13.12.2013

Der gute Wille

Eine Besinnung in der Adventszeit.


Mit dem Folgenden möchte ich versuchen, dem Geheimnis und Wesen des guten Willens näherzukommen – gemeinsam mit dem Leser, der auf diesem Wege mitgeführt werden wird, soweit er mitkommen mag...

Das Erste, was wir uns bewusst machen können, ist, dass der Mensch eine Sehnsucht nach dem Guten hat. Diese muss nicht immer bewusst sein, ist es vielleicht sogar meistens nicht, und dennoch existiert diese Sehnsucht, lebt sie verborgen in der Seele eines jeden Menschen. Woran kann man sie erkennen? Sie offenbart sich unter anderem darin, dass ein Mensch innerlich berührt wird, wenn er einen Menschen erlebt, an dem er etwas von einem reinen Herzen wahrnimmt. Auch eine einzelne selbstlose, liebevolle Tat berührt uns, rührt uns an, ist eine reale Berührung unserer eigenen Seele...

Wer kann von sich sagen, dass er ein reines Herz hätte? Und doch, auf der anderen Seite: Wer von uns müsste von sich sagen, dass er von dem Erleben einer reinen Seele nicht tief angerührt würde?

Auch die Fähigkeit, berührt zu werden, sich berühren zu lassen, ist etwas, was immer mehr verloren gehen kann oder aber immer mehr vertieft werden kann. Es gehört schon zu jenem Teil der Seele hinzu, der „rein“ werden kann ... und auch rein werden will. Und man kann, wenn man spürt, wie wenig man (nur noch, bzw. erst) empfinden kann, ein schlechtes Gewissen haben – gerade weil in der Seele jene Sehnsucht lebt, und jenes Wissen, dass es diese Reinheit gibt und was sie bedeutet...

In voller Klarheit, wirklich in Urbildern, tritt uns diese Reinheit in Märchen entgegen. Viele Menschen haben diese längst vergessen oder können sie nur belächeln, weil es eben nur „Märchen“ sind. Doch man kann dahin kommen, zu erkennen, dass diese „Märchen“ großartige Bilder für Wirklichkeiten sind, für reale seelische und geistige Geschehnisse, die mit dem Wesen des Menschen zu tun haben. Zum Wesen des Menschen gehört auch das, was noch nicht offenbar geworden ist, sondern sich erst verwirklichen will, aber dennoch schon keimhaft in ihm lebt.

In den Märchen kann jeder Mensch Bilder und Darstellungen von dem uneingeschränkt Guten erleben. Hier sind sie wirklich zu finden, die Menschen mit einem guten, reinen Herzen – beiderlei Geschlechts, jeden Alters, aus allen Schichten. Hauptfigur solcher Märchen ist oft ein junges Mädchen, manchmal noch Kind, manchmal im Alter der Jugend, manchmal schon erwachsen, immer aber Mädchen, im Stande völliger Unschuld und Reinheit des Herzens. Und wie tief können uns diese Bilder rühren, wenn wir uns auf sie einlassen! Wie tief können sie unsere Sehnsucht nach dem Guten erwecken...

Dass dieses Mädchen mit der reinen Seele meist auch äußerlich wunderschön ist, ist Teil des Bildes. Das ganze Märchen ist Bild, und die Schönheit des Mädchens ist dann ebenfalls Bild. Die äußere Schönheit ist die volle Entsprechung zur inneren Schönheit. Im Märchen, im Bild, kann das innere Wesen der Seele nicht anders, als auch nach außen zu treten, sichtbar zu werden, offenbar zu werden. Und so wird die reine Seele bis ins Leibliche hinein wunderschön... Natürlich gibt es dann auch die alten Menschen, an denen die leibliche Schönheit wieder vergeht. An deren Stelle tritt dann die milde leuchtende Schönheit der Weisheit und tiefen Güte.

Das Mädchen im Märchen ist ein Bild für die Seele selbst. Es geht nicht um schöne Erzählungen mit „Phantasiegestalten“, die „in der Wirklichkeit so nie vorkommen“, es geht nicht um „bloße Märchen“! Erst, wenn man die Märchen nicht mehr so äußerlich real (und damit märchenhaft-irreal) anschaut, kann man dahin kommen, sie gerade vollkommen real zu nehmen – als absolut nicht phantastische Bilder realer Möglichkeiten der Seele selbst. Sogar der Begriff „Möglichkeiten“ ist noch zu schwach, denn die Sehnsucht und die Berührung, die von solchen Märchen ausgehen, sind bereits Realitäten in der Seele! Eine Seele, die von dem Guten berührt wird, Sehnsucht nach dem Guten empfindet, trägt den Keim dazu schon in sich...

Märchen geben reale Bilder von dem, was sich in der Seele weiter entwickeln will. Etwas, was sich entwickeln will, ist aber schon da. Es „schläft“ nur (auch dies ist zugleich wieder ein Bild der Märchen!) und kann erweckt werden. Die Sehnsucht ist schon die erste Offenbarung dieses Schlafenden... Sehnsucht ist nicht nur Trennung. Man fühlt sich zwar getrennt von etwas, das man nicht ist oder hat, doch gerade in dieser Sehnsucht lebt verborgen ein Wille, der genau dieses Etwas verwirklichen kann, wenn er nur voll erwacht.

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Der Mensch wird also von Offenbarungen des Guten und des Reinen berührt.

Was ist eine reine Seele, worin liegt ihre Reinheit? Sie liegt in dem Zustand der ursprünglichen oder wieder erworbenen Unschuld. Es ist das Rein-Sein, das Abwesendsein von niederen Empfindungen, Gedanken, Willensregungen.

Und worin besteht dieses Niedere seinem Wesen nach? In dem Selbstbezug. Eine unreine Seele denkt, empfindet und will etwas für sich selbst, und dieses Selbst ist das Zentrum all ihrer Regungen. Dieser Selbstbezug erstreckt sich auf alles, was an Wünschen und Begierden von Leib und Seele ausgeht. Das starke Gekettetsein der Seele an den Leib führt dazu, dass ihr Selbstbezug sich in jedem Moment erneuert – und auch die seelischen Regungen selbstbezogen bleiben und diesen Selbstbezug sogar noch steigern. Der Leib will Sättigung, die Seele ist unersättlich; der Leib will ein Mindestmaß an Stillung seiner Bedürfnisse, die Seele will in allem Genuss und bringt dies auch dem Leib bei...

Eine reine Seele hat auch einen Leib mit Bedürfnissen, doch sie denkt, empfindet und will, wann immer sie kann, vom rein Seelischen aus – und dieses Seelische denkt, empfindet und will nicht in Bezug auf sich, sondern in Bezug auf die Welt: Kein Genießen, sondern selbstlose, zarte, staunende Wahrnehmung, Sich-Berührenlassen, Aufnehmen der Welt. Kein Habenwollen, keine Unzufriedenheit, sondern dankbare Bescheidenheit, Schicksalsvertrauen. Keine vorschnellen negativen Urteile, sondern fortwährendes Vermuten des Besten; keine Kritiksucht, sondern Wahrhaftigkeit, Liebe zur Wahrheit. Keine Bequemlichkeit, sondern Wille zu helfen. Kein Stolz, sondern Gottesfurcht und Gottesliebe...

Immer ist die Welt Inhalt der Seele, sie braucht nicht sich selbst ins Zentrum zu stellen, und sie will dies auch nicht. Da, wo sie sich bewusst von der Welt zurückzieht, tut sie es, um „mit Gott allein zu sein“, sich ganz dem Göttlichen zuzuwenden.

Der egoistische Anteil der Seele liest solche Polaritäten wie altbackene oder aber rechthaberische Belehrungen – denn er will dies alles ja gar nicht. Der andere Teil der Seele jedoch liest oder ahnt in alledem, was jeweils als Zweites angedeutet wurde, die realen Ziele seiner inneren Sehnsucht.

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Die Advents- und Weihnachtszeit kann die Seele mehr als jede andere Zeit dieser Sehnsucht näher bringen, denn sie führt die Seele in die Besinnlichkeit... Dies bedeutet nichts anderes als: in die Sphäre des Wesentlichen, der tieferen Selbstbesinnung.

Schon die dunkle Jahreszeit, die kurzen Tage, die frühen Abende und langen Nächte, führen den Menschen zu sich selbst, sondern ihn viel stärker als sonst von den anderen Menschen, dem Treiben der Welt.

Das Licht der Kerzen ist wiederum zugleich ein reales Wahrbild. Ganz real offenbart es sinnlich, was auch die Seele selbst tun könnte, wenn sie es nur will. Welch ein Wunder ist ein solches Licht in der Dunkelheit! Wie sicher und wie ruhig brennt es – und wie konzentriert! Die Flamme einer Kerze tut nichts anderes als das, worauf es ankommt, das Wesentliche. Und schließlich die Kerze als Ganzes: Sie brennt mit Hilfe ihrer eigenen Substanz – selbstlos, langsam diese hingebend, aber bis zuletzt brennend. Nicht auf ihren Leib kommt es ihr an, sondern darauf, dass sie brennen darf...

Und wiederum, wofür sind die Kerzen des Advent denn noch Bild, wofür brennen sie denn eigentlich? Sie dürfen Bild sein für das wahre Licht, „das in die Welt kommen sollte“... Weihnachten ist das Fest der Geburt, DER Geburt, es berührt unmittelbar das Christusgeheimnis, das später offenbar werden soll. Zunächst ist Weihnachten das Fest der Geburt – und wie sehr ist dieses Fest von Reinheit und Unschuld überstrahlt! Das Kind selbst, Maria, „die reine Jungfrau“, die Hirten mit ihren demütigen Herzen, die weisen Könige mit ebenso großer Ehrfurcht...

Und wie tief kann uns das Bild der Krippe – das ja all dies unter dem Weihnachtsbaum real sinnlich als Bild wahrnehmbar werden lässt – dies zum Erleben bringen! Wie sehr kann es allein schon erlebbar machen, welche Tiefe an Ehrfurcht und Demut der menschlichen Seele möglich ist!

Wenn dieses Bild der heiligen Geburt am Abend unter einem Weihnachtsbaum angeschaut wird, dessen Kerzen erloschen sind, kann der Baum sogar zu einem dunklen Wald werden, liegt alles scheinbar inmitten realer Waldeseinsamkeit. Dann kann man sich vorstellen, wie es über Jahrhunderte hin Menschen gab, die sehr zurückgezogen ein tief frommes und einfaches Leben geführt haben.

Indem man versucht, all dies im eigenen Empfinden lebendig zu machen, wird auch dieses eigene Empfinden lebendig, kann es wieder erweckt und vertieft werden. Die Sehnsucht nach Reinheit, nach Reinigung und Vertiefung der Seele, führt einen dahin, die noch lebendige und tiefe Ehrfurcht anderer Menschen, anderer Zeiten nachzuempfinden – und es erwacht die eigene Ehrfurcht...

Tiefere Ehrfurcht gegenüber dem Weihnachtsgeschehen der Geburt kann man natürlich nur dann empfinden, wenn man eine immer tiefere Beziehung zum Christus-Wesen sucht. Zwar kann das Bild der Krippe oder auch der „Mutter mit dem Kind“ eine Ahnung und tief innerlich auch eine reale Erinnerung geben. Dennoch wird einem voll bewusst das Bild der Krippe dasjenige, was in ihm liegt, nur dann geben können, wenn man wirklich weiß und empfindet, was damit eigentlich dargestellt wird, was man da eigentlich sieht...

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Ohne eine Verbindung zur göttlichen Welt kann der Mensch dem Egoismus nicht entkommen – denn sie gerade ist es, die ihn über sich hinausführt.

Das Schöne und Gute, alle Tugenden – dies alles ist bereits etwas, was sein Wesen und seinen Ursprung in einer Welt hat, die man göttlich-geistig nennen kann. Denn woher soll die Liebe zum Guten kommen, woher soll das eigentliche Wesen der Seele selbst kommen? Aus der Materie kann dies alles nicht kommen – also gibt es außer der bloßen Stofflichkeit noch etwas, was der eigentliche Ursprung und auch die wirkliche Heimat der Seele und alles dessen ist, was sie als das Höchste empfinden, denken und wollen kann.

Die Anerkennung einer göttlichen Welt fällt nur dann schwer, wenn sich alle möglichen tradierten Vorstellungen, Dogmen und Inhalte, „was man glauben muss“, dazwischenschieben. Geht man rein von der Realität aus, steht man vor Rätseln und Wundern, angesichts derer es neben der Welt der Materie noch unendlich viel mehr geben muss, was der wirkliche Ursprung der Welten des Lebendigen, des Seelischen und des Geistigen ist.

Rudolf Steiner, der Begründer der Anthroposophie, beschreibt in seinem Gesamtwerk von über 350 Bänden diese Welten so differenziert – einschließlich der Wege zu einem sich vertiefenden eigenen Erleben –, dass hierdurch alle störend sich einmischenden Hindernisse überwunden werden können.

Durch Steiners Werk ist dann auch eine völlig neue Beziehung zum Christus-Wesen möglich. Auch hier werden alle Mauern und Gräber tradierter Vorstellungen gesprengt und der Gottessohn wieder in seinem kosmischen Wesen, Sonnen-Wesen, Logos-Wesen, seinem wirklichen trinitarischen Gottes-Wesen verständlich, gewinnt das Christentum wieder seine unendliche Weite, Größe, Tiefe... Das Christentum ist keine Lehre, es ist Christus selbst. Und was dies heißt, offenbart sich durch die unzähligen von Rudolf Steiner eröffneten Zugänge immer tiefer.

Dieses Christus-Wesen ist aber gerade jenes Wesen, das die menschliche Seele von ihrem Selbstbezug erlösen kann. Dies geschieht auf eben jenem geheimnisvollen Wege, auf dem sich die Seele immer mehr mit dem Christus-Wesen verbindet. Es ist der Weg der Läuterung – und auf ihm gewinnt die Seele den realen Zusammenhang mit dem Christus-Wesen.

Alles, was die Seele je in sich entwickeln kann, um eine reine Seele zu werden, das ist in Christus eine wesenhafte Realität, hat in diesem Gotteswesen seinen tiefsten Ursprung. Und auch die Kraft, sich vom Egoismus loszureißen, eine wirkliche Umwendung in der ganzen Blick- und Willensrichtung zu vollziehen, findet die Seele in diesem und durch dieses Wesen. Gäbe es dieses Wesen und sein Wirken nicht, die Seele müsste für immer an sich und ihre selbstbezogenen Regungen gekettet bleiben – Reinheit und den Weg dorthin gäbe es nicht, Märchen blieben Märchen und wären ... Lügen!

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Doch dieser Selbstbezug ist selbst wieder eine Folge einer langen, kosmischen Erden-Menschheits-Entwicklung, die in den tradierten Vorstellungswelten verschiedenster Religionen zum Bild und Begriff des „Sündenfalls“ geronnen ist. Die heutigen Vorstellungen und Begriffe von dieser Wirklichkeit sind sicher auf noch armseligere Reste zusammengeschrumpft als die Vorstellungen vom Christus-Wesen und Christus-Wirken. Doch ebenso wenig, wie das Wesen der Seele und ihrer tiefsten Sehnsucht ohne eine göttliche Welt zu denken ist, ebenso wenig ist das, was „Sündenfall“ genannt wird, ohne eine göttlich-geistige Welt zu denken, die als Widersacher wirkt (auch dies hat wiederum eine Entwicklung und Ursachen, was hier aber unberücksichtigt bleiben muss).

So sehr der Mensch sich mit seinem materialistischen Blick und Erleben „allein“ in der Welt fühlt, so wenig ist er es. Die innerste Sehnsucht seiner Seele nach dem Guten hat innigen Zusammenhang mit einer geistig-göttlichen Welt, wodurch die Seele diese Sehnsucht überhaupt haben kann – und wodurch sie auch einen realen Pfad der inneren Entwicklung betreten kann, gehen kann. Und ihr zunächst vorzufindendes Gekettetsein an sich selbst, an die Begierden des Leibes und ihrer selbst, all ihre unverwandelten, selbstbezogenen Regungen – all dies hat innigen Zusammenhang mit einer (anderen) geistig-göttlichen Welt, die aber bis ins Physische hinein wirksam wird und gerade dieses Gekettetsein, diese Selbst-Sucht und Selbst-Liebe zum Ziel all ihres Wirkens gemacht hat...

Wer bisher nur mit letztlich materialistischen Vorstellungen gelebt hat, wird dies zunächst nur wie die Wiedergeburt eines überkommenen, überwundenen, von verschiedensten Wesenheiten bevölkerten Weltbildes ansehen können. Doch wenn man trotz „Aufgeklärtheit“ ein moralisches Weltbild hat, möge man sich einmal tief und immer tiefer befragen, was es mit dieser Moral und auch mit Unmoral und mit Mangel an Moral auf sich hat. Was ist Moral, was ist ihre Quelle? Und was ist Selbstbezug? Was ist Egoismus? Was ist Liebe? Was ist Hass? Man kommt hier entweder nur zu sehr rationalistischen, intellektuellen „Vernunftantworten“ – oder man kommt überhaupt nicht weiter, sondern steht eigentlich immer mehr, je tiefer man fragt, empfindet und sucht, vor wirklichen Rätseln, wirklichen Fragen.

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Der Selbstbezug und damit der „Sündenfall“ ist heute der gewordene „Naturzustand“ des Menschen. Allein schon der Leib kettet die Seele an den Selbstbezug, aber im Seelischen wirken ebenfalls Kräfte, geistige Wesenheiten, die diesen Zustand für immer aufrechterhalten wollen. Wir brauchen diese nicht anzuerkennen, wir können auch zu rein psychologischen Erklärungen unsere Zuflucht nehmen. Doch es bedeutet eine ungeheure Klärung und Vertiefung für das ganze Verständnis der Polarität von Selbstbezug und Selbstlosigkeit, wenn man es vermag, eine reale Welt geistiger Wesen mitzudenken und zu -empfinden, deren Ziel gerade der Selbstbezug der Seele ist – und anderer geistiger Wesen, deren Ziel gerade die Härte, die Kälte der Seele ist. Ein solches Besinnen und Mitdenken kann in vielerlei Hinsicht geradezu eine Offenbarung werden. Und es macht möglich, auch die guten Mächte noch realer denken und erleben zu können – wie auch umgekehrt.

Entweder der Mensch ist völlig allein und alle Moral ist bloße Vernunft (die wiederum nicht wirklich erklärbar ist und einfach hingenommen wird) – oder der Mensch ist gleichsam der Mittelpunkt eines Kampfes, den nicht-sinnliche, also über-sinnliche Wesen um seine Seele, seinen Geist und sein Wesen führen.

Dieser Kampf ist ungleich: Das Ziel der einen Wesenheiten ist heute der „Naturzustand“ der Seele, der allein schon durch ihre starke Verbindung mit dem Leib fortwährend aufrechterhalten wird, und diese Wesenheiten wirken fortwährend auf das Seelische ein, können Gedanken, Gefühle, Willensregungen impulsieren. Wer kennt den genauen Ursprung und die genaue Entstehung der Urteile, der Antipathien, der Begierden in seiner Seele? Wer kann sagen, was davon aus dem Leib, was aus der Seele und was aus Wirkungen kommt, die auf den Leib und die Seele geschehen? Man stelle sich einmal real vor, dass es Wesenheiten gebe, die nicht wollen, dass man wohlwollend urteilt, dass man unbefangen wahrnimmt, dass man seine Begierden läutert. Je weniger man sie für real hält, desto ungestörter können sie wirken...

Die anderen Wesenheiten jedoch, deren „Reich“ der reale Quell und Ursprung alles dessen ist, was wahr, schön und gut genannt werden kann, können auf den Menschen nicht in dieser Weise wirken – denn ihr Ziel ist zugleich auch die Freiheit des Menschen. Was hätte alles Gute für einen Sinn, wenn der Mensch dazu „gebracht“ würde? Was hätte die Liebe für einen Sinn, wenn sie ebenso naturnotwendig aufstiege wie die körperlichen Leidenschaften? Die guten göttlichen Mächte können sich also nur an den innersten Kern der Seele wenden, können nichts anderes tun, als zart die ureigenste Sehnsucht der Seele anzurufen, vor dem Erlöschen zu bewahren. Wie sehr und wie absolut sie die Freiheit des Menschen achten, zeigt sich daran, dass sie in so unzähligen Fällen ganz machtlos scheinen... Und ihre Macht hat die göttliche Welt um der Freiheit des Menschen willen aufgegeben – das gerade ist eines der Ur-Geheimnisse des Christentums!

Darum ist der Kampf ungleich – und darum kann von wirklicher „Freiheit“ keine Rede sein, denn die Widersacher-Mächte achten die menschliche Freiheit gerade nicht. Der „Naturzustand“ des Menschen ist damit gerade die Unfreiheit, nämlich das Verfallensein gegenüber den Widersachern – erst recht, solange diese gar nicht erkannt werden. Doch Freiheit ist überhaupt nur möglich, wenn auch sie errungen werden muss, denn das Erringen der Freiheit ist gerade ihr wirklicher Beginn! Das Hineingestelltsein in diesen Kampf bedeutet für die menschliche Seele die Möglichkeit der Freiheit – das bewusste Erkennen dieses Kampfes und das wirkliche Erringen der freien Entscheidungsmöglichkeit ist der Beginn der Verwirklichung der Freiheit.

Ein Mensch, der in genussvollem Selbstbezug lebt, wird sich nicht für unfrei halten. Erst, wenn er sich in seiner Seele jener ganz anderen Sehnsucht nach Läuterung, nach reinem Liebenkönnen, nach zarter Vertiefung der Wahrnehmung bewusst wird, beginnt die wirkliche Erkenntnis des bisherigen Zustandes. – Aber das Gute und die Reinheit der Unschuld hätten menschheitlich nicht die Bedeutung haben können, die sie nun haben und einst haben werden, wenn sie der Naturzustand geblieben wären. Gäbe es das Gute im eigentlichen Sinne überhaupt, wenn der Mensch gar nicht anders handeln könnte? Der Mensch musste seine Unschuld also verlieren – und tut es heute in jedem einzelnen Menschen im Laufe seiner Entwicklung. Und doch sehen wir in der Kindheit und auch der Jugend noch so viele Zeichen der Unschuld, noch so real die Wirklichkeit des Guten! Und auch davon werden wir wieder tief berührt...

So liegt also die Erkenntnis des Kampfes, in den die Seele hineingestellt ist, klar vor uns – aber ihren Weg nehmen, muss die Seele selbst.

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Die Läuterung der Seele ist eine Willensfrage – und zwar eine Frage des tiefsten Willens der Seele. Es ist zwar auch möglich, die Seele „ein bisschen“ zu „bessern“, aber dies ist in keiner Weise mit dem wirklichen Betreten des Läuterungsweges, der wirklichen „Umkehr“ des Willens zu vergleichen.

Es ist möglich, „ein bisschen selbstloser“, ein bisschen liebevoller und so weiter zu werden – und diese Perspektive und Verlockung übt eine ungeheure Suggestion auf die Seele aus. Ist es nicht eine wunderbare Quadratur des Kreises? Man kann selbstbezogen bleiben und doch liebevoll sein... Ja, das ist möglich. Aber die wahrhaftige Seele spürt, dass dies noch nichts mit dem wirklichen guten Willen zu tun hat, der geradezu ein heiliger Wille sein würde. So sehr die „Märchen“ heute der Wirklichkeit widersprechen, so schwer ist es, den wirklichen guten Willen zu erreichen.

Es gibt Menschen, die auf verschiedenen spirituellen Wegen (insbesondere moderne Esoterik, New Age, Buddhismus) glauben, schon recht weit gekommen zu sein, tief liebevoll zu sein und so weiter. Doch in Wirklichkeit geht der Selbstbezug hier in viel feinere Verästelungen über und bleibt doch fortwährend subtiler Selbstgenuss. Wie herrlich kann man es gerade genießen, zu jedem Einzelnen liebevoll zu sein, immerfort Verständnis auszustrahlen, überall eine hilfreiche spirituelle Weisheit auf der Zunge oder in der Tastatur zu haben! Diese Menschen merken nicht, wie sehr mit der scheinbaren Weisheit auch die Eigenliebe wächst, wie sehr sie die angeeignete „Weisheit“ genießen – und auch ihr fortwährendes Darübersprechen und Sich-Austauschen genießen.

Auf den üblichen spirituellen Wegen ist der wirkliche gute Wille nicht zu erreichen – nur seine Illusion.

Was ist denn die Reinheit der Seele des Mädchens im Märchen? Wir haben es oben schon erlebt – es ist die völlige Abwesenheit jedes Selbstgenusses, gerade auch jeder subtileren Selbstzufriedenheit, und es ist die volle Hingabe an die Welt, der wirkliche gute Wille, der rein und gut ist. Rein, weil er vollkommen sich selbst vergisst – und gut, weil er wirklich dem Anderen dient.

Womit also beginnt der Weg der Läuterung? Mit der wirklichen Übung der Ehrfurcht, der Devotion, der Bescheidenheit – diese Stimmungen müssen als Gesinnungen im Willen leben können! Dann reißt sich der Wille los von dem, was bisher das Zentrum der Seele war und was immer selbst etwas sein musste, und es entsteht langsam ein neues Zentrum, das nichts „sein“ muss, sondern das in der Hingabe an die Dinge lebt.

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Dasselbe vollzieht der Wille, der energisch einen Inhalt denkt, der keinen unmittelbaren Bezug mehr zur sinnlichen Welt hat. Auch dadurch reißt sich der Wille los von allem, was ihn bisher bewusst oder unbewusst auf sich selbst gelenkt hat. Doch dadurch geschieht noch mehr – und darum ist dieses reine Denken ein alles entscheidender Schritt, auf den Rudolf Steiner immer wieder hingewiesen hat und der unmittelbar mit der Essenz der Anthroposophie zusammenhängt. Warum dieser Schritt so unendlich bedeutsam ist, das macht Mieke Mosmuller in ihren Büchern immer wieder erlebbar.

Die Entfaltung eines reinen, nicht mehr an die Sinneswelt gebundenen Denkens, reißt das Denken und damit den Denker von dem Zusammenhang mit der Leiblichkeit und mit seinem persönlichen Leben los und führt ganz hinein in die Entfaltung der Denk-Kraft, des Willens im Denken. Dadurch wird sich der Denker immer mehr der Entfaltung der eigenen Tätigkeit erlebend bewusst – wodurch die hier tätige Instanz, das innerste Wesen der eigenen Individualität, eigentlich erst wahrhaft geboren wird. Das Ich tritt als tätiger, seiner selbst bewusster Geist in die reale Existenz! Nicht mehr ist es ein über die Leiblichkeit vermitteltes, aus undurchschauten Ursprüngen aufsteigendes Selbstbewusstsein, es ist ein ausschließlich und vollkommen auf der aktuellen Entfaltung rein geistiger Denk-Willens-Tätigkeit beruhendes Bewusstsein. Hier wird der geistige Mensch geboren, bringt er sich selbst zur Geburt!

Die hier tätige Instanz braucht keine Selbstbestätigung mehr, um sich existent und bestätigt oder „wichtig“ zu fühlen. Sie hält sich ganz aus sich selbst heraus, denn sie entfaltet fortwährend ihre (Willens-)Kraft. Aber diese Kraft ist wiederum absolut nicht auf eine Eigenbestätigung gerichtet, sondern strömt selbstlos aus. Die Entfaltung dieser Kraft ist für das Ich Anstrengung und Freude zugleich. Mit dieser Kraft kann es sich selber demjenigen „Inhalt“ hingeben, der zunächst rein gedacht wird und in den sich das Ich in dieser Aktivität eigentlich selbstlos verwandelt. Nicht mehr muss das niedere Ich die Welt seinen Bedürfnissen anpassen; sondern das Ich lebt hier in Hingabe an einen reinen Denkinhalt, an das reine Denken selbst.

Hier ist der Wille von aller Selbstsucht gereinigt, hier lebt ein reiner Wille in einem reinen Denken, und zwar vollkommen bewusst. Auf diesem Weg findet der Mensch also sein eigenes Wesen – sich selbst als reales geistiges Wesen –, und er findet hier das verlorene Reich der Unschuld wieder, nun aber vollkommen bewusst.

Die in diesem Denken lebende Unschuld, die Reinheit und Selbstlosigkeit, kann sich dann nach und nach vertiefen und auch auf die übrige Wirklichkeit der Seele erweitern. Nach und nach wird es möglich sein, dass alles Denken diese Reinheit annimmt, alles Fühlen, alle Willensimpulse; dass auch die sinnliche Wahrnehmung mehr und mehr geläutert wird, wieder tiefer und zarter, durchlässig für das sich in ihr offenbarende Geistige wird.

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Der Weg zum wahrhaft reinen, guten Willen führt über den reinen Weg zum Geist, zum Finden seiner selbst als geistiges, nicht vom Leib abhängiges Seele-Geist-Wesen. Hier im reinen Denken ist die selbstlose Entfaltung innerer Tätigkeit – in voller Bewusstheit – in reinster Form und Unmittelbarkeit zu finden. Und von hier aus kann sie in ebensolcher vollen Bewusstheit auch in das übrige Walten und Wollen, Streben und Wirken der Seele hineingetragen werden. Die im reinen Denken entfaltete Selbstlosigkeit kann das Bewusstsein von der Sehnsucht der Seele nach dem Guten, nach Läuterung erwecken – und so zu einem umfassenden Streben nach einer solchen Läuterung der Seele werden.

Was im Urbild des Märchens zunächst wie eine Naturkraft, ein wunderbares Gottesgeschenk erscheint – die reine Unschuld eines Mädchens, eines scheinbar von Natur aus guten Herzens –, das wird auf dem Weg des reinen Denkens vom Menschen nach und nach bewusst wieder erworben: ein geläutertes, reines Denken und dann auch Fühlen und Wollen, eine durch Läuterung rein gewordene Seele. Die Seele selbst wird so das wunderschöne Mädchen aus dem Märchen – weil sie es aber bewusst wird, ist es zugleich viel mehr: Die Seele wird zur Sophia.

In einer solchen, zur Sophia gewordenen Seele kann sich gleichsam von neuem das Weihnachtsmysterium ereignen. In der individuellen Seele wird Christus geboren, kann Er Wohnung nehmen... Es ereignet sich die höchste Geistgeburt im Seelengrund – der Himmel zieht in die Seele ein.

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Wenn wir zu dem Beginn zurückkehren, so lag dieser in der mehr oder weniger dunkel empfundenen Sehnsucht der Seele nach dem Guten. Wenn wir uns dieser ureigen in uns lebenden Sehnsucht immer tiefer bewusst werden, dann kann sie selbst der Führer für die inneren Wege der Seele sein. Denn in ihr (der Sehnsucht) selbst lebt keimhaft verborgen schon die Essenz dessen, was ihr Inhalt und Ziel ist.

Die Sehnsucht der Seele nach dem Guten ist das Beste und Edelste, was der Mensch hat. Aus ihr kann alles hervorwachsen, was dann zum Weg der Läuterung und Verwandlung wird. Und man kann angesichts alles dessen ehrfürchtig ahnen, dass uns in alledem jenes hohe Liebe-Wesen begleitet, das von sich sagen konnte: Ich bin der Weg...