20.12.2013

Unfassbarer Urteils-Hochmut oder Wahrheits-Erleben

Über intellektuelle Doppelmoral und wahre Geistes-Sehnsucht. – Noch eine Erwiderung auf Jens Göken.


Inhalt
Einleitendes
Unglaubliche Urteile oder Geistessuche
Der Hochmut und seine Taktik
Die Macht des common sense...
...und jene der Wahrheit


Einleitendes

Heute glaubt jeder, eine eigene Meinung haben zu können – und nicht nur haben zu können, sondern auch, dass sie wahr sei. Erschütternd ist, dass dies auch innerhalb der „anthroposophischen Zusammenhänge“ gilt. Die Menschen, die sich mit solchen Meinungen hervortun, beweisen durch ihren eigenen Anspruch, dass sie keine Geistessucher sind.

Was einem heute an Aufsätzen, Blog-Beiträgen und sonstigen Texten in „anthroposophischen Zusammenhängen“ begegnet, ist zunehmend nur noch ein Geplänkel an der Oberfläche des sich spirituell gebenden Intellekts. Man meint, etwas Wesentliches zu sagen – doch worum geht es? Geht es irgendwo um das Wesen des Geistes? Jenes Geistes, von dem Rudolf Steiner sprach und den wir alle, insofern wir von Intellekt durchtränkt sind, auch nicht ansatzweise errungen haben oder erleben?

Aber urteilen – das können alle! Dabei beweist derjenige, der besonders stark urteilt, in der Regel, dass er den Geist am wenigsten „hat“.

Da können mit einem ungeheuren Hochmut die Temperamente „entsorgt“ und durch ein US-amerikanisches Gehirn-Quadranten-Schema ersetzt werden, wie in der letzten „Die Drei“ geschehen. Ein offener Brief von mir wurde von der Redaktion nicht einmal mit einer Empfangsbestätigung beantwortet. Ob noch irgendeine Reaktion kommt, ist fraglich.

Aber so kann man es ja immer tun: Man veröffentlicht etwas, was unverantwortbar ist und in geistigem Sinne die Anthroposophie regelrecht verhöhnt und vernichtet – und dann braucht man es nur noch auszusitzen. Die Reaktionen werden ja sicherlich im Rahmen bleiben, bald ist die Sache wieder vergessen. Und man versteht gar nicht, warum einige Menschen sich darüber so sehr empören... – So wird die Anthroposophie ein beliebiger „Wellness-Artikel“, den jeder nach Belieben verstehen, deuten oder auch ergänzen, modernisieren usw. kann, wie er gerade will.

Das ist das Kennzeichen des Geistes: Wenn man ihn nicht mit existentiellem Ernst, mit Hingabe und einem realen inneren Streben sucht, dann entzieht er sich. Je mehr er sich aber entzieht, desto mehr bläht sich die Illusion auf, dass man ihn sehr wohl noch „hätte“...

Unglaubliche Urteile oder Geistessuche

Ein anderes Beispiel ist der zuvor von mir besprochene Aufsatz von Jens Göken. Staunend und berührt verfolgt man zunächst, mit wieviel Verständnis Göken den unterschiedlichsten Menschen begegnet, die oft ganz gegensätzliche Anschauungen vertraten und die des Anderen oft scharf angegriffen haben. Mit bemerkenswerter Empathie versetzt sich Göken in Judith von Halles Situation hinein, hat auf der anderen Seite Worte höchster Anerkennung für Sergej Prokofieff, der klar und dezidiert gegen Judith von Halle schreibt. Er bedauert, dass es nicht zu einem Austausch und Gespräch kommt, hat andererseits auch dafür wieder Verständnis – und so geht es weiter.

Doch dann, als er Mieke Mosmuller erwähnt, entgleist sein eigener Anspruch völlig. Hier fällt er vier unfassbare Urteile:

• Sie „meint [...], sie habe das reine Denken (und damit die Wahrheit gepachtet?)“.
• Sie und Judith von Halle seien „Konstellationsschwestern“ (gleichzeitiges Auftreten, Bücher zu gleichen Themen).
• Solche Symptome „machen es [...] schwer, auf die Zukunft des Weiblichen [...] zu hoffen“.
• „Mieke Mosmullers Auftreten“ ist von Irene Diet in einem Aufsatz hinterfragt worden.

Man sollte sich einmal mit tiefstem Ernst fragen: Was sind das für Urteile? Welches dieser Urteile hat auch nur den leisesten Zusammenhang zu einer wirklichen und wahrhaftigen Geistessuche?

Keines! Denn Geistessuche würde bedeuten, dass man die Werke eines Menschen zumindest teilweise kennt, bevor man über ihn urteilt. Dies überhaupt erwähnen zu müssen, ist schon etwas Furchtbares! Wenn man aber die Werke Mieke Mosmullers kennt, dann kann man erleben, dass hier ein Mensch seit zwei Jahrzehnten mit vollem Ernst einen meditativen Weg geht, der tief in ein reales Geist-Erleben hineingeführt hat.

Allein schon, wenn man das Buch „Der Heilige Gral“ von Mieke Mosmuller liest, möchte man ausrufen: Hat noch ein einziger anderer Mensch die Tiefe dieser Geistes-Erfahrung errungen!? Es wird doch immer wieder gefragt, wo die Menschen seien, die „das können, was Rudolf Steiner konnte“. Ja, wo sind sie? Aber hier ist ein Mensch, der geht mutig und entschlossen wesentliche Schritte, schreibt Bücher über diesen Weg ... und wird dafür noch verhöhnt!?

Bevor man Mieke Mosmuller verhöhnt, sie meine, „sie habe das reine Denken“, sollte man einen winzigen Bruchteil von dem verwirklichen – oder zumindest verstehen –, was sie in ihren Büchern beschreibt. Wenn man dies noch nicht einmal vermag, dann ist doch deutlich, dass man nicht die kleinste Berechtigung zum Urteilen hat! Jedes Urteil wird so zu einem Urteil über sich selbst...

Der Hochmut und seine Taktik

Jeder wahrhaftige Geistessucher würde sich sehr deutlich machen, welchen Hochmut es bedeutet, zwei Menschen kurzerhand zu „Konstellationsschwestern“ zu erklären. Dieses und die anderen Urteile von Göken können es einem geradezu bis an die Grenze des Physischen übel werden lassen angesichts der unfassbaren Nachlässigkeit des notwendigen Wahrheitsernstes und angesichts des unermesslichen Hochmutes. Gökens Urteile berühren Mieke Mosmuller nicht einmal, aber sie spiegeln mit voller Wucht seinen eigenen Hochmut und seine Antipathie angesichts ihrer Werke.

Einige Urteile, die Mieke Mosmuller aus ihrer eigenen Verantwortung vor der geistigen Welt in Worte gefasst hat, sind durchaus nicht angenehm. Aber war die angenehme, liebliche Gestalt einer Erkenntnis je ein Kriterium für ihre Wahrheit?

Könnte die unangenehme, unbequeme Gestalt einer Erkenntnis für einen Geistessucher je ein Grund sein, ihre Wahrheit anzuzweifeln oder gar massiv zu verneinen? Sind wir überhaupt fähig, die Wahrheit zu erkennen, solange wir vor jeder wahrhaft unbequemen Wahrheit so sehr zurückschrecken ... dass wir unseren eigenen Hochmut gar nicht bemerken? Denn was ist es anderes als Hochmut, reflexartig zu sagen: Das ist nicht wahr! Oder: Sie glaubt offenbar, die Wahrheit gepachtet zu haben. – Ist damit irgendetwas über die Wahrheit von Mieke Mosmullers Aussagen gesagt? Nicht das Geringste!

Das aber ist eigentlich die Taktik der Geistes-Gegner: In keinster Weise auf die Erkenntnisse eingehen. Kein Ringen um die Wahrheit, keine Auseinandersetzung mit den ausführlichen Aussagen des Geistesforschers – sondern: Abwerten, Herabsetzen, Kritisieren, Verleumden, Herstellen eines „common sense“ bezüglich gewünschter anderer Standpunkte. Man muss nichts begründen, man muss nur genügend viele Menschen hinter sich sammeln...

Unbegründete Urteile sind das geeigneteste Mittel dafür. Man streue nur oft genug den Vorwurf, jemand glaube, die Wahrheit gepachtet zu haben – dann wird er schon auf „fruchtbaren“ Boden stoßen. So hat man es mit Rudolf Steiner ja auch gemacht. Je mehr ein Mensch den anderen innerlich voraus ist, desto mehr wird er gehasst, desto mehr regt sich der eigene Hochmut des Intellekts. Der Intellekt kennt alle Mittel, sich selbst auf dieselbe Stufe zu (über-)heben: Entweder ist „alles Unsinn“, oder der Andere ist angeblich hochmütig, meint nur, etwas erreicht zu haben, gar die Wahrheit gepachtet zu haben etc. etc. Der Intellekt ist sich für keine böswillige Verleumdung zu schade!

Das Schlimmste ist: Diese Dinge verlaufen so subtil, dass man es offenbar partout nicht bemerkt. Offenbar kann man selbst schon recht lange auf einem gewissen Entwicklungsweg sein (wie ernsthaft, das ist die Frage) – und dennoch an den entscheidenden Punkten ganz den „Verstand verlieren“, das gesunde Urteil, die aufrichtige Wahrheitsliebe, die selbstlose Wahrheitssuche. Dort, wo das eigene Ego angestochen wird, dort wo die eigene Amfortas-Wunde liegt – dort flammt auf einmal der Hochmut hoch auf, verbindet sich mit dem abstrakten Urteil und geht eine unheilige Ehe ein, die unter einem absoluten Schleier verbleibt, an dem die Selbsterkenntnis gänzlich vorübergeht.

Die Macht des common sense...

Unfassbar ist es, dass Gökens Urteile in einer anthroposophischen Zeitschrift wie der „Gegenwart“ veröffentlicht werden konnten. Unfassbar auch, dass der Redakteur seinerseits auf Nachfrage nur das Urteil hat, Gökens Urteile über Mieke Mosmuller hätten eine „gewisse Einseitigkeit“.

Unfassbar auch, dass eine Entgegnung sich dann auf eine Seite („3.300 Zeichen“) zu beschränken hat – und dass man vom Redakteur sogar noch die Empfehlung bekommt, je nüchterner man die Sache formuliere, „ohne Gegenpolemik“, desto glaubwürdiger wirke man für die Leser.

Göken konnte offenbar schreiben, was er will – und je unverschämter die Urteile, desto glaubwürdiger ist er! Man braucht über einen Menschen nur völlig vernichtende Urteile zu verbreiten, dann nimmt ihn kaum noch jemand ernst. Und je massiver das Urteil, desto wahrer scheint es zu sein, denn „ganz aus der Luft gegriffen ist es doch wohl nicht...?“

Wenn man die Lüge jedoch bekämpft, macht man sich unglaubwürdig! In was für einer Welt leben wir, dass dies möglich ist? Und sogar in sogenannten anthroposophischen Zusammenhängen! Es wird also tatsächlich gesagt: Je erschütterter man über die Entstellung der Wahrheit ist, desto unglaubwürdiger macht man sich „für die Leser“. Was für ein Menschenbild steht hinter solchen „Empfehlungen“?

Sind selbst Anthroposophen nicht mehr in der Lage, zwischen bloßen empörten Aufschreien und besonnenen, aber scharfen Richtigstellungen von Unwahrheiten ... zu unterscheiden?

Ist es selbst in „anthroposophischen Zusammenhängen“ schon so weit gekommen, dass man jede scharfe Entgegnung als „Polemik“ bezeichnet, während es einfach nur ein scharfes Eintreten für die Wahrheit ist? Auf diese Weise schwindet jedes Unterscheidungsvermögen. Auf diese Weise schafft man einen geist-feindlichen „common sense“, der ein neues Dogma bildet. Man definiert eigenmächtig den angeblichen Charakter eines Textes und die Gefühle, die der Leser zu haben hat.

Innerhalb dieser Kollektivmeinung gilt dann jede ernsthafte Zurückweisung einer Unwahrheit als Polemik, damit als subjektiv, damit als per definitionem unwahr... Welche völlige Verkehrung der Tatsachen, die der absoluten Beliebigkeit in allen Erkenntnisfragen Tür und Tor öffnet!

...und jene der Wahrheit

Kriterium für die Wahrheit ist nicht die Schärfe oder Milde – denn es kann die Notwendigkeit bestehen, die Wahrheit scharf oder mild zu vertreten; es kann auch der Charakter eines Menschen sein, die Wahrheit oft scharf zu vertreten; der Grund kann auch in der Massivität liegen, in der die Wahrheit verletzt wird usw. –, Kriterium für die Wahrheit ist nur die Wahrheit selbst.

Vor genau einem Jahr veröffentlichte derselbe Redakteur eine Buchbesprechung von Mieke Mosmullers Roman „Mutter eines Königs“, in der er selbst schreibt:

Es ist ein Roman, wo mit den Lehren des Meisters des Abendlandes – so nennt die Autorin Rudolf Steiner – ernstgemacht wird. Wo dieser nicht verleugnet wird. Und der Leser ist ... beschämt. Ach, so müsste man leben. Und der Leser ist hellauf begeistert: Ja, so könnte es sein!! Es ist wahr. Es ist lebendig. – Ich kenne niemanden sonst, der so zu schreiben vermag.


In solchen Worten lebt das wahrhaftige Empfinden der Seele, die sich nicht schämt, das Geistige zu erleben und zu erkennen; die nichts Wertvolleres kennt und ersehnt als dieses. Mit dieser Selbstlosigkeit und dieser Geistes-Sehnsucht müssten wir fortwährend ernst machen – erst dann käme man zu berechtigten Urteilen oder, richtiger: zu wahren, nicht von Eigen-Hochmut getrübten Erlebnissen.