krone seiner Menschenwürde. Es macht ihn zum Schöpfer seiner eigenen vollen Wirklichkeit. Und das ist seine wahre Würde – dass er zur Freiheit bestimmt ist.
In diesem „Widerspruch“ liegt das Geheimnis der Menschenwürde. Der Mensch ist dazu bestimmt, nicht fertig bestimmt zu sein, sich entwickeln zu können.
Und darum sind Sein und Werden kein Widerspruch, darum hat jeder Mensch einerseits unbezweifelbar und immer die unantastbare Menschenwürde – und zugleich kann er sie absolut individuell wahrmachen, ist auch dazu berufen. Ein Kind muss nicht erst heranwachsen, um „Mensch“ zu sein – es ist von Anfang an Mensch, wie wir alle. Wir alle sind fortwährend auf dem Weg, Mensch zu werden, immer mehr. Wir sind es – aber wir gehen der Vervollkommnung entgegen, unserer eigenen Vervollkommnung, jeder in seinem Tempo, jeder auf seine Weise, jeder seiner eigenen Vervollkommnung...
Wir sind Mensch – und wir werden Mensch. Wenn man dieses Geheimnis real erleben kann, dann erlebt man das Geheimnis des Menschen.
Alles, was man als (moralische) Ideale empfinden kann, alles wonach man Sehnsucht hat, was man in sein Wesen aufnehmen möchte, ist etwas, was einem als höhere Wirklichkeit des Menschen voranleuchtet. Es ist das, was den wahren Menschen ausmacht – und welches Wunder, dass die Sehnsucht danach in uns lebt und den Willen in uns erweckt, uns so zu entwickeln, dass wir einst dieses Ideale auch als Wirklichkeit wahrmachen können! Diese Sehnsucht, dieser keimhafte Wille, zeigt uns doch unmittelbar unsere innerste Verwandtschaft damit? Wir gehen unserem höheren Wesen entgegen, dieses kommt aus der Zukunft auf uns zu, wir gehören mit ihm zusammen...
Das ist das doppelte Geheimnis: das desjenigen Menschen, der wir geworden sind, bis jetzt, aus der Vergangenheit kommend – und das desjenigen Menschen, der wir in gewisser Weise auch bereits sind, weil wir dieser Mensch werden wollen, weil die Sehnsucht danach bereits als „Unterpfand“ in unserer Seele lebt und uns zu ihm zieht; weil er selbst, dieser zukünftige Mensch uns in Gestalt dieser Sehnsucht zu sich zieht – und wir auch dies im Grunde selbst sind, obwohl der „Vergangenheitsmensch“, der wir bis jetzt geworden sind, es erst werden möchte...
Es mag sein, dass jemand keine Ideale zu haben scheint, keinerlei Impuls, in irgendeiner Weise „ein Anderer“ zu werden, sich zu entwickeln, sich zu vervollkommnen. Das kann sein – dann wäre ein solcher Mensch fertig, seine Entwicklung wäre fertig. Er könnte sterben, wenn er wollte, oder auch weiterleben, aber in jedem Fall wäre er fertig. Das mag scheinbar vorkommen, sogar vielfach in unserer Welt – aber es ist nur Schein. Wenn es Wirklichkeit wäre, wäre es eine unendlich traurige Wirklichkeit. Denn ein Mensch, der sich nicht mehr entwickelt, ist in Wirklichkeit kein Mensch mehr.
Viele Entwicklungen verlaufen im Verborgenen, viele Lebenserfahrungen und Erlebnisse reifen im Verborgenen. Und selbst Menschen, die sich scheinbar fast nicht entwickeln können, weil sie zum Beispiel eine schwere Behinderung haben, können sich dieses Schicksal gewählt haben, weil sie gerade in dieser Lage der Schwerbehinderung und der absoluten Ohnmacht in diesem Erdenleben wesentliche Erfahrungen machen können, die sie machen wollen.
Was der innerste Wesenskern des Menschen für Erfahrungen machen will und was für Früchte auch schlimmste Erfahrungen hervorbringen werden, das lässt sich von außen nicht beurteilen. Auch für unser eigenes Leben wissen wir oft nicht, was der Sinn bestimmter Schicksalswege ist, die wir uns bereits vor unserer Verkörperung auf Erden gesucht haben. Im Rückblick eines gelebten Lebens aber können wir oft vieles, sehr vieles erkennen und verstehen. Im Rückblick zeigt sich die Weisheit unseres höheren, wahren Ich, das uns im gewöhnlichen Leben so oft so unendlich unbewusst ist.
Rudolf Steiners Anthroposophie beschreibt Wege, die der Mensch beschreiten kann, um dieses gewöhnliche Ich und jenes höhere Ich immer mehr zu verbinden – und damit auch den Vergangenheits- und den Zukunftsmenschen. Doch dies gehört nicht mehr in den Rahmen dieses Aufsatzes. Vielleicht kann sich durch alles Vorangegangene zumindest die Ahnung von diesen Realitäten vertiefen.
Es geht nie darum, dass ein Mensch einen anderen über die richtigen Wahrheiten belehrt. Sondern es geht darum, dass wir alle uns gegenseitig dabei helfen, gemeinsam die Wahrheit des Menschen immer tiefer zu erkennen und individuell wahrzumachen.
Zu dieser Wahrheit kann dann auch gehören, dass der Mensch in diesem ganzen, wunderbaren, oft auch schrecklichen, immer aber großen Entwicklungsdrama nicht „allein“ ist, sondern dass er in Wirklichkeit von noch anderem Wesenhaftem umgeben ist, was ihn einerseits an seiner Entwicklung hindern will und was ihm andererseits in seiner Entwicklung helfen will – also eine reale geistige Welt, die an diesem ganzen, großen Geschehen Anteil hat –, aber auch dies kann und soll nicht mehr Gegenstand dieses Aufsatzes sein.