10.05.2014

Die Denkart des Ansgar Martins – und die meine

Entgegnung auf Ansgar Martins: Unwahrheit versus Wissenschaft: Holger Niederhausen, Wolfgang G. Vögele und Helmut Zander. Waldorfblog, 15.03.2014.


Inhalt
Eintauchen in eine verachtende Sprache
Der wesenhafte Unterschied
Der Gegensatz zweier Wesen
Wer kennt den „bösen Gegner“?
Von Wortlauten und ihren Bedeutungen
Vom Wesen des Christentums


Eintauchen in eine verachtende Sprache

Der Vielschreiber Ansgar Martins, ein 22-jähriger ehemaliger Waldorfschüler, der sich auf seinem Blog in ungezählten, meist extrem langen Artikeln immer wieder aggressiv gegen die Anthroposophie äußert, hatte nun im März auch mein Buch über Helmut Zander und dessen „Steiner-Biografie“ scharf angegriffen.

Meine Art, auf die Dinge zu schauen und auf das Wesen der Anthroposophie hinzuweisen, scheint diesen Menschen gleichsam bis zur Weißglut zu reizen. Seine Art, auf Menschen wie mich zu schauen und sie mit einer tief verachtenden Sprache völlig indiskutabel erscheinen lassen zu wollen, zeigen Zitate wie die folgenden:

„Der fanatisierte Holger Niederhausen hat jetzt die x-te Publikation auf den Markt geworfen ... Sachlich ist jede Seite des Buches in regelrecht erstaunlichem Maße irrelevant ... Selbst mit der Steinerdeutung muss man’s nicht so genau nehmen, wenn man dafür vermeintliche Anthroposophiegegner beschimpfen kann.“


Martins bezeichnet mich als einen der „unterhaltsamsten Anthroposophen“, als „des Meisters letzten Jünger“, als „frenetischen Steiner-Missinterpreten“ und so weiter. Und im nächsten Schritt verdammt er dann alle, die mein Buch anders erleben als er, diffamiert sie als „frisch gewonnene Fans“ – so Lorenzo Ravagli, Wolfgang G. Voegele und Michael Mentzel.

Was liegt in einem Denken vor, das so urteilt, so spricht, so empfindet? Man steht hier vor einem vollkommen kalten, gefühllosen Denken. Dieses Denken hat keinerlei Achtung vor dem menschlichen Gegenüber, denn es erlebt dieses gar nicht. Es stellt seine eigenen Urteile, die sich weltenweit über den anderen Menschen erheben, ins absolute Zentrum und empfindet geradezu einen Genuss, diesen anderen Menschen sprachlich zu vernichten, auszutilgen. Die eigentliche Aussage ist gleichsam: „Dieser Mensch ist ein Nichts, weniger als ein Nichts. Wer ihn auch nur beachtet, wird ebenfalls meine geballte Verachtung zu spüren bekommen.“

Wenn man in der Lage ist, den eigentlichen Charakter dieser Sprache, die aus einem entsprechenden Denken hervorgeht, in solcher Weise wirklich innerlich zu erleben, dann kommen unmittelbar Bilder und Vergleiche auf. Nicht anders war das Denken und die Sprache zur Zeit der Sklaverei. Die „Herrenmenschen“ sprachen so mit den Sklaven und dachten so über die Sklaven. Diese waren keine Menschen – es waren Gegenstände. Sie verdienten nichts anderes als Verachtung, sie hatten verachtet zu werden...

Martins’ Sprache mag in der Nuance vielleicht noch nicht totale Verachtung zeigen, zunächst nur in verachtendem Spott sich ausleben – doch die Unterschiede sind graduell. In einem Zeitalter des Common Sense und des Diskurses kann Martins natürlich nicht mehr die physische Peitsche schwingen – er kann nur noch auf der Diskurs-Ebene dafür sorgen, dass ich eine lächerliche Karikatur werde. Doch die Art des Denkens ist die gleiche – Kälte, Verachtung, Vernichtungswille.

Wir gehen über diese Phänomene so einfach hinweg, aber wir müssten als heutige Menschen einmal zu einem sehr, sehr tiefen Erleben dieser Symptome kommen. Würden wir sie wirklich erleben, würden wir wirklich einmal darin mit der ganzen Seele tief eintauche können – wir müssten unendlich erschrecken. Denn in diesem Denken lebt nichts mehr, was menschlich wäre. Wäre ein solches Denken die äußere Luft, in der wir leben und von der wir leben – wir müssten in größter Qual unmittelbar zugrundegehen. Das Wesen des Menschen kann in einem solchen Denken nicht leben, es kann nur getötet werden!

Martins und sein Aufsatz über mein Buch sind nur ein Symptom. Wir leben in einer Zeit, in der sich diese Art zu denken, dieser Charakter des Denkens immer mehr ausbreitet. Es ist eine furchtbare Kulturdiagnose, zu erkennen, dass wir in einer Kultur leben, in der das eigentliche Menschenwesen nicht mehr leben kann! Es muss sich immer mehr zurückziehen, tief verschüttet im innersten Kern der Seele – im Denken kann es bereits nicht mehr leben. Wenn aber nicht im Denken, dann auch nicht mehr woanders, nur noch ganz verborgen.

Natürlich fühlt ein Ansgar Martins mir gegenüber nicht so, wie er denkt, natürlich würde er mich, wenn er mir als Mensch wirklich gegenüberstünde, nicht auch in seinem Fühlen hassen. Und natürlich würde er mich auch nicht in seinem tiefen Wollen hassen, würde mich nicht mit seinen eigenen Händen erschlagen wollen. Und doch beginnt im Denken der Rückzug des Menschlichen aus dem Menschen – und wird sich in der Zukunft der Menschheitsentwicklung immer weiter fortsetzen ... wenn nicht eine Umkehr stattfindet.

Der wesenhafte Unterschied

Eine große Schwierigkeit liegt zunächst darin, den Unterschied wahrzunehmen, auf den alles ankommt. Denn das heute verbreitete, kaum erlebende, nur abstrakt urteilende Denken sieht natürlich in meinen Aufsätzen auch ein solches Denken am Werke – gerade darum werde ich ja von gewissen Menschen als „Fanatiker“, als „Jünger“ usw. bezeichnet.

Doch gerade um der Rettung des Denkens willen käme alles darauf an, den Unterschied immer mehr erleben zu lernen. Es geht um die Frage: Was ist das Wesen, die ganze innere Art und Färbung des Denkens im einen und im anderen Falle?

Man möge mein Buch über Helmut Zander und Rudolf Steiner wirklich selbst lesen – und mehrere meiner Aufsätze lesen. Mein Haupt-Anliegen ist es immer wieder, denjenigen Menschen, die meine Aufsätze und Bücher lesen, etwas erlebbar zu machen – etwas, was ich als Wahrheit erlebe und erkenne. Mein Anliegen ist es nicht, anderen Menschen irgendeine Wahrheit aufzudrängen, sondern ich versuche immer wieder, etwas erlebbar zu machen.

In manchen Aufsätzen und auch in meinem Buch „Unwahrheit und Wissenschaft“ scheue ich mich nicht, dasjenige, was für mich ein zweifelsfreies Erleben geworden ist, auch mit scharfen Worten zu kennzeichnen. Wenn Menschen das Wesen der Anthroposophie mit Füßen treten – oder auch als „Anthroposophen“ die Anthroposophie furchtbar abstrakt verstehen und dennoch in ihrem Namen nach außen treten –, dann spreche ich mein eigenes Erleben daran so klar wie möglich aus und tue dies in der Hoffnung, dass es andere Menschen geben wird, die daran ebenfalls zu einem deutlicheren Erleben kommen werden.

Meine Schärfe und mein Bemühen um größtmögliche Klarheit der Darstellung ist aber nie mit einem Verurteilen des Menschen verbunden, nie mit persönlichen Angriffen, nie mit Spott oder gar Verachtung. Und hier liegt der Unterschied, auf den alles ankommt. Er liegt in der Frage, ob es im Denken, in der Bewegung des Denkens, im Leben des Denkens um die Wahrheit geht – um das Erleben, die Suche, die Gestaltung der Wahrheit – oder um etwas anderes, um die „Kunst“, die immer schon festen Standpunkte nur so holzhammerartig wie möglich in die Köpfe der Leser zu prägen.

Das ist nicht mein Anliegen – dieses Anliegen lebt in Aufsätzen wie jenen von Ansgar Martins. Man muss immer mehr unterscheiden lernen zwischen scharfen Darstellungen eines Sachverhaltes und harten Urteilen, die kaum bewiesen, sondern einfach nur hingepfahlt werden, weil es eben die eigene Meinung und Anschauung ist und möglichst viele Leser diese übernehmen wollen.

Der Gegensatz zweier Wesen

Das ist gerade der Unterschied zwischen Michael und Ahriman. Natürlich werde ich auch dafür wieder verspottet werden (und man wird sagen: „Kleiner geht es wieder einmal nicht, oder? Natürlich muss der Gegner auch hier wieder verteufelt werden...“). Aber es führt nichts daran vorbei, auch hier wieder den Unterschied immer mehr empfinden zu lernen. Martins ist nicht mein Gegner, und was ich am wenigsten möchte, ist, ihn zu verteufeln. Aber die Art seines Denkens, wie er sie in diesem Aufsatz, in den oben angeführten Zitaten und im übrigen Text offenbart, diese Art des Denkens ist mein Gegner.

Martins ist mit seinem Denken nicht verwachsen, es ist kein Wesensmerkmal von ihm – oder nur dann, wenn er sich frei dazu entscheidet. Wenn er sich dazu entscheidet, ein Denken zu kultivieren, in dem jene wesenhafte Kälte lebt, die nur von den Wesen inspiriert werden kann, die Rudolf Steiner die ahrimanischen nannte, dann richtet sich die Schärfe meiner Darstellung (und in diesem Falle ist es ja sogar eine Verteidigung) gegen ihn – aber nur scheinbar, denn sie richtet sich immer nur gegen die Art des Denkens, letztlich also gegen Ahriman selbst.

Michael lässt im Gegensatz zu Ahriman die Menschen frei. Er zeigt gleichsam die Wahrheit, aber er zwingt diese Wahrheit in keinster Weise auf. Ich möchte nicht mich mit Michael vergleichen, ich habe ganz gewiss auch noch Schwächen, die mich nicht völlig frei von Ahrimans Einfluss sein lassen, sondern ich möchte auf den Unterschied hinweisen. Ich stelle das, was ich schreibe, was ich deutlich zu machen versuche, einfach hin – und dann kann es Leser finden oder auch nicht. Mir geht es nur um das Deutlichwerden der Dinge, um die Wahrheit, die dann frei ihren Weg zu anderen Menschen finden muss.

Ich habe kein Bedürfnis danach, Ansgar Martins einen fanatischen Geist-Verleugner zu nennen, einen unterhaltsamen Steiner-Gegner, einen frenetischen Zander-Fan. Alles in mir würde sich gegen solche Begriffe sträuben, tut es selbst jetzt beim Niederschreiben – denn es verunreinigt die Seele, und das kann man immer stärker empfinden, bis dahin, dass es seelisch Ähnlichkeit hat mit physischer Übelkeit. Selbst das Wort „Vielschreiber“ zu Beginn dieses Aufsatzes war nur als eine Art scharfer Auftakt gedacht, eine winzige Wiederspiegelung von Martins’ ganzer Schreibart.

Das Denken muss lernen, die Reinheit zu lieben und sie immer mehr zu suchen. Ohne dass das Denken immer mehr diese Umkehr vollziehen kann, kann es Ahrimans Einfluss niemals entgehen. Nur da, wo es immer stärker die Reinheit sucht, ein reines Streben nach der Wahrheit sucht, ohne persönliche Ambitionen, Menschen zu überzeugen; ohne jedes persönliche Empfinden einer Gegnerschaft, ohne alles Verächtliche, Spottende, Herabsetzende – nur da, kommt das Denken immer mehr und mehr in einen Bereich, der Ahrimans Zugriff wirklich entzogen ist.

Von diesem Bereich aus kann Michael immer noch mit seinem ganzen Wesen für die Wahrheit eintreten, aber er tut nur das, tut mit seinem ganzen Wesen nichts anderes... Er will den Drachen nicht töten, er tut nur das, was den Drachen besiegt, was seiner Macht wehrt, was unerschütterlich die reine geistige Welt vor den Drachenkräften schützt. – Ahriman dagegen möchte spotten, möchte töten, niederreißen, verachten, überzeugen, lächerlich machen, angreifen, herabsetzen, niederdrücken, der Vernichtung preisgeben. Ahriman möchte Recht haben, Michael möchte die Wahrheit offenbaren...

Wer kennt den „bösen Gegner“?

Inhaltlich möchte ich jetzt nur noch relativ kurz auf Martins eingehen. Er bezeichnet meine Recherche als „blamabel“ – und führt dann nur einige, wenige Aspekte an, die mehr seine eigene Meinung zeigen als irgendetwas über mein Buch auszusagen.

Es spricht für sich, wenn er einen Korrespondenten angreift, den er selbst sonst sehr schätzt, weil dieser über mein Buch und über Zander geschrieben hatte:

„Prof. Zander repräsentiert eine hegemoniale konservative Kultur, der alles Neue schon verdächtig oder gefährlich erscheint. Von dieser sicheren Position aus ist es nicht schwer, weltanschauliche Minderheiten als Forschungsobjekte zu sezieren und sich damit im akademischen Kontext zu profilieren. ... Niederhausens Ausdrucksweise ist unakademisch und leicht verständlich, seine Argumentation durchaus logisch und gewissenhaft. Auch wer schon frühere Widerlegungen der Zanderschen Arbeit durch andere Autoren kennt, wird in Niederhausens kritischer Studie manches Bedenkenswerte entdecken.“
Wolfgang G. Voegele: Steiner-Biographie von Prof. Helmut Zander wird kritisch durchleuchtet. NNA, 31.12.2013.


Und was führt Martins selbst dann an? In meinem Buch erwähne ich, dass Dr. Ludger Jansen von der Universität Rostock, wo Steiner seine Dissertation einreichte, darauf hinweist, dass das Prädikat „rite“ („genügend“) wahrscheinlich kein Werturteil war, sondern bei externen Dissertationen einfach nur wertfrei „bestanden“ bedeutete. Weil ich diese Tatsache aber anführe, spricht Martins von den „albernen Konsequenzen“ meines „geist- und seelenlosen Apologetentums“ und behauptet: „Dass er (Steiner) eine schlechte Note geschrieben hat, das ist (also) die Schuld der bösen ‚Gegner’, die es anführen.“

Auch hier wieder verwirklicht Martins also selbst, was er mir vorwirft: Da weist ein Dr. Jansen darauf hin, dass es sich sehr wahrscheinlich überhaupt nicht um eine „schlechte Note“ handelte – und doch wird das, was die „bösen Gegner“ sagen, selbst wenn es eine historische Tatsache ist, überhaupt nicht beachtet.

Eigentlich wäre dieser kleine Punkt überhaupt nicht erwähnenswert, wenn Helmut Zander daraus nicht eine große Sache machen würde – denn auch er macht an jedem Punkt, den er erhaschen kann, Rudolf Steiner subtil lächerlich, setzt ihn herab, lässt ihn zu einer Karikatur werden, die weit, weit unter ihm steht.

Ich weise Zander viele Unwahrheiten und vor allem immer wieder seine ganze Methode nach, mit der er rücksichtslos missversteht und verdreht, was Steiner wirklich sagte und schrieb, und ich tue dies durchaus auch in gewisser Schärfe – was angesichts dieses erschütternden Vorgehens wohl verständlich ist –, und dennoch steht der Mensch Helmut Zander, auch wenn ich ihm noch so viele Unwahrheiten vorwerfe, auf gleicher Höhe mit mir. Hier liegt der Unterschied. Das Denken lässt den Menschen Zander fortwährend unangetastet, es setzt sich scharf mit seinen Behauptungen und Deutungen auseinander, es kommt dann zu entsprechenden Urteilen, aber es bewahrt trotz allem und immer die stille, innere Achtung vor dem Menschen, der all dies schreibt.

Martins wirft mir vor, ich würde „nach Bösartigkeiten suchen“ – aber genau diese liegen in Zanders Werk vor! Man muss sie nicht suchen, denn sie begegnen einem auf jeder Seite. Ich musste mich in meinem Buch auf das Äußerste beschränken, damit es nicht drei- oder siebenfachen Umfang angenommen hätte. Martins wirft mir vor, dass ich Zander widerlege, weil dieser behauptet hatte, Rudolf Steiner hätte in seinem Lebensgang seine Kant-Lektüre einfach um zwei Jahre vorverlegt. Ich zeige, dass Steiners Schilderung zwanglos mit dem wirklichen Erscheinen der Reclam-Ausgabe übereinstimmt. Es sind unzählige Stellen, an denen Zander Steiner etwas unterstellt, was einfach nicht wahr ist. Und an solchen Beispielen zeige ich dies und mache so die ganze Art von Zanders Herangehensweise und die Qualität seines Vorgehens erlebbar.

Dass Steiner dann in einem anderen Vortrag – wie Martins anführt – seine Kant-Lektüre in der Erinnerung doch einmal um vielleicht ein halbes Jahr zu früh angegeben hat, ist für meine Auseinandersetzung mit Zander völlig irrelevant, denn dieser hatte etwas ganz anderes behauptet.

Von Wortlauten und ihren Bedeutungen

Und Martins zieht weiter über mich her:

„Regelrecht unerträglich wird Niederhausens Gesinnungsimperialismus schließlich, wenn es um Steiners Wende zum Christentum ging.
“‘Zum Christen geworden’ – bei Zander klingt dieser Satz wie eine Kategorie, eine Schublade, als sei Steiner dann endlich ‘in den Schoß der Kirche’ eingekehrt. Und zugleich ‘weiß’ Zander schon bei diesem Satz, dass Steiners Christentum natürlich nicht einmal das wahre ist, weil er ja lauter Irrlehren verkünde…” (S. 207)“


Martins wirft mir vor, Zander habe nirgendwo behauptet, Steiner verkünde Irrlehren oder sei in den Schoß der Kirche eingekehrt, was auch nicht der Fall gewesen sei. Das also ist Martins’ Vorwurf an mich!

Nein, Zander hat nirgendwo behauptet, dass Steiner Irrlehren verkünde – ebensowenig wie Martins behauptet hat, dass ich und meine Gedanken lächerlich seien. Martins hat zum Beispiel nur geschrieben, dass ich einer der „unterhaltsamsten Anthroposophen“ sei und hat unter das Cover meines Buches „Des Meisters letzter Jünger“ geschrieben. Zander hat nirgendwo „Irrlehren“ geschrieben, aber jedes seiner Worte ist nun einmal durchtränkt von dem Urteil, Steiner zu durchschauen und überführt zu haben.

Martins schreibt: „Niederhausen hält Steiners Wortlaute für unmittelbar evidente Tatsächlichkeiten“. Das stimmt natürlich nicht. Aber etwas anderes stimmt offenbar, nämlich: Martins hält nur die unmittelbar evidenten Wortlaute Zanders für Tatsächlichkeiten.

Wenn man erst einmal empfinden kann, was in den Worten für ein Gedankengehalt liegt – und wir alle können sehr, sehr genau spüren, was jemand meint, wenn er etwas so oder aber so sagt, aber dieses Empfinden kann sich immer weiter vertiefen –, dann wird ganz deutlich, dass bei Zander nahezu kein Satz ohne ein dezidiertes Urteil gesprochen ist. Und an der Stelle, wo er dann wirklich von oben herab konstatiert, irgendwann sei es dann doch passiert, irgendwann sei Steiner dann doch „zum Christen geworden“, muss man sein eigenes denkendes Empfinden schön böswillig blind machen, um nicht zu erkennen, dass darin wirklich all die Nuancen liegen, die Zander nicht ausdrücklich-wörtlich-ausgesprochen „behauptet hat“, die aber mitklingen, so dass der Leser sie mit aufnimmt.

Vom Wesen des Christentums           

Der nächste Vorwurf von Martins ist dann, ich würde mir wahrscheinlich gar nicht vorstellen können, was an der zynischen Etikettierung verletzend sei, zum Beispiel Gandhi oder Martin Buber als im Grunde tief christlich anzusehen. Was habe ich eigentlich getan? Martins zitiert meinen Satz:

“Wir müssen wirklich aufhören, ‘Christ’ nur denjenigen Menschen zu nennen, der mit gewissen Empfindungen und Vorstellungen an ‘Christus’ glaubt, was auch immer das im Einzelnen heißen mag, und wir müssen anfangen, uns zu fragen, wer Christus wirklich ist und wann ein Mensch mit Seinem Impuls in realer Verbindung steht und ihm dient…” (S. 208)


Ich habe also geschrieben, wir müssen uns fragen. Aber Zander fragt nicht. Für ihn ist klar, ab wann ein Mensch ein Christ ist und wann nicht. Bevor Rudolf Steiner von Christus sprach, konnte er nach Zanders Logik kein christliches Denken gehabt haben – und auch die „Vorstellung“ der Reinkarnation versucht Zander, in eine Ecke zu stellen, die mit dem Christlichen möglichst wenig zu tun hat, ihm eigentlich widersprechen soll. Nein, Zander spricht nicht ausdrücklich von „Irrlehren“, er lässt den Leser seine Urteile spüren – und das ist viel schlimmer.

Die Urteile, die über das Gefühl in die Seele sickern, sind dort kaum mehr für das klare Bewusstsein erreichbar. Würde Zander ausdrücklich von „Irrlehren“ sprechen, könnte jeder Leser sich noch relativ mühelos innerlich hinstellen und sagen: Moment mal, wer bestimmt denn hier eigentlich, was „Irrlehren“ sind und was nicht? – So aber ist jeder Satz von Zander voll mit subtilen, mitschwingenden Deutungen, Färbungen, Abwertungen, die alle mit aufgenommen werden, wenn man seine Sätze liest. Und so ist es auch bei Martins. Man hat nur zwei Möglichkeiten: Man weist all diese Deutungen, damit aber auch die gesamte Intention des Autors ab – oder man wird von ihr durchtränkt, nimmt sie unbewusst oder sogar sehr willig auf...

Es wäre auch nichts Verletzendes daran, Martin Buber als einen tief vom Christus-Impuls durchdrungenen Denker zu bezeichnen. Das ist keine Etikettierung, sondern eine innerlich erlebte Tatsache. Was die äußere Welt angeht und auch die Person Martin Bubers selbst, wird man sein selbst bekanntes Judentum zutiefst anerkennen, es ist dies überhaupt kein Widerspruch. Buber hatte mit Recht eine tiefe Abneigung gegen jede Art von Missionierung.

Das, was man aber nicht erkennt, kann man auch in sich nicht erkennen. Wenn man das wirkliche, das reale Wesen von Christus nicht erkennt, kann man auch nicht erkennen, wo man in seinem eigenen Wesen Ihm vielleicht dennoch sehr nahe steht. Auch im menschlichen Miteinander erkennen viele Menschen oft dasjenige, dem sie sehr nahe stehen, gerade nicht. Martins erkennt nicht, dass das, was er mir vorwirft, in ihm selbst lebt. Ein Mensch erkennt oft nicht, dass er bald sterben muss, obwohl der Tod längst in ihm wirksam ist. Menschen erkennen nicht, dass ihr Leben einem Schicksalsfaden folgt. Menschen erkennen nicht ihr eigenes höheres Wesen, das sie bestimmte Wege führt. Menschen erkennen nicht ihre unbewussten Sehnsüchte.

Es gibt so vieles, was Menschen nicht erkennen und was dennoch eine reale Tatsächlichkeit ist. Das hat nichts mit zynischer Etikettierung zu tun. Eine Etikettierung ist es allenfalls, sich hinzustellen und zu sagen, dass es dies alles nicht zu geben habe. – Man könnte Buber als einen Menschen mit tief christlichen, von der Wesenssphäre des Christus berührten Gedanken bezeichnen, und dies wäre keine Etikettierung, keine Vereinnahmung, sondern tiefe Bewunderung. 

Rudolf Steiners Erkenntnisringen, seine Liebe zur Welt des Geistes, war von Anfang an etwas, was seinem Wesen nach innig mit dem Wesen des Christus – des Weltenwortes, des kosmischen Logos-Wesens – zu tun hatte. Rudolf Steiner war nie ein Kirchenchrist – aber er war derjenige Mensch, dem die heilige Aufgabe zukam, das Denken selbst christlich zu machen, zu einer Realität zu machen, die die reale geistige Welt in sich aufnehmen konnte. Wie wäre dies möglich gewesen, wenn diese Individualität nicht von Anfang an zutiefst eine Verbindung mit dem Logos-Wesen gehabt hätte...

Helmut Zander hat dem nichts entgegenzusetzen als seine abstrakten Argumentationen und Deutungen, seine eigenen erschütternd vagen Vorstellungen vom „Christentum“ und ein Denken, das immer wieder abwerten muss, selbst da, wo es nichts begreift, wo es das, was es abwertet gerade hasst, ohne es zu erkennen. Furcht vor dem Geist, Hass auf den Geist, Spott gegenüber dem Geist... Dies versuche ich, auf den rund 400 Seiten meines Buches erlebbar zu machen. Dies aber verbindet Zander und Martins.

Und so möchte ich mit eben jenen Worten diesen Aufsatz beenden, die Martins an den Anfang des seinen gestellt hat, Worte aus Siegfried Kracauers Aufsatz „Die Wartenden“ (1922), einem Aufsatz, in dem es bezeichnenderweise um das Vertriebensein aus der religiösen Sphäre geht und der wirklich wunderbar treffend ist...

„Die Notwendigkeit, seelische Gegenstimmen zu übertönen, drängt ihnen einen die Gegebenheiten verfälschenden Fanatismus auf, Unsicherheit heißt sie ihre Sicherheit zu unterstreichen und zwingt sie dazu, die von ihnen angenommenen Lehren mit viel mehr Kraftaufwand zu vertreten als etwa die Echtgläubigen es tun, die einer solchen Verteidigungspose nach innen oder außen gar nicht bedürfen.“