30.11.2013

Die Kategorien des Aristoteles

Buchbesprechung: Mieke Mosmuller: Die Kategorien des Aristoteles. Buchstaben des Weltenwortes. Occident 2013 (371 S., 45€). | Bestellen.


Die Kategorien des Aristoteles – das ist scheinbar etwas sehr weit Entferntes, das für unsere Zeit nicht wesentlich erscheint. Doch so, wie Rudolf Steiner die Anthroposophie als die heutige Sprache des Christus bezeichnete, so sagte er auch einmal, dass die ganze Anthroposophie in denjenigen Buchstaben gelesen wurde, die die Kategorien des Aristoteles sind. Für jeden Menschen, der wirklich eine Sehnsucht nach dem Geist hat, ist dies ein ungeheurer Hinweis, der ein Streben danach erwecken kann, das Verständnis dieser „Kategorien“ und ihrer Bedeutung immer tiefer zu erfassen.

Mieke Mosmuller hat nun ein umfangreiches Buch veröffentlicht, dass die Frucht einer zwanzigjährigen inneren Arbeit mit den Kategorien ist. Der erste Teil gibt den ausgearbeiteten Inhalt von Vorträgen, die sie schon in den Jahren 1994 bis 1999 hielt, der zweite Teil gibt eine meditative Vertiefung dieser Grundlegung, wie die Autorin sie seit 2011 auch in Seminaren in Rotterdam und Hamburg entwickelte.

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Der heutige Mensch erlebt eine völlige Trennung zwischen Wahrnehmung und Denken – er weiß nicht mehr, welche Bedeutung das Denken für das Erkennen der Wirklichkeit hat; er erlebt das Denken nicht mehr als eine Realität. Dieser Bruch beginnt schon mit Aristoteles. Plato findet die göttliche Ur-Idee auch noch in den Wahrnehmungen. Aristoteles findet das Göttliche nur noch im reinen Denken (des Denkens); in den Wahrnehmungen erlebt er nur noch zehn Grund-Begriffe, die Kategorien. Erst in unserer Zeit konnte dann Rudolf Steiner auf das eigentliche Wesen dieser heute ganz abstrakt gewordenen „Kategorien“ hinweisen:

"Rudolf Steiner beschreibt dann schließlich, wie die Begriffskategorien die im Denken lebenden Schatten des göttlichen Lichts sind; wie der Mensch im Denken nach dieser Lichtquelle suchen darf, die den Schatten wirft, und wie er dann in dieser leuchtenden Kraft, die das Denken eigentlich ist, die im Bewusstsein aber in Abschattungen als die Begriffe lebt, die erste Gestalt findet, in der Christus selbst als Wesen im Menschen zur Erscheinung kommt.
Geben wir uns nicht mit dem Schatten zufrieden, den Er in unserem abstrakten Denken wirft, sondern suchen wir das Licht, das im Abendlande aufgeht, das heißt dort, wo das äußere Sonnenlicht untergeht, das Geistlicht jedoch aufgeht!" (S. 45f)


An späterer Stelle fügt Mieke Mosmuller hinzu:

"Es gibt nur eine Art und Weise, zu beweisen, dass die Kategorien wirklich Schlüssel sind, und diese ist: sie kennenzulernen und dann gewahr zu werden und zu erkennen: Wenn man eine Kategorie erlebt, dann steht man an dem Tor zwischen sinnlicher und geistiger Welt und hat dieses Tor tatsächlich schon geöffnet, auch wenn es so scheinen kann, als liege dahinter eine Leere." (S. 101)


Wie wichtig für das gesamte Weltbild die Frage unserer Denkkategorien ist, zeigt schon die Kategorie der Substanz, des Seienden (ousia). Ist ein Wesen die Summe seiner Eigenschaften? Wo ist das Wesen, wenn die Eigenschaften fehlen? Ein Verstorbener ist kein Träger sinnlicher Eigenschaften mehr. Existiert er dann nicht mehr? Oder ist sein Wesen noch immer existent?

Der umfangreiche erste Teil des Buches von Mieke Mosmuller gibt einen Weg, mit den lebendigen Kategorien des Denkens allmählich wirklich etwas Reales zu verbinden – unendlich viel mehr als nur eine abstrakte Aufzählung scheinbar trivialer Grundbegriffe.

Substanz, Raum und Zeit, Qualität und Quantität, Relation, Position, Tun und Leiden, Haben, Wesen und Erscheinung gewinnen im sich vertiefenden Denken selbst innere Substanz...

"Wenn wir uns wirklich – in meditativem Sinne – besinnen könnten, während wir die Kategorien in unserem Denken einsetzen und wahrnehmen, dann würden wir einen Augenblick lang das Glück und die Gnade schmecken, die einem geschenkt wird, wenn man tatsächlich innerlich erlebt, wie sich das Tor zum Weltenwort öffnet. In einem solchen Augenblick berührt man das wirkliche Leben, wie es sich in den Begriffen ausdrückt. Leben, wie wir es im Frühling im unbändigen Wachsen und Blühen der Pflanzenwelt sehen. Da sehen wir nur äußerlich, nun ‚fühlen’ wir mit unserem inneren Sehen das eigentliche Leben, das Leben." (S. 133)


Das Einleben in die Kategorien vertieft nicht nur jede einzelne von ihnen, sondern umkreist zugleich das Geheimnis der Dreizehnten Kategorie. Die Kategorien leben in unserem Erkennen – doch was ist das Erkennen selbst? Was geschieht, wenn das Erkennen sein Licht auf sich selbst richtet? Diesem Mysterium der Dreizehnten Kategorie nähert sich Mieke Mosmuller in einem eigenen Abschnitt zwischen dem ersten und dem zweiten Teil des Buches.

"Man muss sich sehr bewusst sein, dass man keine Technik anwendet, sondern dass man sich in das große Mysterium einlebt. [...] Selbst wenn man die Verstandesinhalte losgelassen hat, bleibt die Wirkung des Verstandes, die ich ‚die irdische Methode’ nannte, noch immer wirksam. Man kann sich konzentrieren und meditieren und dies dennoch weiter mit dem Verstand tun – damit ist das Allerheiligste profan. [...]
Der Unterschied liegt im Wecken, im Zur-Erscheinung-Bringen der dreizehnten Kategorie. Das ist Anthroposophie. [...]
Erst hier [...] ist man frei von seinem Leib, seiner Biografie, von sich selbst. Dank der dreizehnten Kategorie kann jeder Bewusstseinsinhalt aus dem Profanen befreit werden, auch die Selbsterkenntnis. [...]
Die dreizehnte Kategorie ist der Befreier, doch alle Kräfte, die an die Erde binden wollen, geraten heftig in Aufruhr gegen sie.
Das Sich-Erheben zu der Dreizehnten Kategorie ist keine Technik, sondern ein Erneuern der Mysterien." (S. 221f)


Was Mieke Mosmuller weitergehend über das Wesen des höheren, übersinnlichen Erlebens schreibt, ist zu tiefgehend, um es hier einfach zitieren zu können, denn auch dies wäre eine Profanisierung. Es muss in seinem gesamten Zusammenhang und mit echter Besinnung gelesen und empfunden werden...

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Der zweite Teil ihres Werkes gibt dann eine meditative Vertiefung der Kategorien, nachdem der erste Teil das Denken bereits beweglich, auf einer ersten Stufe lebendig gemacht hat. Schon in diesem ersten Teil hatte die Autorin die Bedeutung dieser Vertiefung mit folgenden Worten beschrieben:

"Schon immer hat der Mensch, der Gott sucht, gewusst, dass der Verstand dabei das große Hindernis ist. Der Verstand setzt uns auf Abstand von den Dingen und uns selbst, er ernüchtert, entzaubert, abstrahiert, analysiert, kombiniert. [...] Man weiß nicht, wie schlimm dies ist, bis man nach langem innerem Arbeiten einen Zipfel des Verstandesschleiers zu heben beginnt. Darunter, dahinter, liegt die göttliche Welt in all ihrer Glorie. Der Verstand erträgt diese Glorie nicht, wir müssen also versuchen, unseren Verstand zu verlieren – aber es kommt darauf an, wie wir danach streben.
In diesem Buch weben wir in der Intelligenz, wodurch wir unseren Verstand kennen lernen und ihn vergessen lernen. Wir lernen das Weben in den reinsten, an die Wahrnehmung grenzenden Begriffen. Aus diesem Weben schöpft der Verstand den Inhalt, aber er wirkt darin nicht selbst." (S. 150f)


Wie Mieke Mosmuller die einzelnen Kategorien dann im zweiten Teil weiter vertieft, kann hier nicht geschildert werden – auch dies wäre alles nur abstrakte, entzauberte Wiedergabe.

Worum es aber geht, ist, dass der Mensch auf dem Wege des Sich-Einlebens in die Kategorien in das Mysterium der Form vordringt, der Form des Denkens. Dadurch wird diese Form beweglich, in der Meditation gewinnt sie Kraft und schließlich kann sie angeschaut werden.

Dieses Bewusstwerden der Form ist die dreizehnte Kategorie – und die Geburt des höheren Menschen. Was dies bedeutet, dem nähert sich Mieke Mosmuller in ihrem Werk von verschiedenster Seite an. In anderer Form hat sie es in „Der Heilige Gral“ beschrieben.

Eine Ahnung von der Vertiefung der einzelnen Kategorien als Buchstaben des Weltenwortes geben die folgenden Sätze aus Mieke Mosmullers Werk, die andeuten, wie nach allem zuvor Geschriebenen die Kategorie der Quantität zu einem umfassenden geistigen Erleben werden kann:

"Nun stehen wir vor der individuellen meditativen Aufgabe, dieses bewusste Erleben in einen ‚Buchstaben’, in eine umfassende Bedeutung umzuwandeln, in die alles Vorhergehende als Erleben eingeflossen ist und in der einer der acht, zehn, zwölf Weltgedanken, die uns in die Nähe Michaels bringen, konkreter ‚Buchstabe’ geworden ist. Das Wort ‚Quantität’ verstummt, die Bedeutung wird als Gefühl, als Erlebnis, als lebendiger Begriff ‚hörbar’.
Alle vorangegangenen Überlegungen ruhen in der Erinnerung, die Besinnung auf die Totheit alles Wissens macht die erlebte Erinnerung lebendig. Man denkt nicht mehr selbst, man schaut, was entstanden ist. Tief bis in den Willen hinein fühlt man dieses Schauen, in dem die Erinnerung lebendig wurde und in dem man jetzt ‚denkt’, als in einem tiefen Grund des Geistes. Da leuchtet das eigene Denken, das ruht, als Licht auf und erleuchtet, was im Willen als Erinnerung liegt: Quantität.
Schauerlich ist dieser Weltgedanke, es durchzieht einen das Leben selbst, wie es in der Zahl lebt – im Vermögen zur Unterscheidung, eine fast hörbar gewordene Sphärenharmonie..." (S. 274)


„Die Kategorien des Aristoteles“ von Mieke Mosmuller sind ein umfassendes Übungsbuch. Es weist den Weg zur Verwirklichung der Anthroposophie, zur Geburt des höheren, geistigen Menschen, zum Parzivals-Geheimnis...

"Und so kommen wir zur ‚Substanz’ zurück: Das eigene Ich wird zum Gral, in dem das Christus-Ich aufgenommen werden kann, in den es hineinfließen, einströmen kann und den es erleuchten kann. [...] Dies ist das Mysterium des Grals, das Mysterium der Substanz, das eigentliche Wesen der Transsubstantiation." (S. 371)