22.02.2014

Der Drache und das Mädchen

Ein Märchen unserer Zeit über die alles erlösende Macht...


Der Drache hatte unzählige Jahre kommen und gehen sehen. Er wusste, dass er von allen verhasst und gefürchtet war. Er war in seiner Gestalt gefangen und hatte fast schon vergessen, dass er anders war als seine Gestalt. Nie zeigte er sich den Menschen. Wenn sie ihn dennoch entdeckten, jagten sie ihn – und er verwüstete ihre Hütten und zog sich weiter zurück. So lebte er tief in den Wäldern, an einem einsamen See, einsam sein Herz. Drachenblut erstorbener Hoffnung floss unter hässlichen Schuppen.

Nach hunderten von Jahren sah er ein Mädchen, das allein zu Pferde an den See gekommen war. Weit hatte sie sich von jeder menschlichen Ansiedlung entfernt. Beim ersten Blick wusste der Drache: Dies war die Prinzessin des Reiches. Und beim ersten Blick erzitterte innerlich sein ganzes, mächtiges Wesen.

Unwillig schüttelte er seinen Körper, sich abzuwenden, bis er wieder allein sei – doch es war eine ohnmächtige Gebärde, jahrhundertealter Unwille, der nicht ihr galt, dem Wesen, das er sah. Einsamkeit schmolz dahin – und Einsamkeit wuchs tausendfach. Nicht abwenden konnte er den Blick. Tief trank er jede Gebärde des wunderbaren Wesens dort am See – und jede Bewegung des Mädchens war wie eine Erlösung. Wärme durchrann seinen riesigen Leib – Wärme, die er niemals gekannt oder schon ewig vergessen. Und der große Drache erschauerte... Still staunend ruhten seine großen, klaren Augen auf der wunderbaren Gestalt. Sie schien ihm umgeben von Licht – wärmer als die Sonne, milder als der erste Schnee...

Als das Mädchen für Augenblicke durch einen Fels verborgen war, erwachte der Drache zu sich selber. Eine Träne rann aus seinen großen Augen, und unendlich leise wandte er sich ab, weil er den Anblick nicht mehr ertrug.

Doch nach wenigen Wochen erschien die Prinzessin wieder am See. Der Drache hatte versucht, sie zu vergessen – und doch in jeder Sekunde nur ihr Bild in sich getragen. Nie hatte er geglaubt, dass sie zurückkehren würde, und mit aller Macht dagegen gekämpft, es auch nur zu hoffen. Und doch war sie eines Morgens wieder da – und wiederum wurde der Drache von ihrem Anblick erschüttert, noch tiefer, wenn dies möglich war...

Diesmal konnte er sich nicht vergessen, und so konnte er ihren Anblick schon nach kurzer Zeit nicht mehr ertragen. Aber er fühlte zugleich, dass er es auch nicht ertragen würde, sich abzuwenden. Wehrlos verharrte seine große Gestalt hinter den Büschen – und ganz unbewusst setzte er mit seiner großen Tatze einen sanften Schritt nach vorn...

In tiefem Entsetzen gewahrte er, dass das Mädchen den Blick in seine Richtung wandte – und ihn sah. Unfähig, etwas zu tun oder sich nur zu bewegen, blickte der Drache unmittelbar in das Antlitz des Mädchens, in seine klaren, reinen Augen – und ertrank in ihnen. Alle Zeit schwand, alle Vergangenheit, alle Umgebung. Es gab keine Wälder, keine Seen, keine Menschen. Es gab nur ein einziges Mädchen, ein einziges Augenpaar – und eine einzige unendliche Erlösung, Hoffnung...

Doch die Ewigkeit zerbrach, das Mädchen wandte sich um, warf sich auf sein Pferd und jagte davon.

Unendliche Verzweiflung... Der große Drache aß nichts und trank nichts mehr... Keine einzige Bewegung des Mädchens ging ihm aus dem Sinn. Wie lange hatte sie ihn angesehen? Warum hatte sie nicht geschrien? Hatte in ihrem Entsetzen, und davor, noch etwas anderes gelebt? Hatte er nicht auch in diesem Augenblick noch ihr Wesen wahrgenommen, Offenheit, Verwunderung, Wärme...? War dies nicht die Ewigkeit gewesen, die sie für Momente verbunden hatte, bevor das Entsetzen sich einschlich und überwog? Aber, ach, es waren müßige Fragen, die er sich Tag um Tag, Stunde um Stunde stellte, denn sie würde niemals wiederkehren.

Doch sie kam wieder! Der Drache hörte ihr Pferd, nur eines... Zögernd näherte sie sich dem See, stieg ab...

Zögernd band sie das Pferd an einen Baum, blickte dann in seine Richtung, wo er sich tief verborgen hielt. Die Gedanken stürmten in seinem Kopf. Nie wieder wollte er sie erschrecken, es wäre ihm genug, sie so zu sehen wie jetzt, für einige Momente, das Glück ihres Anblicks zu erleben. Wieder überwältigte ihn das Erschauern. Des Mädchens suchender Blick... Aber was, wenn sie nicht wiederkehren würde? Was, wenn er sie nun doch das allerletzte Mal sehen würde? Wieder machte er ganz unbewusst einen Schritt zu ihr hin.

Das Mädchen, das sich ein wenig zur Seite gewandt hatte, fuhr herum, und wieder begegnete ihr Blick dem des Drachen. Wieder stand er hilflos und sah von neuem, wie Staunen und Entsetzen in ihren Augen sich mischten, miteinander rangen. Er konnte ihre Angst nicht ertragen und wollte zurückweichen – da sah er, wie sie selbst ihr Entsetzen bezwang und wie nur Furcht und Offenheit zurückblieben... Der Drache wagte es nicht, auch nur einen weiteren Schritt zu tun, doch er fühlte, wie sein ganzes Wesen flehte, das Mädchen wiederzusehen. Und eine Träne löste sich von seinen Augen...

Hatte das Mädchen sie gesehen? Wuchs nicht ihre Verwunderung in ihren wunderschönen Augen? Doch auch sie wagte nicht, etwas zu tun. Nach einer langen Zeit band sie zögernd ihr Pferd los und ritt, nach einem letzten langen Blick zurück, davon.

Dieser letzte Blick war es, der dem Drachen nun nicht mehr aus dem Sinn ging, den er in jedem Moment bei sich trug. Er war ihm wie ein Versprechen erschienen, obwohl er nicht gewusst hätte, dies zu begründen. Er aß und trank nun – und hoffte...

Und nach einigen Wochen war sie wieder da. Der Drache wusste, dass er auch nach tausend Malen von ihrem Blick überwältigt werden würde – und er wusste, dass dies das größte Glück war, was es gab: besiegt zu werden von demjenigen Wesen, dem man unterliegen wollte.

Wieder sah er die Furcht in ihren Augen, aber in dieser lebte zugleich der Keim von etwas, was er noch niemals, niemals erlebt hatte: das Erlebnis eines beginnenden Vertrauens... Und diesmal blieb die Prinzessin stehen, als er einen Schritt nach vorn setzte, auch, als er einen zweiten Schritt machte...

Als der Drache aus den Büschen heraustrat, sah er in ihren Augen, wie ihr Herz doch wiederum zu rasen begann. Sofort blieb er stehen und rührte sich nicht mehr. Er verstand, dass das Mädchen von Furcht überwältigt wurde und sah ihr nach, bis sie verschwunden war. Wiederum hatte sie ihm einen letzten Blick geschenkt, in dem trotz aller Furcht ihr ganzes Wesen lag...

Und als das Mädchen wiederkehrte, war der Keim des Vertrauens zu einer zarten Vertrautheit geworden. Wieder griff die Furcht mächtig das Herz des Mädchens an – doch ihr Vertrauen war ebenso stark und drängte die Furcht zurück, hielt sie im Zaum. Schnell ging ihr Atem, und doch blieb sie stehen, während der Drache langsam Schritt vor Schritt setzte. Und dann ereignete sich das größte Wunder: Als er ihr ganz nahe gekommen war, erlebte er in ihren Augen, dass das Vertrauen ganz überwog; die Furcht schien sinnlos zu werden – und sie trat zögernd einen Schritt auf ihn zu.

Was für eine Unendlichkeit lag in dieser Gebärde! Der Drache wurde von einer Woge innerer Erschütterung überwältigt. Dass dieses Wesen zuließ, dass er sich näherte, war mehr, als er glauben konnte. Dass sie selbst sich ihm näherte, überstieg alles, was er erfassen konnte. Ihm drohten die Sinne zu schwinden. In tiefer Überwältigung senkte er sein Haupt und legte sich ihr zu Füßen... Ergebung floss in seinen Adern, reine Hingabe, eine Hoffnung, die keine Worte hatte.

Und das Mädchen hob zögernd seinen Arm und berührte ihn sanft. Die schuppige Haut blieb gefühllos gegen die Pfeile hunderter Ritter – doch die Hand eines Mädchens durchschlug alle Abwehr und ließ das mächtige Wesen des Drachen bis ins Innerste erzittern...

Der Drache wusste in demselben Moment, dass diese Berührung für immer den leuchtenden Mittelpunkt seines Lebens bilden würde – für immer gegenwärtig, für immer das heilige Mysterium aller Erinnerung. Etwas Höheres konnte es nicht geben – nur noch ein inneres Band, das aus vielen solcher Momente gewoben wurde. Wie tief es aber auch reichen würde – es hätte mit diesem ersten Moment begonnen, der für immer der heiligste war...